# taz.de -- Inhaftierte Journalistin Meşale Tolu: Mit 17 Frauen in einer Zelle | |
> Journalistin Meşale Tolu wird in der Türkei vorgeworfen, sie sei Mitglied | |
> eine Terrororganisation, ihr Mann wurde ebenfalls verhaftet. | |
Bild: Meşale Tolus Fall nicht vergessen wird | |
Es dauerte über einen Monat bis Meşale Tolu im Frauengefängnis | |
Istanbul-Bakırköy endlich Besuch von Mitarbeiter*innen des deutschen | |
Generalkonsulats erhielt. Anfang Juni konnten sich die Diplomat*innen | |
schließlich davon überzeugen, dass es ihr den Umständen entsprechend gut | |
ging. | |
Es war ein lang überfälliger Besuch, sagte der deutsche Botschafter in | |
Ankara, Martin Erdmann danach der Stuttgarter Zeitung. Die Türkei habe | |
„eindeutig gegen das Wiener Abkommen über konsularische Beziehungen | |
verstoßen, nach dem die Botschaft in kurzer Zeit über die Inhaftierung | |
eines Deutschen unterrichtet werden muss.“ | |
Denn die deutsche Journalistin Meşale Tolu wurde bereits am 30. April von | |
Sicherheitskräften aus ihrer Istanbuler Wohnung abgeführt. Seit dem 6. Mai | |
befindet sie sich nun mit ihrem zweijährigen Sohn in der Frauenhaftanstalt | |
im Westen von Istanbul. | |
## Anonymer Zeuge | |
Der 33-Jährigen, die zuletzt im Auslandsressort der Nachrichtenagentur | |
Etkin Haber Ajansı (ETHA) tätig war, wird „Mitgliedschaft und Propaganda | |
einer Terrororganisation“ vorgeworfen. Diese Vorwürfe stützen sich laut der | |
türkischen Regierung auf die Aussagen eines „anonymen Zeugen“. | |
Meşale Tolu wurde 1984 in Ulm geboren, ab ihrem 7. Lebensjahr wuchs sie bei | |
ihrer Großmutter Güley Tolu auf. Wenn ihre ehemalige Lehrerin Angelika | |
Lanninger sich an Tolu als Schülerin des Anna-Essinger-Gymnasiums erinnert, | |
dann beschreibt sie sie als nachdenklich und gewissenhaft, immer offen und | |
interessiert. | |
Lanninger sagt, sie habe großen Respekt vor dem Mut ihrer ehemaligen | |
Schülerin: „Sie war auf einer Schule, die nach Anna Essinger benannt ist, | |
einer Frau, die im Nationalsozialismus Kinder vor Verfolgung und Tod | |
gerettet hat. Eine Schule, die großen Wert auf Demokratie und freiheitliche | |
Werte legt, und Meşale hat durch ihre Zivilcourage und ihr mutiges | |
Eintreten für genau diese Werte gezeigt, dass sie unseren schulischen | |
Wertekanon verstanden und verinnerlicht hat.“ | |
## „Sie war am Boden zerstört“ | |
Tolu, die 2007 die deutsche Staatsbürgerschaft erhält und die türkische auf | |
eigenen Wunsch abgibt, studiert in Frankfurt am Main auf Lehramt. Doch | |
während des Studiums beschäftigt sie sich immer mehr mit den politischen | |
Entwicklungen in der Türkei und beginnt sich für Journalismus zu | |
begeistern. | |
Bald arbeitet sie als Übersetzerin und schreibt erste Artikel. Mesut Duman, | |
ein Jugendfreund von Tolu, erzählt, dass ihr Türkisch nicht besonders gut | |
gewesen sei. „Meşale denkt auf Deutsch“, sagt er. | |
Tolu, die insgesamt vier Sprachen beherrscht, fängt noch in Deutschland an, | |
als freie Mitarbeiterin für den unabhängigen türkischen Radiosender Özgür | |
Radyo zu arbeiten. Ab 2014 pendelt sie dann zwischen der Türkei und | |
Deutschland und ist fest in der Redaktionszentrale des Radios tätig. | |
## Als Mutter im Büro | |
Cüneyt Yılmaz von Özgür Radyo beschreibt Tolu als eine engagierte Kollegin: | |
„Als sie gerade ihren Sohn bekommen hatte, hatten wir eine Wiege für ihn im | |
Büro. Meşale arbeitete dann an den Nachrichten und wiegte gleichzeitig ihr | |
Baby in den Schlaf. Zwischendurch kam sie aber auch noch immer wieder zu | |
mir und fragte, ob sie mir noch behilflich sein könne. Ich habe viel von | |
ihr gelernt.“ | |
Am 20. Juli 2015 ereignet sich dann der IS-Anschlag in Suruç, etwa zehn | |
Kilometer von der Grenze entfernt. Hunderte Student*innen und | |
Aktivist*innen waren aus der gesamten Türkei angereist, um gemeinsam von | |
dem kleinen Grenzort aus nach Kobani zu reisen und Hilfe beim Wiederaufbau | |
der Stadt zu leisten. Während der Versammlung im Garten des | |
Amara-Kulturzentrums zündete ein Selbstmordattentäter einen Sprengsatz. Es | |
starben 33 Menschen, 76 wurden verletzt. | |
„Ich werde diesen Tag nie vergessen“, erzählt Tolus Kollege Yılmaz, „Me… | |
war am Boden zerstört, gleichzeitig konnte sie nicht aufhören, zu arbeiten | |
und über den Fall zu berichten.“ Auch als der Radiosender schon unter | |
großem Druck stand, und schließlich per Notstandsdekret geschlossen wurde, | |
„blieb Meşale zuversichtlich“, so Yılmaz. | |
## Legale politische Partei – aber verfolgt | |
Unter den Opfern des Anschlags waren vor allem Mitglieder der | |
Sozialistischen Jugendvereinsföderation (SGDF), dem jungen Arm der | |
Sozialistischen Partei der Unterdrückten (ESP). Die ESP, zu deren | |
Gründer*innen auch die derzeit inhaftierte HDP-Kovorsitzende Figen | |
Yüksekdağ zählt, ist eine legale politische Partei. Es gab keinerlei | |
Beschluss, sie zu verbieten. | |
Auch wurde deren Unabhängigkeit – etwa von der verbotenen | |
Marxistisch-Leninistisch-Kommunistischen Partei (MLKP) – schon 2014 in | |
einem Gerichtsbeschluss festgehalten. Doch der türkische Staat erkennt die | |
Distanz zur MLKP nicht an und verfolgt Besucher*innen von | |
ESP-Veranstaltungen als „Mitglieder von terroristischen Vereinigungen“. | |
Bereits bei den Gezi-Protesten im Sommer 2013 wurden zahlreiche | |
ESP-Mitglieder verhaftet und dasselbe geschieht nun seit dem | |
Verfassungsreferendum, das im April über das von Staatschef Recep Tayyip | |
Erdoğan angestrebte Präsidialsystem entschied. Der Vorwurf: Durch | |
Protestaufrufe zweifle die ESP die Legitimität des Wahlergebnisses an. So | |
wurde auch Suat Çorlu, Meşale Tolus Ehemann und Mitglied der ESP, bereits | |
am 5. April festgenommen, weil er aktiv an der „Nein“-Kampagne zum | |
Referendum beteiligt war. | |
## Kritische Medien stummschalten | |
Meşale Tolu selbst ist kein Mitglied der ESP, doch auch ihre Verhaftung | |
wird mit der Teilnahme bei diversen Beerdigungen und vom ESP | |
mitorganisierten Gedenkveranstaltungen für verstorbene | |
Anti-IS-Kämpfer*innen aus kurdischen Milizen begründet. Auch in Tolus Fall | |
ist die repressive AKP-Politik zu erkennen, die sich in der Türkei derzeit | |
gegen oppositionelle Organisationen und kritische Medien richtet – eben | |
gegen die, für die Tolu jahrelang gearbeitet hat. | |
Die Nachrichtenagentur ETHA, für die Meşale Tolu zuletzt gearbeitet hat, | |
gilt als linke Nachrichtenorganisation. Derya Okatan, Textchefin bei ETHA, | |
die im Dezember ebenfalls in Polizeigewahrsam genommen wurde, erklärt am | |
Telefon: „Weil ETHA unabhängig von der Regierung arbeitet, war sie der AKP | |
schon immer ein Dorn im Auge. Sie wollen, dass wir endlich aufgeben.“ Oktan | |
kennt Tolu seit fünf Jahren, sie hatten auch schon bei Özgür Radyo | |
zusammengearbeitet. „Meşale ist begabt und eine fleißige Kollegin“, sagt | |
sie. „Und sie ist auch eine tolle Freundin, die einen mit ihrer positiven | |
Energie ansteckt.“ | |
## Mit Kleinkind in der Zelle | |
Meşale Tolu lebt laut ihrem Vater Ali Rıza Tolu derzeit mit 17 weiteren | |
Frauen in einer Zelle. Tolus Sohn Serkan, der noch nicht den Kindergarten | |
der Anstalt besuchen darf, weil er noch nicht drei Jahre alt ist, werde von | |
allen gut behandelt. Spielsachen gebe es aber nicht. Baki Selçuk, ein | |
Sprecher der Familie, sagt Tolu dürfe einmal am Tag für eine Stunde in den | |
Hof, an die frische Luft. Es seien auch ein paar wenige Briefe aus | |
Deutschland bei ihr angekommen. | |
Sowohl aus Deutschland als auch der Türkei gibt es immer wieder | |
Solidaritätsbekundungen für sie. ETHA organisierte bereits eine Demo in | |
Istanbul-Kadiköy. Und auch in Tolus Heimatstadt Ulm wird regelmäßig mit | |
öffentlichen Kundgebungen an die inhaftierte Journalistin erinnert. | |
Inwieweit sich die türkische Regierung davon beeindrucken lässt, ist | |
fraglich. Doch zählt vor allem, dass Meşale Tolus Fall nicht vergessen wird | |
und sie baldmöglichst konsularisch betreut werden kann. | |
## Nachricht aus der Zelle | |
Bis dahin wartet Tolu die wöchentlichen Besuche ihres Vaters ab. Auch für | |
ihn hat sich das Leben schlagartig verändert, seit erst Schwiegersohn Suat | |
Çorlu und dann seine Tochter verhaftet wurden. Vier Tage pro Woche | |
verbringe er in Anstalten und Ämtern, erzählt seine ältere Tochter Gülay: | |
„Weil Meşale deutsche Staatsbürgerin ist, braucht er für jeden Besuch eine | |
neue Genehmigung vom Ministerium. Am ersten Tag beantragt er die | |
Genehmigung, am zweiten Tag holt er sie ab, am dritten besucht er seine | |
Tochter in der Haftanstalt Bakırköy und am vierten seinen Schwiegersohn in | |
der Haftanstalt Silivri.“ | |
In einer Nachricht aus der Haftanstalt schrieb Meşale Tolu sie wolle da | |
weitermachen, wo sie aufgehört hat, sobald sie wieder draußen ist. | |
26 Jun 2017 | |
## AUTOREN | |
Ali Celikkan | |
Ali Çelikkan | |
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