# taz.de -- Hausbesuch Nach der Geburt wurde Hildegard Handke unter einen Stra… | |
Bild: Hildegard Handke liebt Bücher und freut sich mittlerweile, wenn sie welc… | |
von Luciana Ferrando undElisabeth Meyer-Renschhausen (Text) und Stefanie | |
Loos (Fotos) | |
Sie ist drinnen und draußen zu Hause: bei der Gärtnerin Hildegard Handke in | |
Berlin-Neukölln. | |
Draußen: Alte Mietskasernen und zweckmäßige 1950er-Jahre-Bauten stehen in | |
der holprigen Kopfsteinpflasterstraße im ehemaligen Berliner | |
Arbeiterbezirk. Die Straße mündet in eine Freitreppe und damit in die Weite | |
des riesigen Feldes, das der ehemalige Flughafen Tempelhof in Berlin heute | |
ist. Zwischen Landebahnen und Rasen, so scheint es, liegt Himmel. Am Rande | |
des Parks blühen die Gemeinschaftsgärten vom Allmende-Kontor, wo Hildegard | |
Handke ein Beet mit einer Nachbarin teilt. „Salat! Salat! Wer möchte | |
Salat?“, ruft eine Frau. | |
Drinnen: Jetzt ist Hildegard Handke erst mal in ihrer aufgeräumten | |
Zweizimmerwohnung mit Vogelhäuschen und Blumenkästen vorm Fenster. Außer | |
Büchern, Geweihen und Regenschirmen sammeln sich auch geflochtene | |
Weidenkörbe bei ihr – 90 Stück. Auf dem Tisch Instantkaffee und Kekse. Wenn | |
die Wohnung zu eng wird, wird das Leben in die Gemeinschaftsgärten auf dem | |
Feld verlegt. | |
Gartenarbeit: Im Schillerkiez-Garten, wo sie zuerst mitmachte, zeigte | |
Hildegard Handke „den Jungs“ – einer Gruppe älterer Männer – die Kuns… | |
Kompostierung, doch „sie machten nur Chaos“, sagt die Gärtnerin. Als 2012 | |
Paule, Hildegards Mann, starb, entdeckte sie die Allmende-Gärten auf dem | |
Tempelhofer Feld. Seither macht sie sich dort „nützlich“. Bei schönem | |
Wetter geht sie jeden Tag hin. „Dann quatsche ich mit allen.“ Jahrelang | |
fegte sie zudem die Freitreppe. Seit Januar macht sie das nicht mehr: Das | |
Knie, der Rücken tun weh. Sie wird 88. | |
Kindheit: Frisch auf der Welt, wurde Hildegard Handke nachts unter einen | |
Strauch gelegt. Die Mutter war verzweifelt, der Vater meldete sich nicht. | |
Herbst 1929 war das, auf dem Bahnhof in Dippoldiswalde in Sachsen. „Ich | |
hätte erfrieren können“, sagt sie. Aber sie wurde gefunden, kam ins | |
Waisenheim und später zu Pflegeeltern nach Pirna. In ihrer neuen Familie | |
habe ihr nichts gefehlt. „Mein Pflegevater war gut, er hat mir einen | |
Holzkindertisch gebaut.“ Auf dem Heimweg von der Schule wurde sie aber | |
geärgert. „Du kennst noch nicht einmal deine richtigen Eltern.“ Zuflucht | |
fand sie in Büchern. Zu Hause gab es nur die Bibel, aber sie besorgte sich | |
„Heidi“ und andere Geschichten dazu. | |
Männer auf Schiffen: Hildegard Handke wäre gerne weiter zur Schule | |
gegangen. „Muttel, bloß noch ein Jahr!“, bat sie weinend die Pflegemutter. | |
Doch die konnte den Schulbesuch nicht mehr finanzieren, der Pflegevater war | |
gestorben. Hildegard kam in eine Haushaltsschule, danach arbeitete sie zwei | |
Jahre als Köchin auf einem Dampfer der sächsisch-böhmischen | |
Dampfschiffgesellschaft. „Die Matrosen auf dem Schiff hatten in jeder Stadt | |
eine. Und verheiratet waren sie auch.“ Aber sie habe es geschafft, | |
respektiert zu werden. Trotzdem wurde ihr da als 15-Jähriger klar: „Ich | |
will nicht heiraten.“ Erst als sie ihren Paule traf, änderte sie die | |
Meinung. | |
In Sachsen: Nach dem Schiff arbeitete sie bei einem Landwirt. Dann | |
wechselte sie in ein volkseigenes Gut in Sachsen: Der Stundenlohn war | |
schlechter, aber es gab regelmäßige Arbeitszeiten und Urlaub. „45 Pfennig | |
haben wir bekommen, die Männer 50.“ Dort lernte sie ihren Mann kennen. „Mir | |
hat gefallen, dass er sachlich war und nicht kindisch wie andere.“ Ihr Mann | |
war sieben Jahre älter. Eine Schwäche hatte er aber: „Er hat nicht ein Mal | |
getanzt und ich tanzte leidenschaftlich.“ | |
In die Uckermark: Mitte der 1960er Jahre gingen sie von Sachsen auf ein | |
volkseigenes Gut im Norden bei Prenzlau in der Uckermark – wegen der | |
größere Wohnung, die sie dort bekamen. Die Löhne waren noch schlechter, | |
aber sie durften Tiere halten – sie hatten zwei Schweine. Einen Garten | |
pflegten die meisten ohnehin. Handke übernimmt den Kompost, der Mann | |
kümmerte sich um den Rest. Doch so einfach war das mit dem Kompost nicht. | |
„Die Amseln zogen immer die Würmer raus und machten Chaos.“ Chaos sei nicht | |
ihre Sache. | |
Druck: „Im Osten war immer ein Druck“, sagt Handke. Einmal stand sie auf | |
dem Acker mit 30 Frauen. Es war 7 Uhr, sie warteten, stundenlang warteten | |
sie. Doch die Männer mit den Treckern kamen nicht. Handke beschwerte sich. | |
„Das geht doch nicht!, habe ich gesagt. Aber das durfte ich nicht sagen.“ | |
Was danach passiert ist, erzählt sie nicht. Ihrer Tochter setzte der Druck | |
noch schlimmer zu. | |
Gefangen: Als junge Frau arbeitet die Tochter in der Nähmaschinenreparatur | |
in Cottbus. Sie habe zwei Mal vergeblich die Ausreise in den Westen | |
beantragt. „Lass das“, habe Handke ihr gesagt. Die Tochter wollte es nicht | |
lassen. Auf einem Messemarkt verteilte sie Flugblätter, wurde auf dem | |
Rückweg im Zug verhaftet und zu sechs Jahren Haft verurteilt. Sie kam ins | |
Gefängnis für politische Gefangene nach Hoheneck. Nach anderthalb Jahren | |
wurde sie in einem Bus voller Mitgefangener über die Grenze nach Westberlin | |
abgeschoben. Was auf den Flugblättern stand, weiß Handke nicht. „Was im | |
Gefängnis geschehen ist, ist tabu. Wir haben nie drüber gesprochen.“ | |
Wende: Als die Mauer 1989 fiel, war Hildegard Handke 60 Jahre alt. Sie | |
wurde, wie viele Landarbeiter der DDR, frühverrentet. Nach 36 Arbeitsjahren | |
und dem Aufziehen von zwei Kindern bekam sie – „nun ratet mal, was ich an | |
Rente bekam? – 345 Mark“, sagt sie. „So eine Ungerechtigkeit gegenüber | |
einer Lebensarbeitsleistung.“ Nach der Wende wurde auf dem Lande alles | |
abgebaut, die Leute gingen weg. Mit der Rente, die mittlerweile bei 700 | |
Euro liegt, und dann kommen noch 400 Euro Witwenrente ihres Mannes dazu, | |
habe sie gelernt, klarzukommen. „Ich kann nicht in die Oper, aber mir geht | |
es gut.“ | |
Stadtleben: Nach der Wende wollten Handke und ihr Mann nach Berlin ziehen, | |
wo die Tochter wohnte. Erst 2008 klappte es, sie bekamen die Wohnung im | |
Schillerkiez. Der Sohn blieb in Prenzlau. Dorthin zurück will Handke nicht, | |
sie findet das Stadtleben prima. Sie legte sich Bücher zu, mit Paule | |
zusammen machte sie bescheidene Reisen nach Italien, Tunesien, Mallorca. | |
„Das Landleben vermisse ich nicht ein bisschen“, sagt sie und nimmt den | |
Stock, um in die Allmende-Gärten zu gehen. | |
Das Glück: Das sei für sie vor allem Gesundheit. „Zufrieden bin ich, wenn | |
ich mal einen Teil meiner Bücher verschenken kann. Den Erich Kästner zum | |
Beispiel, den ich nicht so mag.“ Ein Nachbar, der in den Gärten Drachen | |
steigen lässt, hat sie bekommen. | |
Und was ist mit der Politik? Mit Angela Merkel? „Merkel ist zaghaft. Sie | |
muss zaghaft sein, sonst wird sie nicht anerkannt“, sagt Hildegard Handke. | |
Bei solchen Fragen müsse sie an ihren Mann denken. „Er konnte alles so gut | |
erklären! Politisch fehlt mir mein Mann. Ja, er fehlt mir.“ | |
27 May 2017 | |
## AUTOREN | |
Luciana Ferrando | |
Elisabeth Meyer-Renschhausen | |
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