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# taz.de -- Kemalismus in der Kritik: Abrechnung mit Atatürks Republik
> Der Gründervater steht für die säkulare Türkei, in der Religion zur
> Privatsache degradiert wurde. Mit der AKP bekommen Islamisten die Chance
> auf Revanche.
Bild: Republikanische Werte verlieren an Bedeutung
Die Abrechnung mit Atatürk, dem Staatsgründer der Türkischen Republik, ist
seit jeher das Fundament, auf dem der türkische Islamismus basiert. Als
politische Figur bot Mustafa Kemal Atatürk den Islamisten eine breite
Angriffsfläche – durch die von oben herab diktierte Modernisierung und der
strikten Orientierung an westlichen Werten.
Ihn zu kritisieren war aber lange Zeit keine Option, da ein breiter
gesellschaftlicher Konsens ihn als eine Art nationale Heiligenfigur
schützte. Zudem waren persönlich geartete Attacken, also die „Beleidigung“
Atatürks durch weitreichende Gesetzgebungen nahezu ausgeschlossen. So
richtete sich die Verunglimpfung eher gegen sein Umfeld. Ismet Inönü,
Atatürks Waffenkamerad und erster Ministerpräsident unter Atatürk, etwa war
historisch betrachtet für die Islamisten ein weicheres Ziel.
## Diffamierung als „Möchtegern-Napoleon“
Die Diskussion um Atatürk-Beleidigungen flammt in den letzten Wochen erneut
auf. Pikanterweise durch eine Zeitschrift, die dem Schwiegersohn des
Staatspräsidenten Erdoğan gehört. Die Albayrak Holding vertreibt mit der
Albayrak Mediengruppe eine Reihe von regierungsnahen Publikationen, unter
anderem die Zeitschrift Derin Tarih, die seit 2012 mit einer Auflage von
20.000 erscheint.
In der Mai-Ausgabe dieser Zeitschrift erschien ein angeblich von der
Ex-Frau Atatürks verfasster Brief, in welchem sie ihn als
„Möchtegern-Napoleon“ diffamiert. Erst nach einigem Protest wurde gegen die
Zeitschrift wegen „Beleidigung des Andenkens unseres Staatsgründers“
ermittelt. Nun wurde sie vom Markt genommen, gegen die verantwortlichen
Redakteure wurde ein Haftbefehl erlassen.
## Kemalisten und Gülenisten unter einem Hut?
Doch kaum waren die öffentlichen Diskussionen abgeflacht, wurden am 19. Mai
(einem von Atatürk begründeten Nationalfeiertag), leitende Redakteure der
Zeitung Sözcü mit dem Vorwurf der Mitgliedschaft in der Terrororganisation
FETÖ (FETÖ steht seit dem Putschversuch im Sommer 2016 für die Vereinigung
um Prediger Fethullah Gülen, Anm.d.Red.) in Polizeigewahrsam genommen.
Die Zeitung wendet sich explizit an kemalistische, republikanische und
nationalistische Leser*innen und geriet aufgrund der nationalistischen
Redaktionslinie geriet häufig in die Kritik von Demokrat*innen. Besonders
wenn es um die Rechte der kurdischen Minderheit oder das enthusiastische
Beklatschen von Haftstrafen für HDP-Politiker*innen ging, bekleckerte sich
die Sözcü nicht gerade mit Ruhm.
Allerdings führte dieses zweifelhafte Image der Redaktion nicht dazu, dass
die Verhaftung des Zeitungsinhabers von weiten Teilen der Gesellschaft
toleriert wird. Im Gegenteil, viele empfinden es als absurd, dass die
säkular-nationalistische Sözcü in einer Verbindung mit der Gülen-Bewegung
stehen soll.
## Religion, Ethnie und Rendite
Doch, wenn es nicht so ist: Weshalb wurden dann die Festnahme bei Sözcü
angeordnet? Wird die AKP nun endgültig mit den Kemalisten und in gewisser
Weise mit Atatürk abrechnen?
Die Politik der AKP basiert auf drei Werten: Religion, Ethnie und Rendite.
Doch diese Werte korrespondieren nicht mit allen gesellschaftlichen
Gruppen. Es gibt Symbole, bei deren Angriff sich sehr schnell ein
Widerstand formiert, und für die modernen Schichten der Türkei ist dieses
Symbol vor allem Atatürk, der für Säkularismus steht.
So wurden im Vorfeld des Referendums bei unzähligen „Nein“-Veranstaltungen
inbrünstig Märsche und Lobeshymnen auf Atatürk gesungen. Eine Vielzahl der
Menschen sind also davon überzeugt, dass Erdoğan mit der Republik und
Atatürk im Clinch liege. Und man kann wahrlich nicht das Gegenteil
behaupten.
## Weltherrschaftsfantasien von Islamisten
Der türkische Islamismus verfolgt die These, dass der Aufstieg einer
Weltmacht in den Händen einer islamischen Einheit liege. Doch als das
Osmanische Reich vor hundert Jahren auseinander fiel, war die Auflehnung
gegen die Besatzung Anatoliens eher nationalistisch denn islamistisch
geprägt. So beobachteten verschiedene religiöse Geistliche und ihre
Anhänger den Unabhängigkeitskampf Mustafa Kemal Atatürks mit Argwohn.
Angestachelt von den Besatzungsmächten und dem in die enge getriebenen
Osmanischen Reich, sprachen religiöse Führer Fatwas gegen die
Unabhängigkeitsbewegung des Landes aus. Trotz dieser Ablehnung gelang es
Mustafa Kemal und seinen Freunden, das Land in eine westlich orientierte
Richtung zu führen. Den Untergang der Osmanischen Großmacht erklärte er
sich nämlich mitunter mit der fehlenden Anbindung an die Moderne und an
religiöse Kräfte, mit denen er möglichst schnell zu brechen versuchte.
Mit der teilweise unter Zwang durchgesetzten Modernisierung der Türkei
durch Atatürk wurden religiöse Sekten und Gemeinden in den Untergrund
gedrängt. Heute wird deutlich, dass diese sich seither organisiert haben.
## Erfolg bei Armen und in der Provinz
Jede rechte Partei hat versucht, mit islamistischer Unterstützung auf
Stimmenfang zu gehen, da islamistische Gruppierungen vor allem in den
provinziellen und verarmten Regionen erfolgreich und gut vernetzt waren.
Dort nahm man ihnen ab, dass die ökonomischen und sozialen Probleme der
Türkei von der „Areligiösität“ herrührten.
Soziale und ökonomische Probleme auf eine fortschrittlichere Art zu lösen
war das Ziel der Sozialisten, die besonders in den Jahren 1960-1980
erstarkt sind. Nationalistische Faschisten und Islamisten jedoch drängten
diese linken Gruppen zurück, bis sie mit dem Militärputsch am 12. September
1980 das Feld vollends den Islamisten überlassen mussten.
Heute bündel sich islamistische Gruppierungen unter dem Dach der AKP. Was
ihnen in der Vergangenheit verwehrt wurde, erhalten sie nun mit dem
Wohlwollen der Regierungspartei. Stiftungen oder Schülerheime schießen wie
Pilze aus dem Boden, öffentliche Ausschreibungen werden ihnen zugespielt,
fundamentalistische Lehren und Praktiken finden mittels konservativer
Bildungsstätten genügend Anhänger.
## Republikanische Opposition zum Schweigen bringen
Die AKP kann man als eine Art Koalition zwischen Partei und religiöser
Sekte bezeichnen. Den öffentlichen Dienst hat sie vollends der Kontrolle
der religiösen Orden übergeben. Von der Gülen-Gemeinde weiß man inzwischen,
dass sie in der Justiz und innerhalb der Polizei besonders viele Anhänger
hatte, bis es zur Konfrontation mit Erdoğan kam. Dass morgen oder
übermorgen nicht eine andere religiöse Sekte das Gleiche versuchen wird,
dafür gibt es keine Garantie.
Die AKP verstärkt mit ihrer neoliberalen Politik den wachsenden Widerstand
der Säkularen, der Aleviten und der Kurden. Korruption und
Vetternwirtschaft sind nur zwei der unzähligen Probleme, die zu neuen
Bündnissen unter den Betroffenen führen können.
Atatürkbeschimpfungen während und nach dem Referendum sowie die
Inhaftierung von Sözcü-Mitarbeitern sind Vorboten für die Niederschlagung
der letzten oppositionellen Kräfte durch die AKP. Denn, was die AKP heute
erreichen will, ist nicht der Sözcü-Redaktion einen demokratischen Dämpfer
zu verpassen. Es geht darum, die republikanische Opposition zum Schweigen
zu bringen – mit den Symbolen der Republik zu spielen, um den Widerstand zu
brechen.
19 Jun 2017
## AUTOREN
Baris İnce
Barış İnce
## TAGS
taz.gazete
Türkei
CHP
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