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# taz.de -- Abgeordnete über das Referendum: „Ja bedeutet Chaos“
> Die AKP-Regierung erwartet beim „Nein“ den Ausbruch eines Bürgerkriegs.
> Wir sprachen drei Oppositionspolitiker*innen, die das Gegenteil glauben.
Bild: Wahlurne im Konsulat von Athen.
Was wird in der Türkei nach dem Verfassungsreferendum am Sonntag passieren?
Wenn die Regierungspartei AKP und der Palast des Staatspräsidenten von der
Bedeutung des “Ja“ erzählen, sprechen sie immer wieder von “Zukunft und
Unabhängigkeit“. Viele Menschen verstehen gar nicht, wovon die Rede ist,
wenn die Rede von der “Großen Türkei“ ist und auf den Befreiungskrieg
angespielt wird.
Auf der anderen Seite soll das Volk zum “Ja“ bewegt werden, indem ständig
wiederholt wird: “Die Wirtschaft wird wachsen, es wird Stabilität
herrschen, der Terror wird aufhören. An dieser Stelle aber fragt sich die
Gesellschaft: “Regiert nicht die AKP seit 15 Jahren allein? Warum wurden
diese Versprechungen nicht schon früher eingehalten?“
Im Ja-Paket der AKP befindet sich noch ein Geschenk: die Einführung der
Todesstrafe. Wenn es zu einem “Ja“ kommt, wird also auch der Tod
versprochen.
Im Falle eines “Nein“ wiederum ist häufig die Rede von “Chaos.“ Im Gru…
will man die Haltung des Volkes manipulieren, in dem man mit dem Ausbruch
eines Bürgerkriegs droht.
Doch wie sieht die Opposition diese Kriegs- und Stabilitäts-Szenarien der
AKP? Was wird in der Türkei geschehen bei einem “Ja“? Was bei einem “Nei…
Wir sprachen mit drei Vertretern der Oppositionsparteien, die die
“Nein“-Kampagnen seit Monaten vorantreiben.
Die CHP-Abgeordnete und Anwältin Şenal Sarıhan, 69, aus Ankara sieht es so:
“Wenn es zu einem ‚Nein‘ kommt, wird das eine Lektion sein, die das Volk
der Regierung erteilt – ein Aufstand gegen den Unterdrücker. Wir haben
versucht, das Volk zu organisieren, und haben den Solidaritätsgeist einen
Schritt vorangetrieben. Während der gesamten Kampagne haben wir trotz all
der hässlichen Angriffe, unsere Art zu sprechen nicht aufgegeben. Unseren
Respekt für Menschenrechte haben wir kein bisschen eingebüßt.
Natürlich haben wir bestimmte Sorgen, wenn wir an die Parlamentswahlen von
2015 zurückdenken (die von der AKP für ungültig erklärt wurde, Anm. d.
Red.). Die Regierung bereitet die Basis für potenzielle Gefechte vor. Doch
ich glaube, das Volk wird da nicht mitspielen. Auch während der vergangenen
Wochen gab es viel weniger Spannungen zwischen den beiden Lagern, als wir
angenommen hatten. Unsere Gesellschaft zeigt keinerlei Tendenzen zum
Bürgerkrieg.
Ich habe in den vergangenen Monaten, eine neue Gezi-Bewegung beobachtet.
Menschen aus unterschiedlichen politischen Lagern haben zusammengearbeitet,
ganz vorne standen dabei die Frauen. Es gibt gesellschaftliche Dynamiken,
die nicht von Parteien angeführt werden, die singen und sich solidarisieren
und sich mit sehr kreativen Strategien auf den 16. April vorbereiten.
Selbst wenn es zu einem ‚Ja‘ kommt, ist das also keine Niederlage für uns.
In jedem Fall werden wir gewonnen haben, eigentlich haben wir längst
gewonnen. Wir werden nämlich weiterkämpfen.“
Die Anwältin und HDP-Abgeordnete in Istanbul, Filiz Kerestecioğlu, 56,
sagt:
“Wir haben keinerlei Bedenken. Die Türkei ist längst über ihre Ängste
hinausgewachsen. Obwohl der Putschversuch im vergangenen Sommer gescheitert
ist, erleben wir gerade eine Putsch-Ära. Doch der Druck hat seine Grenzen.
Diese Taktik des Spaltens und des Angstmachens ist nun am Ende angelangt.
Uns erwartet eine große Wirtschaftskrise, die Arbeitermorde (politischer
Begriff, der Arbeitsunfälle bei vorsätzlichen Sicherheitslücken beschreibt,
Anm. d. Red.) nehmen kein Ende. Unsere Soldaten werden in Syrien bei
lebendigem Leib verbrannt. Die Regierung will nicht auf ihre
Kriegsbeteiligung in Syrien verzichten. Und dennoch versuchen sie mit
Drohungen wie ‚Das Chaos wird ausbrechen!‘ das Land weiterzuregieren. Ist
die AKP nicht das Chaos selbst?
Der Ausbruch eines Bürgerkriegs ist in der Türkei keine Option. Wenn es zu
einem ‚Nein‘ kommt, wird das Chaos wahrscheinlich innerhalb der AKP
ausbrechen. Wir allerdings werden uns weiterhin solidarisieren. Die Türkei
wird dann vielleicht endlich die demokratische Verfassung bekommen, die das
Land nötig hat. Natürlich geht das nicht wie von Zauberhand von einem Tag
auf den anderen. Das Land wird sich Schritt für Schritt normalisieren.
Die Legitimation des jetzigen Verfassungsentwurfs, der uns als ‚freiere
Verfassung‘ vorgelegt wird, muss hinterfragt werden. Die kritischen Stimmen
aus der Gesellschaft werden immer lauter. Zwar wurden uns Medien aus den
Händen gezerrt, aber dafür kommunizieren wir jetzt direkter, von Angesicht
zu Angesicht. Trotz all dem Druck geben wir unseren Widerstand nicht auf.“
Der MHP-Abgeordnete Ümit Özdağ, 56, der die neue Verfassung, anders als die
Mehrheit seiner Partei, nicht unterstützt, äußert sich wie folgt:
“Wenn es zu einem ‚Nein‘ kommt, heißt das nicht, wie viele annehmen, dass
die AKP direkt ihre Mehrheit im Parlament verlieren und sich auflösen wird.
Natürlich kann es zu Rissen innerhalb der Regierungspartei kommen.
Ministerpräsident Binali Yıldırım wird gestärkt aus dieser Entscheidung
hervorgehen.
Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan wird hingegen das Ergebnis und die ihm
aufgezeigten Grenzen hinnehmen können. Der Wirtschaftskrise kann mit der
Zeit entgegengewirkt werden. Wo es eine Gewaltenteilung gibt, wird auch das
ausländische Kapital weiterhin bleiben.
Wenn es jedoch zu einem ‚Ja‘ kommt, kann man sagen, dass die Türkei sich
nach 250 Jahren gemeinsamer Beziehungen vollkommen vom Westen entfernen
wird. Die EU-Beziehung und die unfaire Behandlung der Türkei ist etwas, das
ich sehr häufig kritisiere.
Jedoch können wir nicht alle Gespräche abbrechen. Und mit dem Abschied des
ausländischen Kapitals aus der Türkei, werden die Gespräche beendet sein.
Die Auslandsschulden werden steigen, die Wirtschaft wird zusammenbrechen.
Wenn das Ergebnis des Referendums ‚Ja‘ lautet, wird die Türkei in jeglicher
Hinsicht ganz unten angekommen sein. Wir sehen es jetzt schon: In kürzester
Zeit haben sechtausend Menschen, deren Jahreseinkommen über einer Million
US-Dollar liegt, das Land verlassen. Es gibt eine große Auswanderungswelle.
Das wird sich noch weiter verstärken. Letztes Jahr gab es die meisten
Green-Card-Bewerbungen in der Geschichte der türkischen Republik.
Bei einem ‚Ja‘ wird den Syrern womöglich die Staatsangehörigkeit gegeben.
Die Demografie wird sich schnell verändern. Der Wunsch, die Wirtschaft
kurzfristik zu entlasten, wird zu großen Zugeständnissen an Europa führen.
Die Auflösung von Türkischen Republik Nordzypern wird vorangetrieben und
nationale Interessen werden übergangen werden. Es wird das Ende des
Rechtsstaats sein.“
## Zusammenfassung
Wenn die Mehrheit mit “Ja“ stimmt:
-Die Unabhängigkeit der Justiz und die Freiheiten des Volkes werden noch
mehr eingeschränkt.
-Die Wirtschaft bricht zusammen, Auslandsschulden gehen in die Höhe.
-Kapital- und intellektuelle Auswanderung weiten sich aus.
-Demografischer Wandel erfolgt durch Einbürgerung von Syrern.
-Die aufgezwungene Verfassung wird von vielen gesellschaftlichen Gruppen
nicht akzeptiert.
-Die Beziehungen zum Westen reißen komplett ab.
-Aufgrund der illegitimen Verfassungsänderung und der Spannungen in
Wirtschaft und Justiz kommt es zu sozialen Unruhen.
-Die Unfähigkeiten der Regierung vertiefen sich.
-Die Opposition ist ermutigt von ihrer Referendumskampagne und führt den
Widerstand fort.
Wenn die Mehrheit mit “Nein“ stimmt:
-Entgegen den Prognosen der AKP-Regierung bricht kein Bürgerkrieg aus, denn
das Volk zeigt keine solchen Tendenzen.
-Es kommt zu Machtkämpfen innerhalb der Regierungspartei AKP.
-Nichts ändert sich von einem Tag auf den anderen, jedoch ist die
Bevölkerung ermutigt von ihrem Erfolg und wird mehr politische Teilhabe
einfordern.
-Gesellschaftliche Solidarität intensiviert sich.
-Der Weg ist geebnet für eine wirklich demokratische und pluralistische
Verfassung.
-Der Staatspräsident wird die ihm aufgezeigten Grenzen akzeptieren müssen,
der Ministerpräsident ist gestärkt.
-Die wirtschaftliche Situation entschärft sich Schritt für Schritt.
-Die Bevölkerung bezwingt die Angstmache und setzt sich für mehr
Bürgerrechte ein.
-Bis zur nächsten Wahl werden demokratische Interessen formuliert, die die
Regierung nicht mehr außer Acht lassen kann.
14 Apr 2017
## AUTOREN
Erk Acarer
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