# taz.de -- Interview zum Behindertensport: „Hauptsächlich kriegsversehrte M… | |
> Nach dem Krieg trieben allenfalls Männer mit Kriegsverletzungen Sport als | |
> Therapie. Frauen spielten keine Rolle, Menschen mit geistiger Behinderung | |
> wurde mit Abscheu begegnet | |
Bild: Eine Frau mit Behinderung im Leistungssport (hier Vanessa Low): nach dem … | |
taz: Herr Schlund, wie schaute die westdeutsche Gesellschaft in den 1950ern | |
und 60ern auf den Behindertensport? | |
Sebastian Schlund: Den, wie es damals noch hieß, „Versehrtensport“ hat | |
damals kaum jemand wahrgenommen. Diejenigen, die ihn betrieben hatten, | |
waren hauptsächlich kriegsversehrte Männer. Für sie war der Sport eine Art | |
Schutzraum, in dem sie unter sich bleiben konnten. Das war beinahe schon | |
eine Selbsthilfegruppe, denn da steckte ganz stark ein zeittypisches | |
Schammotiv drin. Andererseits wollte die Gesellschaft die Kriegsversehrten | |
nicht im Alltag sehen, denn das bedeutete eine Erinnerung an den Krieg. | |
Der Behindertensport wurde aber schon von Anfang an öffentlich gefördert. | |
Warum? | |
Ja, das hatte aber eine zweckdienliche Funktion. Behindertensport wurde als | |
therapeutische Maßnahme angesehen, um die Kriegsopfer wieder erwerbsfähig | |
zu machen. Die staatliche Finanzierung hatte also in erster Linie ein | |
ökonomisches Motiv. | |
Mit welchen Sportarten ging es los? | |
Vor allem mit Schwimmen, weil die Medizin darin einen therapeutischen | |
Nutzen sah. Ansonsten waren es noch leichtathletische Disziplinen, aber | |
auch Kegeln und, in Bayern, Krückenskilauf. Besonders die letzten beiden | |
Sportarten wurden anfangs kritisch gesehen. Konnte man Kegeln noch als | |
therapeutisch oder zweckdienlich betrachten, wenn es doch dabei vielleicht | |
eher um die Geselligkeit bei Bier und Zigarette ging? Und besteht beim | |
Skifahren nicht eine hohe Verletzungsgefahr? „Macht euren Körper nicht noch | |
mehr kaputt!“, war die aus heutiger Sicht natürlich zu kritisierende | |
Ansage. Von selbstbestimmter Freizeitgestaltung konnte noch keine Rede | |
sein. Wie gesagt, es ging vorrangig um eine ökonomische | |
Wiedereingliederung. | |
Wie sah es mit Leistungssport aus? Gab es richtige Wettkämpfe? | |
Leistungssport war verpönt, Wettkämpfe wurden stark eingehegt. Höchstens | |
gab es „Versehrtensporttreffen“, bei dem es nur Sieger – erster, zweiter, | |
dritter und so weiter – gab, so wie man es von den Turnern kannte. | |
Meisterschaften gab es erst ab den 1970ern, als auch die | |
Sozialwissenschaften und eine wissenschaftlich begleitete | |
Behindertenpolitik die Chancen des Sports als Integrationsmotor erkannten. | |
Da begann ein großer Wandel, sodass behinderte Menschen auch viel freier | |
entscheiden konnten, welchen Sport sie betreiben wollen. | |
Hatten auch geistig behinderte Menschen Zugang zu Behindertensportvereinen? | |
Denen begegnete man fast schon mit Abscheu, was sich auch erst ab den | |
80er-Jahren zu ändern begann. Menschen mit geistiger Behinderung haben | |
lange keinen Platz in den Behindertensportvereinen gefunden. Diese waren | |
jahrzehntelang von den Kriegsversehrten der ersten Stunde dominiert worden. | |
Es herrschte eine klare Hierarchie in den Vereinen, die sich an drei | |
Kriterien entwickelte: Erstens, die Frage nach den Ursachen. Personen, | |
deren körperliche Beeinträchtigung nicht auf eine Kriegsverletzung | |
zurückging – sogenannte Zivilbehinderte – wurden marginalisiert. Zweitens | |
betraf dies Frauen. Drittens dann war die Art der Behinderung, also ob | |
geistig oder körperlich, von Bedeutung. Erst in den 1970ern entstanden | |
sogenannte Integrationssportgruppen, die als Reaktion auf die Ausgrenzung | |
zu sehen sind. Auch die Gründung des Special Olympics Deutschland 1991 | |
fällt in diese Entwicklungsphase. | |
Wie entwickelte sich der Behindertensport im Norden Deutschlands? | |
Einerseits dominierten die Kriegsversehrten etwa in Schleswig-Holstein die | |
Vereine sehr lange. Da gab es sehr enge Verbindungen zu | |
Kriegsopferverbänden. In Hamburg allerdings gründete sich mit der | |
„Integrationssportgruppe City Nord“ in den 80er-Jahren ein Verein, der | |
Vorurteile aufzubrechen versuchte. Das fand in der Folgezeit viele | |
Nachahmer. | |
30 Jul 2017 | |
## AUTOREN | |
André Zuschlag | |
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