# taz.de -- Infekt außer Kontrolle | |
> Sepsis Blutvergiftungen sind auf der Liste der Todesursachen die Nummer | |
> drei. Auch psychische Störungen, die zum Teil erst viel später auftreten, | |
> können die Folge eines Sepsis-Schocks sein | |
Jenny hatte sich schon öfter ein Loch ins Ohr stechen lassen, nie gab es | |
Probleme. Doch diesmal schwoll das Ohrläppchen an, verbreitete pochende | |
Schmerzen, und schließlich fieberte die 19-jährige Abiturientin und wirkte | |
fahrig. Die Mutter, eigentlich eine Anhängern der Homöopathie, zögerte | |
nicht und fuhr mit ihrer Tochter ins Krankenhaus. Was vermutlich eine weise | |
Entscheidung war. Denn für die Ärzte stand fest, dass bei Jenny eine Sepsis | |
drohte. Sie verabreichten ihr sofort Antibiotikainfusionen und behielten | |
die junge Frau zur Beobachtung. Vier Tage später wurde sie wieder | |
entlassen. | |
Jenny hatte Glück. Denn in etwa jedem vierten Fall endet die Blutvergiftung | |
tödlich, in Deutschland steht sie an dritter Stelle der Todesursachen. Und | |
es gibt keine Anzeichen für eine Trendumkehr oder gar Entwarnung. „Denn | |
prinzipiell kann jede Infektion zu einer Sepsis führen“, erklärt Markus | |
Weigand, Ärztlicher Direktor der Anästhesiologie am Universitätsklinikum | |
Heidelberg. Und die verbesserte Hygiene unserer Zeit bedeute ja nicht, dass | |
keine Keime mehr in den Körper gelangen. Im Gegenteil. „Heute sind | |
Operationen möglich, die früher undenkbar waren“, so der Mediziner. Ganz zu | |
schweigen davon, dass die Menschen immer älter werden, mit einem | |
entsprechend schwachen Immunsystem, das die Krankheitserreger nicht mehr | |
eindämmen kann. | |
Womit der wesentliche Mechanismus einer Sepsis beschrieben ist. Sie beginnt | |
in der Regel damit, dass Mikroorganismen wie Pilze oder Bakterien in den | |
Körper eindringen. Wobei der Ort dieses Vorgangs nicht unbedingt | |
nachvollziehbar oder sichtbar sein muss. Viele denken bei einer | |
Blutvergiftung an einen rostigen Nagel, der die Haut geritzt, oder an eine | |
Schürfwunde, die man sich auf dem schlammigen Fußballplatz zugezogen hat. | |
Tatsächlich jedoch wird sie öfter durch Darm-, Blasen- und | |
Lungenentzündungen oder Bagatellverletzungen ausgelöst. „Ihre Ursachen sind | |
oft unspektakulär, das macht sie so heimtückisch“, warnt Weigand. | |
Meistens gelingt es der Immunabwehr, das Infektionsproblem noch an Ort und | |
Stelle zu erledigen. Doch manchmal eben auch nicht und die | |
Wahrscheinlichkeit dafür steigt mit einer Schwächung des Immunsystems, etwa | |
infolge einer Krankheit oder auch des fortgeschrittenen Alters. „Dann | |
geraten die Erreger und die Botenstoffe der aktivierten Immunabwehr in den | |
Blutkreislauf“, erläutert Weigand, „sodass sie sich im gesamten Körper | |
verteilen können.“ In der Folge kommt es zu einer umfassenden | |
Entzündungsreaktion, die binnen weniger Stunden in einem multiplen | |
Organversagen ausmünden kann. Die Medizin spricht dann von einem septischen | |
Schock. | |
In diesem Zustand geht es eigentlich nur noch darum, dem Patienten dabei zu | |
helfen, das biochemische Chaos in seinen Blutbahnen und Organen | |
durchzustehen. Beispielsweise, indem man mit künstlicher Beatmung die | |
Sauerstoffversorgung sicherzustellen oder per Dialyse den Ausfall der | |
Nieren zu kompensieren versucht. Trotzdem fehlen einigen Patienten nach | |
einer Sepsis ein Finger oder Bein, weil man sie nicht mehr retten konnte, | |
und 150.000 Menschen pro Jahr kostet sie das Leben. | |
Oft unterschätzt werden zudem die psychischen Langzeitfolgen, die ein | |
Sepsis-Schock hinterlassen kann. „Wir wissen, dass mehr als ein Fünftel der | |
Überlebenden eine posttraumatische Belastungsstörung entwickelt und auch | |
die Lebenspartner der Patienten sehr oft betroffen sind“, berichtet Jenny | |
Rosendahl vom Zentrum für Sepsis und Sepsisfolgen der Universität Jena. Die | |
Störung zeige sich beispielsweise durch Albträume und Schlafstörungen sowie | |
Konzentrationsschwäche und Schreckhaftigkeit. Wobei es durchaus sein könne, | |
so die Psychologin, dass sich diese Störungen „erst einige Monate später | |
zeigen, nachdem das Schlimmste überwunden ist“. | |
Gründe genug also, die Blutvergiftung frühzeitig zu erkennen. Viele Laien | |
kennen den roten Striemen auf der Haut als typisches Symptom. Dabei zeigt | |
er zunächst nur an, dass die Lymphbahnen befallen sind, ist also noch kein | |
Hinweis auf eine körperumfassende Sepsis. Doch sofern er sich ausdehnt, | |
möglicherweise sogar in Richtung Herz erstreckt, sollte in jedem Falle das | |
Krankenhaus aufgesucht werden. „Weitere Frühsymptome sind Fieber, | |
Schüttelfrost und eine beschleunigte Atmung“, erläutert Weigand, „außerd… | |
macht der Patient oft einen verwirrten Eindruck.“ Und wenn sein Blutdruck | |
absackt und er keinen Urin mehr abgibt, sind das Anzeichen eines | |
Organversagens. | |
Wissenschaftler um den Anästhesiologen Manfred Thiel von der Uniklinik | |
Mannheim forschen an einem automatischen Frühwarnsystem für Sepsis. Die | |
Basis dazu bilden Patientendaten, die in den letzten Jahren auf | |
Intensivstationen gesammelt wurden. Durch ihn konnten die Forscher die | |
diversen Veränderungen identifizieren, die einer Blutvergiftung in der | |
Regel vorangehen. Ein erster Testlauf mit dem daraus abgeleiteten | |
Algorithmus war vielversprechend, er kam in acht von zehn Sepsis-Fällen zu | |
einer korrekten Diagnose. Jörg Zittlau | |
28 Apr 2017 | |
## AUTOREN | |
Jörg Zittlau | |
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