# taz.de -- Interview zu Dokumentarfilm: Brücken bauen für die Opposition | |
> Wie organisiert sich die Opposition in der Türkei? Wir sprachen mit dem | |
> Regisseur und einer Protagonistin der Doku “Türkei: Ringen um die | |
> Demokratie“. | |
Bild: ‚Uçurumun Kıyısında Türkiye‘, İmre Azem'in yeni filmi | |
Ende Juni stellte der unabhängige türkische Dokumentarfilmer İmre Azem | |
(„Ekümenopolis“) in Berlin seine neue Dokumentation “Türkei: Ringen um … | |
Demokratie“ vor. Der in Zusammenarbeit mit der deutschen Produktionsfirma | |
gebrueder beetz entstandene Film wird am 11. Juli im Rahmen eines | |
arte-Themenabends zur aktuellen politischen Lage in der Türkei erstmals im | |
deutschen Fernsehen gezeigt. | |
Kurz vor dem ersten Jahrestag des Putschversuchs legt der Film einen Finger | |
auf den Puls des organisierten Widerstands in der Türkei und thematisiert | |
so die politischen Entwicklungen seit den Gezi-Protesten im Sommer 2013 bis | |
zum Referendum im Frühjahr 2017. | |
Nach der Premiere des Films in Berlin sprachen wir mit Regiesseur İmre Azem | |
und der Architektin und Aktivistin Mücella Yapıcı, die zu den | |
Protagonist*innen des Films gehört, über die Lage der türkischen | |
Opposition. | |
## taz: Herr Azem, in der aktuellen Nachrichtenlage hat man schnell den | |
Eindruck, dass Erdoğan und seine Partei ungehindert von Opposition und | |
Widerstand regieren können. Das knappe Wahlergebnis beim Referendum und die | |
Protagonist*innen Ihres Films zeigen aber, dass das nicht der Fall ist. Wie | |
würden Sie das Kräfteverhältnis aktuell beschreiben? | |
İmre Azem: Die hauchdünne Mehrheit, mit der die AKP das Referendum gewonnen | |
hat, zeigt doch am deutlichsten wie um die Macht der AKP steht. Es ist | |
nicht sicher, in welchem Umfang bei der Wahl selbst betrogen wurde, aber | |
sogar nachdem die Wahlaufsicht eine große Anzahl nicht offiziell | |
gestempelter Umschläge zur Zählung zuließ, kam das Regierungslager nur auf | |
51 Prozent der Stimmen. Das zeigt, dass ein Großteil der Türkei Erdoğan und | |
seine Pläne nicht mehr unterstützt. | |
## Wollten Sie mit Ihrem Film und dem Blick hinter die Kulissen | |
verschiedener Initiativen so etwas wie Hoffnung spenden? | |
İA: Ich versuche nicht, eine positive Perspektive auf eine aussichtslose | |
Situation zu präsentieren, sondern bilde das ab, was da ist. Es gibt | |
Hoffnung für die Türkei, egal, ob ich einen Film darüber mache oder nicht. | |
## Die internationale Presse fokussiert sich bei ihrer | |
Türkeiberichterstattung meist vor allem auf Erdoğan. So entsteht das Bild | |
einer Türkei, die sich still ihrem Schicksal ergibt. Sind Ihre | |
Protagonist*innen Ausnahmen, oder stehen sie für einen weit verbreiteten | |
Widerstand gegen die Politik der AKP? | |
İA: Ich lebe in Istanbul und unsere Protagonist*innen stammen alle aus | |
meinem dortigen Umfeld. Trotzdem haben wir im Film versucht, auch Gruppen | |
aus anderen Regionen mit einzubeziehen, sei es durch Archivmaterial oder | |
durch Begegnungen, die ich auf meine Reisen in den letzten Jahren | |
festgehalten habe. | |
Tatsächlich gibt es in nahezu allen Regionen und Städten der Türkei eine | |
lokal organisierte Opposition. Die Wurzeln dieser Initiativen gehen | |
vielerorts auf die Gezi-Proteste zurück und mittlerweile ziehen diese | |
Gruppen zusammen mit den beiden großen Oppositionsparteien CHP und HDP bei | |
vielen Themen an einem Strang. | |
Die landesweite Nein-Kampagne ist eine jener Bewegungen, die | |
parteiübergreifend und unabhängig organisiert wurde. Nichtsdestotrotz sind | |
unsere Protagonist*innen in vieler Hinsicht besonders. Sie repräsentieren | |
nicht nur die verschiedenen Gruppen, die unter Erdoğan Verfolgung oder | |
Unterdrückung erleben, sondern sie nehmen innerhalb dieser Gruppen und der | |
Zivilgesellschaft als solcher zentrale Rollen ein. Als Organisatoren im | |
Hintergrund sind sie Brückenbauer zwischen den Fraktionen. | |
## Frau Yapıcı, İmre Azem porträtiert Sie als unermüdliche Optimistin im | |
Kampf gegen das System Erdoğan. Wie verkraften Sie Rückschläge wie die | |
Niederlage beim Referendum? | |
Mücella Yapıcı: Meine Generation hat eine gewisse Verantwortung, denn wir | |
wissen genau, was bereits alles schief gelaufen ist und waren teilweise | |
sogar dafür verantwortlich. Der Aufstieg des Faschismus kommt nicht von | |
Ungefähr. Ohne massenweise Unterstützung und regierungstreue Medien kann | |
kein totalitäres System an der Macht bleiben. Wer sich da für | |
Gerechtigkeit, Frieden, Naturschutz und Menschlichkeit einsetzt, kann meist | |
nicht viel ausrichten. | |
Aber gerade diese vermeintliche Hilflosigkeit und die Herausforderungen | |
sind das, was mich antreibt. Hoffnung haben und Hoffnung spenden sind für | |
mich lebenswichtig geworden. | |
## Wie schaffen Sie es, diese Hoffnung nicht zu verlieren? | |
MY: Ich betrachte das Ganze aus einer internationalen Perspektive. Während | |
Gezi zum Beispiel gab es Solidarität aus Brasilien und Chile, denn es gibt | |
ein globales Netzwerk der Solidarität. Das macht mir große Hoffnung. Global | |
denken und lokal handeln ist meiner Ansicht nach ein sehr geeigneter Ansatz | |
für den Widerstand. | |
## Wird der Film in der Türkei gezeigt werden? | |
İA: Wir arbeiten gerade daran, Screenings zu organisieren. | |
## Statistiken zeigen, dass die Zahl der Auswanderungen in der Türkei stark | |
angestiegen ist. Haben Sie nach nach Gezi und dem Putschversuch selbst | |
Repression erlebt und denken Sie darüber nach, die Türkei zu verlassen? | |
İA: Wir sind mit unserer Arbeit anscheinend noch nicht genug Leuten auf den | |
Schlips getreten. Im Grunde ist es aber gar nicht wichtig, wie prominent | |
man gegen Erdoğan agiert. Kazım Kızıl, ebenfalls Videojournalist wie ich | |
selbst, sitzt seit April 2017 im Gefängnis, nachdem er kurz nach dem | |
Referendum festgenommen wurde, als er die Anti-AKP-Proteste in Izmir | |
dokumentierte. (Kazım Kızıl wurde am 10. Juli entlassen, Anm. d. Red.). | |
Seine Arbeit bei den Protesten war völlig legitim, aber nach der Festnahme | |
fanden Ermittler Erdoğan-kritisches Material auf seinen | |
Social-Media-Profilen, das für eine Anklage ausreichte. Ich sehe das | |
Auswandern als eine sehr persönliche Entscheidung an und will es weder | |
verteidigen noch kritisieren. Manche Leute konnten oder wollten in der | |
Türkei nicht mehr ihre Meinung vertreten und können sich anderswo besser | |
für die Opposition einsetzen. Ich selbst glaube, dass ich vor Ort momentan | |
mehr bewirken kann und ich werde so lange bleiben, wie das noch der Fall | |
ist. | |
“Türkei: Ringen um die Demokratie“ läuft am Dienstag, den 11. Juli, um | |
22.10 Uhr auf arte und ist danach noch weitere 30 Tage in der | |
arte-Mediathek kostenlos als Stream verfügbar. | |
11 Jul 2017 | |
## AUTOREN | |
Nina Ludolphi | |
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