# taz.de -- Referendum im Südosten: „Du hast gesiegt, aber ich hatte Recht“ | |
> In den Orten, in denen lange Zeit Ausgangssperren herrschten, waren die | |
> „Nein“-Stimmen am höchsten. Eindrücke vom Sonntag in Diyarbakır. | |
Bild: Am Sonntag in Diyarbakır. | |
Die seit Monaten unter ungleichen Bedingungen laufenden | |
Referendumskampagnen sind beendet. Nach einer womöglich schlaflosen Nacht | |
sind die Bewohner von Diyarbakır am Sonntagmorgen aufgewacht und begeben | |
sich an die Wahlurnen. Jede*r von ihnen mit einer eigenen Geschichte im | |
Gepäck. | |
Manche haben ihre Jobs verloren, andere ihre Angehörigen. Viele haben noch | |
den Geruch der in Cizre in Brand gesteckten Bürger*innen in der Nase, | |
einige sind nach der Zerstörung in Sur obdachlos. Alle wissen von Taybet | |
Ana, deren Leiche eine Woche lang auf den Straße von Silopi lag und nicht | |
beerdigt werden durfte, weil Ausgangssperren herrschten. Alle wissen von | |
Cemile, deren Leichnam vier Tage im Tiefkühler lagerte, damit sie nicht zu | |
riechen begann. So kommen viele Wähler*innen an die Urne auch mit der | |
Hoffnung, dass sich all diese Dinge nicht wiederholen werden. | |
Diyarbakır ist ruhig am Sonntag, auffällig ruhig. Journalist*innen, die | |
sich am Morgen zu den Wahllokalen begeben, müssen sich der polizeilichen | |
Willkür beugen, viele dürfen gar nicht erst rein. Von den lokalen Medien | |
sind sowieso nicht viele übrig geblieben, nach und nach wurden sie in den | |
vergangenen Monaten durch Notstandsdekrete geschlossen. | |
## Hohe Wahlbeteiligung in Sur | |
Die am 11. Dezember ausgerufenen Ausgangssperren im Bezirk Sur dauern in | |
vier Wohnvierteln immer noch an. Cemal Yılmaz, Savaş, Hasırlı, Fatihpaşa �… | |
wir nennen sie zwar immer noch Wohnviertel, in Wahrheit ist nichts mehr von | |
ihnen übrig. Rund 24.000 Bewohner*innen mussten zwangsläufig in anderen | |
Bezirken und Städten unterkommen. Für diese wurden neue Wahllokale in Sur | |
eröffnet, wo sie immer noch gemeldet sind. | |
Einige der umgesiedelten Bewohner*innen müssen lange Wege zurück legen, | |
wenn auch ohne das nötige Reisegeld. Die Wahlbeteiligung ist dennoch | |
äußerst hoch. Die Stimmenabgabe dient auch dazu, dass sich alte | |
Nachbar*innen wiedersehen und umarmen können. | |
Auch wenn vielen Wähler*innen anzusehen ist, wofür sie gestimmt haben, | |
wollen nur wenige offen darüber sprechen. “Wir haben für uns gestimmt“, | |
sagen einige, die ich befragte. Für 67.704 Wähler*innen gibt es in Sur 217 | |
Wahlurnen. Rund 54.000 Stimmen werden abgegeben. Am Sonntagabend wird | |
bekannt, dass in Sur 64,94 Prozent mit “Nein“ und 35,06 Prozent mit “Ja“ | |
gestimmt haben. | |
## Boykott-Aufrufe | |
Ich treffe im Laufe des Tages auch Wähler*innen, die mit “Ja“ gestimmt | |
haben. Einer von ihnen ist ein Mann um die 60, der nach der Abgabe seiner | |
Stimme in einer Teestube in Dağkapı sitzt. Er erklärt, dass das | |
parlamentarische System während der gesamten Geschichte der Republik den | |
Kurden nichts als Sorgen bereitet habe, während ein allein herrschender | |
Präsident – wenn auch nur zum eigenen Vorteil – ein bundesstaatliches | |
System errichten könne, das den Kurden mehr Autonomie einräumt: “Ich bin | |
keiner Partei zugehörig. Ich bin nur ein normaler Bürger, der sich | |
deutliche Grenzen und einen festen Status für die Kurden wünscht.“ | |
Kurz vor den Wahlen hatten kurdische Parteien wie die PSK und PAK geäußert, | |
dass weder “Ja“ noch “Nein“ eine passende Option für die Kurden sei �… | |
hatten damit offen zum Boykott aufgerufen. Die kurdisch-islamistische | |
Partei Hüda Par hatte sich dagegen für ein “Ja“ ausgesprochen. | |
Nach der Schließung der Wahllokale um 16 Uhr begeben sich die | |
Bewohner*innen Diyarbakırs vor die Fernseher in den Parteizentralen, den | |
Cafés und ihren Wohnungen. In der ansonsten stets überfüllten Teestube | |
Yüksek Kahve ist allerdings wenig los. Nur ein paar junge Wähler*innen | |
sitzen herum und diskutieren. | |
Als die Veröffentlichung der Wahlergebnisse im Fernsehen beginnt, fangen | |
manche an zu fluchen, andere lassen ihren Frust an der Wasserpfeife aus. | |
“Sie haben wieder nur mit allen möglichen Tricks gewonnen“, sagt ein Mann | |
und verlässt wütend das Café. Einer jungen Frau, die extra aus Istanbul | |
angereist ist, um ihre Stimme hier abzugeben, stehen die Tränen in den | |
Augen. Ihre Freund*innen und sie beginnen das Land so präzise zu | |
analysieren, wie es heute kaum ein türkischer Politiker hinbekommt. | |
## „Nein“ wurde kriminalisiert | |
Cengiz, ein arbeitsloser Lehrer, sagt: “Die hatte nur einen einzigen Grund | |
mit ‚ja‘ zu stimmen, wie hatten tausend Gründe für unser ‚Nein‘. Doch | |
allein das auszusprechen, wird schon kriminalisiert.“ Der junge Mann | |
fürchte, dass sich die Spannungen innerhalb der Gesellschaft noch weiter | |
verschärfen könnten, da schon die Kampagnen im Vorfeld mit einer | |
Kriegslogik geführt worden seien. | |
“Die Gespräche mit der EU werden komplett abreißen und wir werden in einer | |
Diktatur leben. Sie werden die Oppositionellen zum Schweigen bringen,“ | |
prophezeit Cengiz. | |
Ein Student namens Şahin erzählt von der Einschränkung seiner | |
Bewegungsfreiheit mit folgenden Worten: “Ich habe es satt, ständig von der | |
Polizei angehalten zu werden, weil ich eine Tasche bei mir trage. Kürzlich | |
wurde ich aus dem Bus heraus geholt. Der Polizist hat meine Bücher gesehen | |
und gefragt, was das ist. Es ist wie ein schlechter Witz. Obwohl ich dieses | |
Land liebe, will ich hier nicht mehr leben. Ich muss nur einen Weg finden, | |
zu gehen.“ | |
In der Region Diyarbakır, die mit 67 Prozent für „Nein“ stimmte, lag die | |
Wahlbeteiligung beim Referendum bei 81 Prozent. Rund 25.000 Stimmen wurden | |
am Sonntag für ungültig erklärt. Vor allem in südöstlichen Wahlkreisen wie | |
Sur, Cizre, Şırnak, İdil, Yüksekova, wo lange Ausgangssperren herrschten, | |
lagen die “Nein“-Stimmen sehr weit vorne. Dabei hatten Ministerpräsident | |
wie Staatspräsident bei ihren Wahlauftritten im Südosten über | |
Anschuldigungen der prokurdischen linken Partei HDP um Stimmen gebuhlt. | |
Trotz der unfairen Methoden und spalterischen Sprache der Regierung, trotz | |
ihrer immensen Ressourcen und trotz der Entmachtung vom Volk gewählter | |
Abgerodneter Bürgermeister konnte die “Nein“-Mehrheit hier in Diyarbakır | |
nicht verhindert werden. Doch auf der anderen Seite hat die Regierung trotz | |
dem Verlust der drei größten Städte und den Wahlanfechtungen von Seiten der | |
Opposition “gesiegt“. | |
Die Wähler*innen von Diyarbakır halten es mit Brecht und sagen: “Du hast | |
gesiegt, aber ich hatte Recht“. Denn sie wissen, dass es nicht reicht zu | |
siegen, wenn der Sieg nicht verdient ist. | |
17 Apr 2017 | |
## AUTOREN | |
Bircan Değirmenci | |
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