# taz.de -- Stadtgestaltung nach Gutsherrenart | |
> Gentrifikation Wie die Immobilienwirtschaft über Handel, Wandel und | |
> soziales Leben bestimmt | |
Bild: Die Antiquarin Helga Herold und ihr Lebensgefährte Harald Jeske in ihrem… | |
von Gabriele Goettle | |
Helga Herold, Antiquarin. Geboren in Stendal/Altmark. Nach d. Flucht d. | |
Mutter mit d. Kindern aus d. DDR i. d. BRD, aufgewachsen in | |
Dorsten/Ruhrgebiet. Mit neun Jahren Umzug in ein Dorf nach Süddeutschland, | |
Eltern und sieben Kinder leben in einer 65 qm großen Wohnung. Schlechte | |
soziale Bedingungen für Flüchtlinge, zumal f. kinderreiche Familien. Hat | |
das 9. Schuljahr gemacht und wurde, auf Anweisung d. Vaters, Datentypistin, | |
d. h. 8 Std. täglich tippen ohne weitere Ausbildung. Da sie noch nicht | |
volljährig war, zog d. Vater ihren Lohn ein. Mit 17 Flucht von zu Hause. | |
Lebte in Reutlingen, Heirat und ein erstes Kind mit 20, ein zweites mit 22. | |
Mit 25 Trennung, Schwierige finanzielle Situation allein mit 2 Kindern. | |
1985 Übersiedelung nach Westberlin. Halbtagsjob u. Arbeitslosigkeit. Nach | |
d. Wende Verkauf ihrer Bücher auf d. Büchermarkt am Kupfergraben | |
(Museumsinsel in Ostberlin). Lernte Ulrich Enzensberger kennen. Beginn mit | |
Bücherankauf am Kupfergraben, allmählicher Einstieg i. d. Buchhandel. Sie | |
lernt Harald Jeske kennen (1952 geb.,studierte Soziologie a. d. FU Berlin), | |
ihren jetzigen Lebensgefährten und wagt es, ein Antiquariat zu eröffnen. Im | |
Januar 1997 mietete sie den Laden in der Hagelberger Straße 15, es wurde | |
ein ordentliches Gewerbe angemeldet. Seitdem betreibt sie hier ein sehr | |
schönes, geräumiges Antiquariat, das einen guten Ruf hat unter Sammlern und | |
Normalkunden. Am 16. 2. 2017 erhielt sie vollkommen überraschend d. | |
Kündigung zum 31. 10. 2017. Frau Herold wurde 1954 geboren, der Vater war | |
sein Leben lang auf d. Bau als Fliesenleger, er wird 90, die Mutter ist | |
schon verstorben, sie war Hausfrau in einem Neunpersonenhaushalt. | |
Das Antiquariat von Frau Herold ist ein Eckladen und befindet sich in der | |
Hagelberger, Ecke Großbeerenstraße in einem der stuckbereinigten Altbauten. | |
In diesem Teil Kreuzbergs ist es eher still, die Touristen flanieren nicht | |
mehr dicht an dicht, wie jenseits des Mehringdamms. Wenn sie zum | |
Viktoriapark mit dem 60 Meter hohen Kreuzberg und seinem künstlichen | |
Wasserfall herüberspazieren von der Bergmannstraße, dann nehmen die meisten | |
den direkten Weg und der führt nicht am Antiquariat vorbei. Wenn aber doch, | |
dann sticht es ins Auge. Das Eckgeschäft mit den drei großen Schaufenstern | |
und den roten Markisen gibt der gesamten Umgebung noch ein gewisses Flair. | |
Doch bald wird auch das verschwunden sein. | |
Wir haben uns an einem Sonntagvormittag verabredet, Helga Herold schließt | |
auf und bittet uns in ihren respekteinflößenden Verkaufsraum, der angenehm | |
nach Papier riecht. Er wird dominiert von einem gut gefüllten, umlaufenden, | |
deckenhohen Gründerzeit-Eichenholzregal. Es ist reich verzierten mit | |
Gedrechseltem und Schnitzereien, mit Karyatiden und dem einen und anderen | |
kleinen Atlas. Es hat verglaste Schübe und Schubladen, herausziehbare | |
Abstellflächen und Trittbretter, um bei Bedarf an den oberen Teil | |
heranzukommen, ohne störende Leiter. Dieses Regal repräsentierte einst das | |
Selbstbewusstsein eines Kolonialwarenhändlers der Gründerzeit, er war | |
zugleich Ladeninhaber und Hausbesitzer. Wo einst Kolonialwaren aller Art | |
lagen, steht nun ebenfalls eine dem Untergang geweihte Ware: Bücher fast | |
aller Sachgebiete, darunter – auch aus der Entstehungszeit der sozialen | |
Frage – Philosophie, Geschichte, politische Literatur der 68er, viel zu | |
Kunst, Architektur, Literatur. In den Fächern der Regale ruht Gelesenes und | |
teilweise längst Vergessenes. Der Jagdtrieb erwacht, aber zum Stöbern ist | |
keine Zeit. | |
Wir nehmen Platz inmitten der Bücher, ich lege meine Utensilien auf einen | |
Band über Surrealismus, Frau Herold reicht Getränke und sagt, dass ihr | |
Freund Harald Jeske etwas später kommen wird, wir aber ruhig schon anfangen | |
können. Wir bitten sie, zu erzählen: | |
Frau Herold blickt sich bedauernd um und sagt: „Wir müssen hier raus. Nach | |
so langer Zeit. Als ich damals den Laden nach reiflicher Überlegung | |
gemietet habe, war der Eigentümer bereits todkrank, das war ein bisschen | |
unser Glück, denn ich sagte, wir können nicht viel zahlen und er meinte auf | |
Berlinerisch: „Na denn zahlt mal 700 Mark.‘ Der Vormieter wäre für das Ge… | |
gern drin geblieben, er sollte 1.600 Mark zahlen und ist ausgezogen. Und | |
damit kommen wir auch gleich zur allmählichen Umwandlung der Gegend, ein | |
paar Jahre nach der Wende. Damals kam der Umschwung, da zogen hier viele | |
Leute weg und es gab eine Menge Leerstand und die Hauseigentümer warteten | |
in aller Ruhe auf die solventen Mieter. | |
Die Gegend machte aber immer noch den Eindruck, dass sie eine ‚gute | |
Wohngegend‘ ist. Allerdings gab es Zahlen, die was anderes verraten haben: | |
30 % Arbeitslose, viele Akademiker ohne Job, die wohnten zwar noch in | |
schönen großen Wohnungen, konnten sie sie sich aber plötzlich nicht mehr | |
leisten. Das war mein lesebegeistertes Publikum, nicht so sehr meine | |
Kundschaft, weil sie ja gar kein Geld hatten für Bücher. So mancher hat | |
sich Bücher zurücklegen lassen, weil sein Budget grade nicht reichte. | |
Deshalb sind wir auch nie so richtig hochgekommen. Allerdings Harald sagt | |
immer, dass ich damals mit weniger Büchern den gleichen Umsatz gemacht habe | |
wie heute. Es lag daran, dass in ‚Riemers Hofgarten‘ noch viele Künstler | |
wohnten, die waren ein bisschen besser gestellt und kauften bei uns. Aber | |
viele Wissenschaftler die an der Uni gearbeitet haben, sind aufs Land | |
gezogen. Das hatte Folgen. | |
Hier war z. B. an der Ecke eine Buchhandlung, der ‚Krakeeler‘, ein ganz | |
bekannter, der Mann war so frustriert und verbittert, dass er zugemacht | |
hat. Die Reste haben wir dann übernommen. Das schildert so ein wenig die | |
Situation in ihrem Anfangsstadium. Inzwischen hat sich das alles ja extrem | |
verschärft. Bei mir ging es dann so weiter: Der Hausbesitzer ist gestorben | |
und hat das Haus einer Erbengemeinschaft hinterlassen, die haben mir die | |
hinteren Räume angeboten und die Miete dann verdoppelt. Ich brauchte die | |
Räume aber als Lagerraum und habe akzeptiert. Aber sie haben uns leben | |
lassen, muss man sagen, und nicht mehr erhöht. Sie wollten verkaufen, | |
hatten annonciert. Wir haben lange nachgedacht, ob man vielleicht hier als | |
Hausgemeinschaft … aber wir hatten ja alle kein Geld und keine Rücklagen, | |
und einen Kredit hätten wir auch nicht bekommen. Es hat dann jemand | |
gekauft, der schon Häuser hatte, angeblich sind’s sechzig, der Lohmüller. | |
Das war 2003 oder so. Er ist auch heute noch der Eigentümer. | |
Im Grunde können wir nichts Negatives über ihn sagen das Mietverhältnis | |
betreffend. Er hat sich nicht weiter gekümmert, uns in Ruhe gelassen, ab | |
und zu kam er vorbei, fuhr mit einem dicken Auto der Luxusklasse vor und | |
war so ein bisschen bohememäßig, Oscar-Wilde-artig gekleidet, hat ein paar | |
Bücher gekauft und zu Harald sogar gesagt: ‚Bleib du mal drin!‘ Wir bekamen | |
neue Fenster, Türen und die elektrischen Markisen – vorher hatten wir | |
welche zum Rausziehen. Hat nie die Miete erhöht. Und dann kam der Brief mit | |
der Kündigung. Plötzlich dieser Gesinnungswandel! Das hat uns vollkommen | |
umgehauen. Aber da ist nichts mehr zu machen, wir müssen raus …“ | |
Harald kommt, setzt sich zu uns und sagt: „Es ist immer noch ein Schock. | |
Mit den Einkünften hier kamen wir grade hin, aber so eine Mieterhöhung | |
können wir nicht erwirtschaften. Das alles wurde hier 20 Jahre lang | |
systematisch aufgebaut, das Buchangebot ständig verbessert. Es ist Helgas | |
Errungenschaft, sie kennt sich unheimlich gut aus mit Büchern. Sie hat | |
Schwerpunkte gesetzt, Architektur, wegen der Kunden in Riemers Hofgarten | |
und Kunst natürlich.“ Helga sagt: „Schon, aber die Kundschaft hat sich | |
gewandelt. Kaum jemand möchte mehr Bücher kaufen, schon gar nicht die der | |
68er Generation. Die MEW (Marx-Engels-Werke) geht nicht und die MEGA | |
(Marx-Engels-Gesamtausgabe) steht schon ewig da oben im Regal.“ Harald | |
entgegnet: „An der FU machen sie schon wieder Kapital-Schulungen …“ Helga: | |
„Harald glaubt fest da dran und sammelt. Lektüre der 68er haben wir | |
massenweise von Haralds Freunden und ehemaligen Studienkollegen!“ Harald | |
sagt bitter lächelnd: „Ja, alles, was wir uns damals kaum leisten konnten. | |
Ich denke noch manchmal dran, man ging in den Buchladen am Savignyplatz, | |
hatte ein Buch in der Hand, hat es stehend gelesen und es wieder | |
hingestellt. Ich hab nie Bücher geklaut! Das war ja üblich, damals.“ | |
Helga sagt entschieden: „Was hier den Laden betrifft, da ist es so: Auch | |
wenn der Umsatz nicht so hoch war, unser beider ‚Gewinn‘ war auch die gute | |
Beziehung zu den Kunden. Da haben sich Freundschaften entwickelt, es gab | |
interessante Gespräche, wir wurden sogar mal nach Chemnitz über Nacht | |
eingeladen, ein Malik-Sammler. Das Antiquariat hat sich weiterentwickelt, | |
hat aber den Umsatz nie erhöhen können.“ Harald sagt: „Aber vergiss nicht, | |
wir hatten auch Glück. Das große Glück, auf das jeder Antiquar sein Leben | |
lang wartet. Ich erzähle euch die Geschichte: Eines Tages kam ein alter | |
Mann rein, über 80 und fragte wie nebenbei: ‚Möchten Sie eine | |
Voltaire-Ausgabe?‘ Ich sagte: ‚Unbedingt!‘ Und ich bekam sie, | |
erschwinglich!“ | |
Harald geht und holt einen der 70 Bände, nimmt das Oktavheft andächtig aus | |
dem wunderschönen Schuber, zeigt uns das blütenweiße Papier, die Prägung | |
der Bakerville-Schrifttype. Ein Vergnügen für die Augen, die Sinne. Harald: | |
„ Die sind alle noch im Original, schon aufgeschnitten, aber unbeschnitten, | |
so, wie sie beim Verleger im Lager waren. Also das ist die berühmte ‚Kehler | |
Ausgabe‘.“ (Oeuvres complètes de Voltaire, 70 Bände, herausgegeben von P. | |
de la Beaumarchais, Kehl 1785–1789, 20.000 Exemplare. Auch digital im | |
Internet http://digital.bibliothek.unihalle.de/hd/content/titleinfo/728993 | |
Anm. G.G.) | |
Harald erklärt: „Meine hier ist auf fünferlei Papier gedruckt. Wegen der | |
Zensur in Frankreich wurde mit Erlaubnis von Karl Friedrich von | |
Baden-Durlach in Kehl gedruckt und auch die Drucktypen gegossen. Danach ist | |
alles dann in irgendwelchen Kellern in Paris verschwunden und wurde z. T. | |
abgefackelt. Wo der alte Mann die herhatte, das weiß ich nicht, aber er kam | |
aus so einer begüterten Familie und hatte eine schöne Bibliothek.“ Helga | |
sagt: „Harald liebt die Bände so, die will er nicht weggeben!“ Harald | |
protestiert ein wenig: „ Ne, ne, ich möchte nur, dass sie in gute Hände | |
kommt!“ | |
## Die Spekulation fing an Platz zu greifen | |
Harald schließt den Schuber und legt den Band zur Seite. „Wir sind jetzt | |
etwas abgeschweift“, sagt Helga. Harald denkt kurz nach und sagt: „Also zu | |
unserer Geschichte möchte ich noch sagen: Wir haben damals zwar gemerkt, | |
irgendwas tut sich, schleichend, wir konnten es aber noch nicht so recht | |
festmachen, dass es die Spekulation ist, die angefangen hatte Platz zu | |
greifen. Das fing an in den ersten Jahren nach der Jahrtausendwende. Viele | |
Wohnungen wurden entmietet, viele umgewandelt in Eigentumswohnungen. | |
Plötzlich kamen viele Leute her, die hier nicht leben, sondern nur | |
Wochenend- und Ferienwohnungen haben. Am Anfang hat sich das für uns | |
positiv niedergeschlagen, denn die mussten sich ja einrichten, haben sich | |
eben auch eine Reihe von Büchern hingestellt, damit es repräsentativ wirkt, | |
wenn Besuch kommt. Aber die Gegend wurde gleichzeitig immer ruhiger, kaum | |
noch Bewegung im Kiez, die totale Verödung. Manchmal im Winter, da saß ich | |
immer nur da und keiner kam rein. Ich habe viel gelesen in dieser Zeit. “ | |
Helga: „Das Interesse an Büchern lässt eindeutig nach, jedenfalls am | |
antiquarischen Buch. Es gibt kaum noch Sammler oder sie sind alt und sagen: | |
ich hab mein Leben lang gesammelt, alles was mal Ausdruck von erlesenem | |
Geschmack war, von geistigen Interessen, meine Kinder interessieren sich | |
leider gar nicht dafür.“ Harald: „Ja, aber es gibt auch noch einen anderen | |
Grund. Die Zahl der Antiquare hat stark zugenommen, weil der Druck auf den | |
Arbeitsmarkt – gerade bei den Intellektuellen, also unseren Hauptkunden – | |
war so groß, dass viele den Weg in den Buchhandel gewählt haben. Aber | |
inzwischen ist das auch keine Lösung mehr. Viele müssen nebenher noch | |
arbeiten gehen, um überhaupt ihren Laden noch halten und existieren zu | |
können.“ | |
Helga erklärt: „Wir dachten natürlich, wir könnten das auffangen mit dem | |
Internet, das war aber ein Irrtum. Gerade der Internethandel mit Büchern | |
hat dazu geführt, dass die Preise jetzt so bei 10 Cent liegen. Vom | |
Börsenverein des Deutschen Buchhandels gab es im Juni 2017 einen guten Text | |
über MOMOX. Also da wird das in aller Brutalität deutlich gesagt, das Buch | |
selbst interessiert überhaupt nicht. Sie verkaufen soundsovieltausend | |
Bücher im Monat, nur solche mit ISBN-Nummer übrigens, und sie haben einen | |
internen Algorithmus für ihre Preisgestaltung. Wenn ich ein Buch für 7,50 € | |
einstelle ins Internet, dann hat er sofort seins auf 6,50 € reduziert, und | |
wenn ich weiter runter gehe, dann senkt er auch und geht quasi bis auf 10 | |
Cent.“ Harald ruft ärgerlich: „Automatisch!“ | |
## Seelenlose Onlinebestellung | |
Helga nickt und sagt: „Dadurch ist nichts mehr kalkulierbar. Ich habe | |
Bücher für 80 € im ZVAB“. (Zentrales Verzeichnis antiquarischer Bücher u… | |
Online-Antiquariat, inzwischen, ebenso wie AbeBooks, von Amazon aufgekauft. | |
Anm. G.G.) „Die haben ihren Wert, aber sie stellen die für 1,99€ auf | |
Amazon. Das Ergebnis ist natürlich, unsere Kunden finden uns teuer. Wir | |
gucken bei Amazon nach, was wir z. B. für ein Buch von Joseph Roth nehmen | |
können, das muss man sich mal vorstellen!!! Früher waren das sagen wir mal | |
15 €, heute müssen wir runtergehen auf 5 €. Wenn 20 Verkäufer vor mir | |
billiger sind im Internet, dann habe ich gar keine Chance, das Buch jemals | |
zu verkaufen! Sie nehmen mir 25 % vom Umsatz weg! Manchmal allerdings | |
kommen auch Leute hier vorbei, weil sie im Internet nachgeschaut haben, wo | |
sie das Buch finden – es gibt ja über 200 Antiquariate in Berlin, noch – | |
und da freuen wir uns natürlich, wenn sie zu uns kommen. Hier können sie | |
das Buch angucken, in der Hand halten, drin lesen, das ist etwas ganz | |
anderes als eine seelenlose Onlinebestellung.“ | |
Harald sagt: „Ich wollte aber doch noch mal zurückkommen auf den Wegzug | |
vieler Leute hier aus der Umgebung, als Reaktion auf die | |
Immobilienspekulation. Wir haben ein sehr gutes Beispiel, Riemers | |
Hofgarten. Hier das gesamte Karree gehört zu Riemers Hofgarten – wir | |
gehören nicht mehr dazu, wir sind das Eckhaus. Das Ensemble war sozusagen | |
ein Gegenentwurf zur Mietskaserne. Berlin war ja die größte | |
Mietskasernenstadt der Welt, und das verdankte sie dem ‚Hobrecht-Plan‘. | |
James Hobrecht hatte Mitte des 19. Jh. seinen Stadtbebauungsplan realisiert | |
und dabei versucht, an das Pariser Vorbild von Haussmann anzuknüpfen, hat | |
umfangreiche Straßenblöcke von bis zu 400 m Breite und 200 m Tiefe erbauen | |
lassen, dazwischen breite Magistralen. | |
Er war ein Mann der Polizei und wollte, dass alles breit und übersichtlich | |
ist, damit bei Bedarf Polizei und Armee ungehindert vorrücken können gegen | |
Erhebungen. Und aus Gründen der Profitsteigerung wurden die Hinterhöfe auch | |
noch bebaut – oft mehrere, für die Wohnungen der Unterschicht und fürs | |
Gewerbe. Das war das Übliche. Und dann kam der Maurermeister Riemer 1881, | |
er hatte nicht nur Geld, er hatte auch so eine bürgerliche Vision. Sein | |
großes Grundstück ließ er vollkommen anders bebauen, die Häuser haben nicht | |
nur vorne, sondern auch nach hinten raus prachtvolle Stuckfassaden, es gibt | |
grüne Innenhöfe, die Privatstraße. Eine städtische Idylle mit einem | |
Eingangstor wie ein Triumphbogen. Bis zum heutigen Tag stark begehrt. Heute | |
bekommt man dort luxussanierte Wohnungen zu kaufen oder voll eingerichtete | |
Ferienappartements zur Miete. Dafür mussten, wie schon erwähnt, viele der | |
alten Bewohner weichen. Das gesamte Ensemble wurde übrigens, da | |
denkmalgeschützt, in den 80er Jahren mit öffentlichen Mitteln saniert, der | |
Profit floss in die privaten Taschen. Man kann sagen: Wir haben heute nicht | |
mehr die Zeit der Architekten, sondern der Immobilienspekulanten, sie | |
gestalten unsere Stadt und unser Leben. | |
Der damalige Eigentümer wollte baulich verdichten, um noch mehr heraus zu | |
holen. Als der Denkmalschutz ablehnte, hat er kurzerhand verkauft. Iren | |
haben das dann erworben, Farmer, die hatten von Immobilien keine Ahnung, | |
sie wollten nur ein profitables Anlageprodukt. Haben z.T. Leute aus ihren | |
Verträgen raus gekauft und fingen an, Luxusverträge zu machen. Sie haben | |
mit Babelsberg zusammen gearbeitet und versucht, hier Filmschaffende rein | |
zu kriegen und auch Künstler. Ein Kameramann hat uns mal erzählt, er hat da | |
eine Riesenwohnung, ist aber nur zwei Stunden da. Immer mehr wurde | |
entmietet, unheimlich viele Wohnungen und auch Läden. Dadurch wurden die | |
Straßen immer leerer. Das war alles in den letzten 10 bis 15 Jahren. Und es | |
geht immer weiter, jetzt zum Jahresende soll ja in der Yorckstraße das | |
Hotel Riemers Hofgarten raus und das Lokal E. T. A. Hoffmann. Und auch in | |
den Gewerbehöfen, die alte Milchanstalt, die wird gerade saniert und | |
spekulativ hochpreisig verkauft. Hier, gegenüber an der Ecke, gab es früher | |
eine Apotheke, die war sehr gut besucht, besonders auch von alten Leuten. | |
Heute ist irgendein Büro drin. Das ist so in etwa die Lage und nun hat es | |
auch uns erwischt.“ | |
Helga zeigt auf die Bücher, die sich unter unseren Augen plötzlich in | |
bedrückenden Ballast verwandeln und sagt: „Wir haben schon viel geräumt, | |
wir müssen ja Ende Oktober raus und bis dahin muss ich verkaufen. Ich bin | |
immer noch geschockt von diesem Brief, von dieser Tatsache.“ Harald sagt: | |
„Hol ihn doch mal!“ Helga: “Ja wo ist er denn?“ Harald: „Weiß ich do… | |
nicht!“ Helga geht in die Nebenräume, kommt mit dem Brief zurück | |
Und liest vor: „Also er ist vom 26. 2. 2017. ‚Sehr geehrte Frau Herold, | |
hiermit kündige ich den Gewerbemietvertrag vom 1. 11. 2002 zum 31. 10. | |
2017. (…) Die Miete rührt ja noch aus dem vorigen Jahrhundert und wie Sie | |
mir sagten, verkaufen Sie ja das meiste über das Internet, so dass Sie den | |
Laden nicht zwingend brauchen. Eine doppelt so hohe Miete ist Ihnen ja | |
sicherlich nicht zuzumuten; nehmen Sie bitte alles aus dem Laden raus, | |
außer die antike Verkaufstheke und Einbauschrank, wie im Mietvertrag (…)‘ | |
Also danach hatten wir erst mal zwei Wochen damit zu kämpfen. Es ist ja was | |
anderes, ob du selbst aufgibst, irgendwann, oder ob dir jemand die | |
Verantwortung aus der Hand reißt und entscheidet, so, jetzt ist Schluss | |
hier! Ich – wir beide – haben eigentlich immer so eine Art selbstbestimmtes | |
Leben geführt und jetzt das – total von außen aufgesetzt! “ | |
## Es gab Wodka und Sonnenblumenkerne | |
Harald sagt: „Ja. Zwanzig Jahre, das ist ein Teil des Lebens. Und hier | |
wurden ja nicht nur Bücher verkauft, wir haben auch Kultur gemacht, wir | |
haben mit einer Galerie zusammengearbeitet, haben Lesungen gemacht, es | |
kamen gute Leute. Wir hatten Stühle für 30 Personen. Heute wäre dafür gar | |
kein Platz mehr.“ Helga ergänzt: „Wir haben hier mal russische Filme | |
gezeigt … Meine besondere Liebe gilt ja den Russen. Und wir hatten sogar | |
einen Daniil-Charms-Abend, es wurde ein Stück vorgeführt. Einer spielte auf | |
einem Knopfakkordeon, es gab Wodka und Sonnenblumenkerne, die Schalen | |
wurden auf den Boden gespuckt. Charms ist ein besonderer Liebling von mir.“ | |
Harald: „Ach, wir haben viele Abende gemacht, schöne Abende, aber es hat | |
nichts gefruchtet. Die Leute sind gekommen, haben konsumiert und kamen nie | |
wieder. Da haben wir das dann frustriert allmählich einschlafen lassen. | |
Aber ich sollte vielleicht noch etwas zum Regal sagen?“ | |
Helga bedauernd: „Es wird uns fehlen. Harald kann das sehr gut erzählen, er | |
hat sich auch mit der Kiezgeschichte beschäftigt, und er hat wunderbare | |
Fotos vom Laden. Der Sohn vom früheren Laden- und Hauseigentümer Ernst Rank | |
kam mal hier vorbei mit Leuten und wollte denen zeigen, wo er groß geworden | |
ist, da hat ihn Harald gefragt, ob er vielleicht noch Fotos hat aus der | |
Zeit, er sagte, er hat keine, aber sein Bruder hat welche. Und der Bruder | |
kam dann eines Tages, hat uns Fotos gezeigt vom Haus, vom Inneren des | |
Ladens, er hatte irgendwie Abzüge machen lassen und uns die gegeben. Er hat | |
uns auch Geschichten erzählt, wie es damals hier war. Dort drüben, wo jetzt | |
die Theke ist, war die Treppe in den Keller runter. Ich habe gestaunt, da | |
haben 16 Leute gearbeitet in diesem Geschäft, das lag aber daran, dass ein | |
Teil von ihnen die Waren austragen musste zu den Kunden.“ | |
## Das Haus wurde 1880 gebaut | |
Harald sagt: „Ich zeige euch die Bilder nachher, wenn wir fertig sind. Also | |
das Haus ist 1880 gebaut, um 1900 haben sie es umgebaut und da kam der | |
Kolonialwarenladen rein mit dem maßangefertigten Regal. Durch die | |
Offizierswohnungen hier haben die ein sehr gutes Geschäft gemacht. Ganz in | |
der Nähe war der Exerzierplatz am Tempelhofer Feld. Es gibt eine Kneipe, | |
die heißt noch immer ‚Kaiserstein‘, weil der Kaiser bis dahin mit der | |
Kutsche fuhr und da, an der Ecke Mehringdamm/Kreuzbergstraße, ist er | |
aufgestiegen auf sein Pferd, mit Hilfe des Steines, um zum Exerzierplatz zu | |
reiten. Später, so um 1925 machte die Familie Ernst Rank – von der ich die | |
Fotos bekommen habe – hier drin ein ‚Delikatessen-, Kaffee- und | |
Zuckergeschäft‘ auf, und Kolonialwaren hatten sie auch im Angebot und in | |
diesem Regal. Es steht ja unter Denkmalschutz, und jeder, der hier | |
einzieht, muss es lassen, wo es ist. So auch der Metzger, der Bäcker, | |
Edeka, das Elektrogeschäft bis hin zu uns. Also für uns war es ein | |
wunderbares Bücherregal, und wir hängen einfach auch an dem Laden, denn er | |
ist ja wirklich sehr schön und war unser Zuhause.“ | |
Helga will zum Eigentlichen kommen: „Ja, aber das ist jetzt eben vorbei. | |
Bedrückend ist, dass wir keine Räume finden, um unsere Bücher zu lagern, | |
wir waren schon im Umland. Mir gefällt es auf dem Land, aber Harald will | |
lieber in der Stadt bleiben. Nur, die Wahl haben wir gar nicht. Es ist | |
längst alles aufgekauft auf dem Land, da sind wir jetzt einfach wieder mal | |
zu spät und wissen nicht, wo wir unterkommen können. Vielleicht, wenn ihr | |
zufällig was wisst oder hört? Etwas, das günstig wäre, trocken und passend | |
für uns, sagt Bescheid. Und das andere Problem ist, dass ich alle Bücher im | |
Internet stehen habe und wir hier keinen totalen Abverkauf machen wollen, | |
aber dennoch reduzieren müssen. Also unsere Hauptarbeit besteht jetzt im | |
Sortieren. Und dann sehen wir halt, was wir jetzt hier im Laden noch | |
verkaufen können, und hoffen, dass viele Interessenten und viele unserer | |
alten Kunden kommen. Nur, wir können’s natürlich nicht verschleudern.“ | |
Harald: „Wir machen es einfach so, wir gehen auf den jeweiligen Menschen | |
ein, und wenn wir sehen, der hat nicht viel, dann sind wir eben kulant.“ | |
Helga: „Es ist alles verhandelbar.“ Harald seufzt: „Wir haben jetzt eine | |
harte Zeit vor der Brust, bis wir das alles abgewickelt haben …“ | |
31 Jul 2017 | |
## AUTOREN | |
Gabriele Goettle | |
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