| # taz.de -- Zwischen Zank und Zweifel | |
| > SCHLAGLOCH VON HILAL SEZGIN Einblick in eine muslimische deutsche | |
| > Seelenlage | |
| Ein weiterer Ramadan neigt sich dem Ende zu, und es wird von Jahr zu Jahr | |
| schwerer, die Tradition der inneren Einkehr mit Leben zu füllen. Dabei | |
| denke ich nicht an die langen sommerlichen Fastenzeiten, sondern ich meine | |
| das mit dem islamistischen Terrorismus. Oh, wie bin ich es leid, dieses | |
| Thema „Islam und Terrorismus“! | |
| Was eine recht egozentrische Aussage ist angesichts der Tatsache, dass | |
| Menschen durch Terrorismus sterben. Sie sind nicht bloß das Thema leid, | |
| sondern erleiden tatsächlich Gewalt, Tod und Verlust ihrer Nächsten. Kann | |
| man sich dennoch darüber beklagen, dass man bei jedem Ramadan Angst haben | |
| muss, dass der heilige Monat durch Gewalt entweiht wird? | |
| ## Ein Thema wie ein Minenfeld | |
| Bei dem Friedensmarsch in Köln, aber auch sonst überall in Deutschland | |
| sagen Muslime: „Unser Islam ist das nicht, wir können und wollen nicht | |
| nachvollziehen, wie ihr behauptet, aus dem Koran ein solches Morden | |
| abzuleiten!“ Wir tun dies nicht nur, aber auch in unserem eigenen | |
| Interesse: Wir versuchen etwas, das uns so wichtig und eben heilig ist, | |
| zurückzufordern von denen, die es zu Mordinstrumenten verbiegen. Sobald man | |
| in die Nachrichtenportale schaut, wird man durch die Bluttaten und die | |
| Propaganda jener Leute in seinen Bemühungen gestört, die Segnungen des | |
| Ramadan zu empfangen. Ich empfinde es fast ein wenig so, als wollten diese | |
| Terroristen uns den Ramadan „stehlen“. | |
| Und noch mal die Erinnerung: Uns wird ja bloß der Ramadan gestohlen; | |
| anderen ihr Leben. Dieses gesamte Thema ist ein Minenfeld, metaphorisch | |
| gesprochen. Kurz nachdem ich derjenigen Europäer*innen gedacht habe, die in | |
| diesem Ramadan ihr Leben durch islamistischen Terror verloren, überlege | |
| ich: Wie viele Fastende starben eigentlich durch Angriffe von Drohnen? Oder | |
| durch weißen Extremismus? In London, wo Muslime auf dem Heimweg vom | |
| Nachtgebet gezielt mit einem Lkw angefahren wurden, wurde der Ramadan nicht | |
| „nur“ durch Muslime, sondern auch durch deren Feinde bedroht. | |
| Natürlich kann man die eine Form des Terrorismus nicht mit einer anderen | |
| aufrechnen, Tote nicht gegen Tote, und ich will sie auch nicht aufrechnen. | |
| Aber es schießen unzählige Argumente, Gegenargumente und Fragen aus mir | |
| heraus: Sind Terroristen überhaupt Muslime? Sind Menschen, die am Vorabend | |
| ihrer Bluttat alkoholisiert einen Stripclub besuchen, tatsächlich Muslime? | |
| Sind Teenager, die sich dem IS anschließen, so wie andere Egoshooter | |
| spielen, wirklich Muslime – oder einfach junge Menschen, die mit ihren | |
| Hormonen, ihrer Hoffnungslosigkeit und den widersprüchlichen Anforderungen, | |
| die die Erwachsenenwelt an sie stellt, nicht zurande kommen? Wurden die, | |
| die im Nahen Osten unter mit islamischen Formeln geschmückten Fahnen morden | |
| und vergewaltigen, wirklich von unterkomplex interpretierten Koranversen in | |
| ihrem Irrglauben bestärkt – oder wären sie unter ganz anderen Umständen | |
| vielleicht, keine Ahnung, antiterrestrische Marsianer geworden? | |
| War die RAF wirklich „links“ – arbeitet jemand, der Individuen „für die | |
| Sache“ ermordet, im Sinne einer zu befreienden Menschheit? Ist ein | |
| Philosoph, der sein Denken und Schreiben mit dem nationalsozialistischen | |
| Gedankengut treiben lässt, ja sogar aktiv am Ausheben des Flussbetts | |
| mitarbeitet wie Heidegger, ein Philosoph? Ist ein Mann, der Sohn oder | |
| Tochter sexuelle Gewalt antut, wirklich Vater? Sind „Vater“, „Philosoph�… | |
| „Muslim“ normative Begriffe oder soziologisch-deskriptive Kategorien? | |
| Reicht die Selbstbezeichnung zu ihrer Legitimation? | |
| Schon kann ich sie hören, die Stimmen, die sagen: „Sie versucht abzulenken, | |
| indem sie von einem Thema zum nächsten überwechselt …“ Aber ich versuche | |
| nicht abzulenken! Im Gegenteil, ich bemühe mich seit vielen Stunden und | |
| Tagen schon, beim Thema zu bleiben. Doch es gestaltet sich unmöglich. Darum | |
| habe ich den Plan aufgegeben, aus dieser Kolumne einen stringenten Text zu | |
| machen. Das Einzige, was ich anbieten kann, ist der Einblick in eine | |
| muslimische deutsche Seelenlage; das Durcheinander, das ich hier zeige, | |
| findet sich bei Abertausenden von deutschen Musliminnen und Muslimen. | |
| ## Selbstverteidigung | |
| Ich versuche es noch einmal anders. Erinnert sich jemand an Frantz Fanons | |
| Buch „Schwarze Haut, weiße Masken“? Ein Thema dieses antikolonialistischen | |
| Klassikers ist die internalisierte Selbstabwertung von Menschen, die dem | |
| Rassismus unterworfen sind. Von den Weißen werden sie als minderwertig | |
| stigmatisiert, aber sie können sich selbst nicht als vollwertig betrachten, | |
| ohne den Beweis unternehmen zu wollen, so zu sein wie die Weißen. | |
| Auf unser Thema übertragen: Ein Mensch, der viel Gegenwind von der | |
| Mehrheitsgesellschaft erfährt, ist so stark mit Selbstverteidigung | |
| beschäftigt, dass er kaum mehr zu richtigem Nachdenken findet; gleichzeitig | |
| hat er oder sie auch die bedrängenden, schmähenden, an Unterstellungen | |
| reichen Stimmen im Kopf. | |
| Wir Muslim*innen mit den nichtmuslimischen Masken, wir hören alle Stimmen | |
| auf einmal auf uns einprasseln. In uns. Die gläubig-muslimischen, die | |
| terroristisch-muslimischen, die antimuslimischen Stimmen. Wir hören die | |
| Erinnerung an das, was die Eltern einem über Religion, Menschlichkeit, | |
| Gottergebenheit und Frieden beigebracht haben, und das Echo der Nachrichten | |
| von neuerlichen Anschlägen. | |
| Wir fühlen uns unfair behandelt, weil die Medien anscheinend jeden | |
| gewalttätigen muslimischen Teenager als „Terroristen“, jeden weißen | |
| vierzigjährigen Gewalttäter aber als „geistig Verwirrten“ bezeichnen. | |
| Gleichzeitig wollen wir nicht überempfindlich oder paranoid werden. Immer | |
| öfter denke ich an die Stimme eines Imams, der mir neulich sagte: „Ich | |
| weiß, wir sollen an die Vorsehung glauben. Aber wenn ich mir das so | |
| anschaue, komme ich ins Zweifeln, ob das von Gott wirklich so geplant war.“ | |
| Ja, Stimmengewirr und Zank und Zweifel … Liebe Leserinnen und Leser, haben | |
| Sie irgendwie die Orientierung verloren? Ist dieser Text ein Labyrinth ohne | |
| den Faden der Ariadne? Gut, dann sind wir angekommen, hinter der Maske. | |
| 21 Jun 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Hilal Sezgin | |
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