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# taz.de -- Nur ein paar Klicks entfernt
> Novelle Jan Wehn erzählt in seinem Debüt „Morgellon“ vom Sog alternativ…
> Fakten. Heute Abend liest er daraus in der Tucholsky-Buchhandlung
Eine kleine Kulturgeschichte des Aluhuts: Während Aldous Huxley 1927 die
Ruhe vor dem Erfolg mit seinem dystopischen Jahrhundertroman „Brave New
World“ genießt, stellt sein Bruder, der Humanist Julian Sorell, in der
Sciene-Fiction-Story „The Tissue-Culture King“ einen goldenen Aluminiumhut
vor, der vor schädlicher Telepathie schützen soll. Mit dieser Erfindung ist
auch Julian Huxley heute in aller Munde: Der Aluhut steht als Chiffre für
alles, was mit Verschwörung zu tun hat. Und ist in Zeiten von „alternativen
Fakten“ zum geflügelten Wort geworden.
Um den Weg in die Verschwörungsblase geht es auch in der Novelle
„Morgellon“. Noah Zimmermann ist moderner Antiheld. Er versucht sich
halbherzig am Beenden seines Langzeitstudiums, zieht sich gemörserte
Schmerzmittel aus der Hausapotheke seines verstorbenen Großvaters durch die
Nase und leidet unter chronischer Migräne. Noah scheitert am Alltag.
In einem trägen Sofa-Gespräch mit einem alten Freund erfährt er von der
Existenz von sogenannten Chemtrails – Kondensstreifen. In der Realität von
Verschwörungstheoretikern sind Chemtrails in die Luft gesprühte
Chemikalien, mit denen die Regierung die eigene Bevölkerung schwächen und
gefügig machen will.
„Er fing an davon zu faseln, dass die erste Mondlandung in Wahrheit in
einem Filmstudio gedreht worden und AIDS eine Erfindung aus dem Labor sei,
mit der die Bewohner des afrikanischen Kontinents ausgerottet werden
sollten. Das mit den Kondensstreifen scheint auch wieder eine seiner
Kifferparanoias zu sein.“
Einige Google-Anfragen und Lorazepam-Lines später steckt Noah in der
Spirale von sich verdichtenden Alternativfakten. Plötzlich scheint alles
Sinn zu ergeben: die Kopfschmerzen, die juckenden Pusteln am Kopf, die
Wahrnehmungsstörungen. Die Antwort heißt Chemtrails. Sie sind die perfekte
Einstiegsdroge in den Aluhut-Kosmos.
## Wie Würmer durch die Haut
In einem Internetforum lernt Noah die Esoterikerin Lea kennen. In seiner
verwahrlosten Wohnung treffen sich die beiden zum Rotweintrinken und
Paranoia-Austausch. Lea erzählt Noah von „Morgellonen“, winzigen Fasern,
die sich wie Würmer durch die Haut ihrer Wirte bohren und unerträglichen
Juckreiz auslösen.
Morgellonen kommen, klar, von den Chemtrails. „Jeden Morgen, Mittag und
Abend fotografiere ich den Himmel, gebe das Bild anschließend unter ein
selbst erstelltes Raster und errechne so den prozentualen Anteil des Giftes
in der Luft. Darüber hinaus analysiere ich die Zeichen und Muster der
Kondensstreifen, deren Gift mitsamt der Morgellonen unsichtbar auf die
Häuser und Straßen und die Menschen niederrieseln.“ Noah kappt den Kontakt
zur Außenwelt und schließt sich dem Reichsbürger-Milieu an.
Dass Deutschland über keine Verfassung verfüge und in Wirklichkeit eine
GmbH sei, pflanzt man ihm ein. Dass man sich auf einen Krieg einstellen
müsse, den die Lügenpresse verheimliche. Seine Kraft entwickelt der Text an
Stellen wie diesen durch das Bewusstsein, dass all diese Behauptungen
tatsächlich existieren.
Jan Wehn schickt seinen Protagonisten auf eine nachvollziehbare Reise in
die Monstrosität einer Unterwelt, die sich von der Angst ihrer Bewohner
nährt. Eine Welt, deren Bedrohung sich daraus speist, dass sie uns alle
umgibt. Sie ist nur ein paar Klicks entfernt. Am Ende kann Noah nichts und
niemandem mehr trauen. Er neutralisiert seinen Personalausweis in der
Mikrowelle, deckt sich mit Konserven und Schmerzmitteln ein und wartet.
Wartet auf das Ende des Summens in seinem Kopf, auf den Krieg und die
Neuordnung der Welt.
Jan Wehn ist Musikjournalist und einer der Macher des DIY-Magazins Das
Wetter. Der Kern des Kollektivs, Sascha Ehlert, Katharina Holzmann und
David Rabolt, gründeten 2015 den Kleinverlag Korbinian, in dem „Morgellon“
erschienen ist. Nora Voit
Jan Wehn: „Morgellon“. Korbinian Verlag, 80 Seiten, 10 Euro. Lesung heute,
19.30 Uhr, Buchhandlung Tucholsky, Tucholskystraße 47, Mitte
5 Jul 2017
## AUTOREN
Nora Voit
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