| # taz.de -- Dreijährige Galgenfrist für Kisch & Co. | |
| > Gentrifizierung Vorerst kann die Buchhandlung in der Oranienstraßein | |
| > Kreuzberg noch bleiben. Was aberkein Ende der Verdrängung bedeutet | |
| Bild: Die umliegende Geschäfte zeigen sich solidarisch | |
| von Gabriele Goettle | |
| „Unser Ziel ist der Aufbau eines vielfältigen Immobilienportfolios, mit | |
| charaktervollen Bauten, als langfristige Vermögensanlage. Immobilien sind | |
| für uns dabei mehr als nur ein Investment, Architektur, Ästhetik und Kunst | |
| interessieren uns ebenso wie der ‚cashflow‘.“ | |
| Nicolas Berggruen | |
| Thorsten Willenbrock, Buchhändler. Geboren 1965 in Buchholz/Harburg, dort | |
| Besuch d. Gymnasiums, 1984 Abitur. Nach d. Zivildienst 1987 Studium d. | |
| Geschichte u. Slawistik. Danach diverse Jobs. Auch als Aushilfe bei der | |
| berühmten Wohlthat’schen Buchhandlung, was für ihn zum Einstieg in d. | |
| Buchhandel wurde. 1998 kam er durch Vermittlung eines ehemaligen Kollegen | |
| zur Buchhandlung Kisch & Co. in Berlin Kreuzberg, wo er bis heute arbeitet. | |
| Seit 3 ½ Jahren ist er Mitinhaber. | |
| Ich bin mit Thorsten Willenbrock am frühen Morgen im Laden von Kisch & Co. | |
| verabredet. Die Traditionsbuchhandlung liegt in der Oranienstraße 25 in | |
| Berlin-Kreuzberg, hat zwei sehr schöne große Schaufenster und ein Schild | |
| über der Ladentür mit dem Porträt von Egon Erwin Kisch. Hinter Glas hängt | |
| ein Zettel, auf dem Kunden und Leute aus dem Kiez darüber informiert | |
| werden, dass die Gentrifizierung nun auch Kisch & Co. erreicht hat. Weil | |
| der Mietvertrag nicht verlängert wurde, muss der Laden zum 31. 5. | |
| schließen. Alle werden eingeladen, zum Kiezplenum im SO36 zusammenzukommen. | |
| Thorsten Willenbrock schließt auf mein Klopfen hin die Glastür auf und | |
| bittet mich mit einer einladenden Geste hinein. Es riecht nach Papier. Die | |
| Bücher dämmern noch in ihren Regalen dahin, Kunden kommen erst um 10 Uhr. | |
| Er sagt: „Ich mache mal das Licht nicht an, damit nicht Kunden denken, es | |
| sei geöffnet.“ Wir setzen uns auf die kleinen Stühlchen in der | |
| Kinderbuchabteilung, umgeben von lustigen Titelblättern, was so gar nicht | |
| zum Anlass meines Besuches passen will, denn hier geht es um die nackte | |
| Existenz. Nach einem Schluck Kaffee und einigen sarkastischen Bemerkungen | |
| beginnt Thorsten zu erzählen: | |
| „1997 hat mein Kollege von Wohlthat, Frank Martens, hier den Laden | |
| eröffnet, zuerst nur mit modernem Antiquariat. Das haben wir ja immer noch. | |
| Ganz in der Nähe, Wiener Straße 17, das macht jetzt er, und ich bin hier. | |
| Seit 3 ½ Jahren bin ich ja, wie gesagt, Mitinhaber. Frank Martens hatte | |
| mich damals, am 1. 1. 1998, hierher nachgeholt. Ehemals war es ja so, dass | |
| hier Elefantenpress (1971 gegründeter linker Verlag, Anm. G.G.) drin war, | |
| mit Büchern und Galerie, das wissen vielleicht viele nicht mehr. | |
| Frank Martens hat dann bald festgestellt, dass es hier einen Bedarf gibt an | |
| neuen Büchern. So ist dann nach und nach im Laufe der Zeit entstanden, was | |
| heute ist. Hier haben wir nun eine Sortimentsbuchhandlung mit einem guten | |
| Spektrum, das reicht von Kinderbüchern über Reiseführer, Berlinensia, viele | |
| Fotobücher, Kunstbände, etwas zum Film, zum Thema Kochen, viel | |
| Belletristik, bis hin zu Politik und Geschichte. Dort hinten ist die | |
| politische Abteilung, daneben sind die Geisteswissenschaften. Und dann | |
| haben wir selbstverständlich ein recht umfangreiches Angebot an | |
| Zeitschriften. Also das ist sehr lebendig alles und man merkt, dass die | |
| Buchläden, die es hier gibt, gebraucht werden. | |
| Wie haben natürlich die jeweiligen Veränderungen hier im Bezirk auch im | |
| Laden gespürt. 1997 ist die Situation nicht sehr gut gewesen, denn nach dem | |
| Mauerfall hatten die Leute dann allmählich das Umland entdeckt und zogen | |
| weg, und es gab eine Abwanderungsbewegung von Kreuzberg in die Ostbezirke, | |
| nach Mitte und Prenzlauer Berg. Es war ja auch die Zeit der | |
| Hausbesetzerbewegung im ehemaligen Ostteil der Stadt, es gab dort | |
| Clubgründungen, neue Läden, also Entwicklungen, die sehr spannend waren. | |
| Der Kiez hier bekam einen fast dörflichen Charakter, hat aber natürlich | |
| nicht aufgehört mit seinen politischen Bewegungen. Man kannte fast jeden, | |
| der hier in den Laden kam. Wenn man aus dem Haus ging, hat man Hallo | |
| gesagt. | |
| Das hat eine ganze Zeit lang gedauert, dann zogen viele wieder vom Ostteil | |
| der Stadt zurück nach Kreuzberg, denn die ganze Szene, die sich entwickelt | |
| hatte, war zum Stillstand gekommen, alles war verteilt, erreicht, | |
| gesättigt. Es gab schon das Schlagwort: ‚Raus mit den Schwaben!‘ Und wenn | |
| man da heute langläuft, sieht man das ja auch. Alles ist durchorganisiert | |
| und säuberlich, ziemlich saturiert, wenig Freiraum. Es gab einfach wieder | |
| mehr Interesse an Kreuzberg. Wer ein bisschen mehr quirliges Leben haben | |
| wollte, der kam zurück. Das war ein allmählicher Prozess. Es kamen auch | |
| mehr Touristen und Studenten. Wir merkten das im Laden, an der Nachfrage. | |
| Wir spüren ja eigentlich alle politischen Ereignisse hier im Laden, auch in | |
| Form der Nachfrage. Die Finanzkrise 2008 damals brachte eine größere | |
| Nachfrage mit sich nach Politik und Geschichte. Und heute, wo sich die | |
| beschriebene Einwirkung auf den Kiez verstetigt hat und unheimlich viele | |
| Touristen nach Kreuzberg kommen, ist der Bedarf an Führern und | |
| Berlin-Literatur entsprechend gestiegen. Und wir haben, was ich vergessen | |
| habe zu erwähnen, auch englische Bücher und wir überlegen uns gerade, ob | |
| wir das ausbauen. Aber ansonsten wollen wir eigentlich nichts ändern an | |
| unserem Sortiment. Und auch nichts an den Öffnungszeiten. Wir haben von 10 | |
| Uhr bis 20 Uhr geöffnet und draußen füllt es sich erst später. In dem | |
| Zusammenhang wollte ich noch sagen: Wir hören jetzt auch immer wieder | |
| Stimmen, auch von Kunden, die sagen: ‚Also in die Oranienstraße gehe ich | |
| eigentlich gar nicht mehr so gerne, da sind mir zu viele Touristen.‘ Wenn | |
| man abends hier langgeht – es gibt inzwischen zahllose Kneipen und Cafés –, | |
| dann ist tatsächlich oft alles gerammelt voll und das sind dann | |
| meistenteils Touristen, auf der Suche nach dem Flair, das dann aber | |
| hauptsächlich aus ihnen selbst besteht.“ Wir lachen und trinken etwas | |
| Kaffee, dann fährt er fort: | |
| „Also vom Laden her gesehen, und auch mit Blick auf die Straße und den | |
| Kiez, sind das die wichtigsten Entwicklungen, die wir so genommen und | |
| wahrgenommen haben. Und jetzt komme ich zu den Problemen, die wir konkret | |
| haben, ich versuche mal kurz chronologisch wiederzugeben, was war. Also der | |
| Milliardär Berggruen, der überall auf der Welt unter anderem Immobilien | |
| aufkauft, hat seit vielen Jahren auch eine Niederlassung seiner Berggruen | |
| Holdings in Berlin – der Hauptsitz ist in New York –, und hier und in | |
| Potsdam hat er seither zahlreiche Immobilien in seinen Besitz gebracht, | |
| darunter auch die Gebäude des Gewerbehofes, in dem wir uns befinden“ (siehe | |
| die Webseite der Berggruen Holdings: www.berggruenholdings.de/). | |
| „Er hat das Gebäude so vor 7 oder 8 Jahren gekauft und Herr Martens hat vor | |
| 5 Jahren schon einmal Verhandlungen geführt, mit der Holding. Man traf sich | |
| mit einem Herrn Brauns, Asset Manager des Unternehmens, man hat Kaffee | |
| getrunken, geredet. Danach gab es dann eine Mieterhöhung, die aber noch so | |
| im Rahmen war und über die man sich einigte. Der Vertrag, der vor 5 Jahren | |
| gemacht wurde, sah vor, dass er automatisch ausläuft und man sich | |
| spätestens 6 Monate vor dessen Ablauf zu neuen Verhandlungen trifft. Dieses | |
| Treffen mit uns fand im November 2016 statt, hier im Laden, wiederum mit | |
| Herrn Brauns. Herr Martens hat unsere Situation geschildert, dass wir | |
| umsatzmäßig zu leiden haben unter E-Books, unter dem Internet-Versandhandel | |
| und unter der Touristifizierung. Sie gingen dann und haben gesagt, dass sie | |
| uns ein Angebot per E-Mail schicken. Das kam am 21. November und sie boten | |
| uns eine Nettokaltmiete von20 € pro qm an plus einer vorgesehenen | |
| jährlichen Mietsteigerung entsprechend der Inflationsrate. Der Vertrag wäre | |
| für 5 Jahre gewesen. | |
| Wir haben denen dann zu erklären versucht, dass unsere Umsätze ja nicht | |
| steigen – aber das ist nicht deren Problem –, also haben wir ihnen eine | |
| Erhöhung unserer Miete im Rahmen unserer Möglichkeiten um 4,5 % | |
| vorgeschlagen. Bevor wir das gemacht haben, sind wir hier die Straße | |
| langgegangen und haben gefragt: ‚Was zahlt ihr denn eigentlich?‘ Und das | |
| war Netto kalt mit 18 € schon die teuerste Miete gewesen, die anderen | |
| zahlten zwischen11 € und 17 €. Wir zahlen derzeit 17,20 €. Das haben wir | |
| dann geschrieben und darauf hingewiesen, wie hier die Marktlage ist. Sie | |
| sprechen ja gern von der Marktlage. Sie dankten schriftlich für das Angebot | |
| und wollten sich im Januar 2017 wieder melden. Dann kam das | |
| Weihnachtsgeschäft und wir haben es aber immer im Hinterkopf gehabt. Am 6. | |
| Januar bekamen wir dann eine E-Mail, in der stand: Wie im Vertrag | |
| vorgesehen, läuft er zum 31. 5. 2017 aus. | |
| Es hat uns wie ein Blitzschlag getroffen. Das war für uns eine äußerst | |
| unangenehme Überraschung, ein Schock! Wir sind ja davon ausgegangen, dass | |
| noch verhandelt wird. Jetzt standen wir plötzlich vor der fast ausweglosen | |
| Situation, innerhalb so kurzer Zeit einen ganzen Buchladen räumen zu | |
| müssen, bestenfalls umzusiedeln. Das ist ein Riesenproblem. Wir haben dann | |
| noch hin und her korrespondiert, aber da ging nichts. Diese Art des Umgangs | |
| mit uns war demütigend und herabwürdigend, das ist schon so eine Art | |
| Gutsherrenmentalität. Wir hatten diesen ‚Bescheid‘ am Freitag bekommen, | |
| dann hatten wir Inventur und danach habe ich noch mal angerufen, aber man | |
| sagte mir: ‚Nein, das ist kategorisch ausgeschlossen, es wurde auf | |
| Vorstandsebene so beschlossen.‘ | |
| Das war also das Ende. Kein Verhandlungsspielraum mehr. Und einige Tage | |
| später erfuhren wir, dass es angeblich schon einen Nachfolger gibt, dass | |
| hier ein niederländisches Brillen-Label, Ace & Tate aus Amsterdam, | |
| reinkommt. Und wir dachten uns dann, dass man auch deshalb das Gespräch mit | |
| uns abgebrochen hat, weil sie mit dem schon längst Kontakt aufgenommen | |
| hatten. Also für uns war das ein absolut kaltes Abserviertwerden. Und davon | |
| mal abgesehen, die Leute hier brauchen keine Luxusbrillen, die wollen einen | |
| Buchladen, die wollen einfach nur ihre Bücher lesen. Sogar die Kinder | |
| kommen rein mit den Eltern, da geht einem das Herz auf. Da kommen welche, | |
| die können gerade erst laufen und die wissen genau, wo die Pixi-Bändchen | |
| hier im Laden stehen. Also ich will sagen, wir sind mehr als nur | |
| Buchhändler. Aber für Herrn Berggruen und seine Manager sind wir nur ein | |
| Hindernis bei der Erzielung höherer Erträge und wir müssen deshalb weg. | |
| Aber ich denke, dass Herr Berggruen eigentlich bereits genug Gewinne | |
| gemacht hat, um mit unserem Angebot von 18 € klarzukommen, zumal es ja | |
| bereits eine höhere Miete gewesen wäre, also eine Erhöhung seines Gewinns. | |
| Was dieses rigorose Vorgehen für uns bedeutet, liegt wahrscheinlich | |
| jenseits der Vorstellungskraft dieser Leute. | |
| Und nun haben wir erfahren, dass der Brillenmensch zurückgetreten sein soll | |
| vom Vertrag, vielleicht hat er Angst, wegen der Proteste. Vielleicht gefiel | |
| es ihm auch nicht, dass die NGBK (Neue Gesellschaft für Bildende Kunst, ein | |
| basisdemokratischer linker Kunstverein, der 1969 gegründet wurde und bis | |
| heute überlebt hat) in ihrem Mietvertrag vertraglich festlegte, dass der | |
| Laden hier den Durchgang ihrer Besucher zu den Ausstellungsräumen | |
| gewährleisten muss. Für uns hat das gut zusammengepasst, die NGBK und wir. | |
| Aber wenn in einem so edlen Laden die Kunden gerade edle Brillen | |
| aufprobieren und dann dauernd die Tür aufgeht und Besucher durchlatschen | |
| und fragen, wo die Ausstellung ist, das wäre vielleicht nicht ganz so | |
| passend. Also, falls das stimmen sollte, dass der abgesprungen ist, wir | |
| sind weiterhin verhandlungsbereit. | |
| Das Ganze ist ein reiner Nervenkrieg. Nur, was macht das mit einem? Es | |
| zieht einem erst mal den Boden weg unter den Füßen. Es ist die | |
| Lebensgrundlage – jedenfalls denkt man das im ersten Moment – plötzlich | |
| verschwunden. Man fragt sich, wie kann das sein? Es gab doch kein Anzeichen | |
| dafür?! Und das geht natürlich nicht nur mir so, sondern allen Mitarbeitern | |
| hier. Bei mir war es so: Ich habe erst mal zwei Wochen gebraucht, bis ich | |
| ein bisschen darüber hinweggekommen bin. Drei Stunden Schlaf waren viel, | |
| essen konnte ich auch nur noch wenig. Aber dann haben wir angefangen, nach | |
| Lösungen zu suchen, uns nicht zufriedenzugeben mit der Situation. Wir haben | |
| versucht, an Herrn Berggruen selber ranzukommen – auch über das Berggruen | |
| Museum hier in Berlin –, was aber unmöglich war. Der Mann ist unerreichbar, | |
| wahrscheinlich in jeglicher Hinsicht. Wir haben versucht, über die | |
| Wirtschaftsförderung im Bezirksstadtrat etwas zu erreichen. Die haben aber | |
| abgewunken, als sie gehört haben, dass es bereits einen Nachmieter gibt. | |
| Wir haben mit einigem Erfolg versucht, die Presse anzusprechen. | |
| Geholfen haben uns aber vor allem der Zuspruch und die Solidarität von | |
| Kunden und Anwohnern. Und natürlich die Unterstützung durch das ‚Bündnis | |
| Zwangsräumung verhindern‘. Es gab erstaunlich viele Reaktionen, unglaublich | |
| viele E-Mails und auch heftige Reaktionen, von Tränen in den Augen bis hin | |
| zu Beschimpfungen gegen Berggruen.“ | |
| Auf meine Frage, ob es auch antisemitisch gefärbte Äußerungen gab, sagt er | |
| mit Nachdruck: „Nein, nicht eine einzige! Nee. Gar nicht! Im Gegenteil, es | |
| wurde problematisiert, ob und in welcher Weise man vor dem Museum Berggruen | |
| demonstrieren könnte. Die Leute waren einfach nur solidarisch mit uns. | |
| Viele sagten, wir müssen was machen, oder sie fragten, wie können wir euch | |
| helfen? Und es zeigte sich auch Wut gegen die gesamte Situation, weil viele | |
| selbst betroffen sind von der Verdrängung oder jemanden kennen, der bereits | |
| wegziehen musste. | |
| Die ‚Initiative Zwangsräumung verhindern‘ hat dann auch ganz deutlich | |
| gemacht, dass es ja nicht nur um uns geht, sondern um die ganze Struktur | |
| hier, um die ganzen anderen Läden und Projekte – wie der Hausgemeinschaft | |
| im Gewerbekomplex Lausitzer 10/11.“ (Wo der dänische Hausbesitzer Teaker | |
| die Immobilie, die er vor 10 Jahren, im Zuge der Berliner Haushaltskrise, | |
| vom Land Berlin für knapp 3 Mio. € gekauft haben soll, nun – nach Ablauf | |
| der 10 Jahre geltenden Spekulationssteuer – mit 600%igem Gewinn für19 Mio. | |
| € verkaufen will. Geplant ist die Umwandlung in Luxuslofts. Momentan ist | |
| die Situation unklar, der Verkauf ist ausgesetzt. Anmerkung G.G.) „Und auch | |
| viele andere Mieter sind betroffen, die jetzt auch noch verschwinden | |
| müssen. Es sind ja bereits viele Leute hier aus der Gegend vertrieben | |
| worden durch Mieterhöhungen, so auch die vielen Wohnungsmieter, die durch | |
| Modernisierung, Mieterhöhung und Zwangsräumung vertrieben wurden, weil sie | |
| ihre Mieten nicht mehr zahlen konnten. So auch die Künstler von gegenüber, | |
| deren Verträge ausliefen. Sie konnten die geforderten neuen Mieten nicht | |
| mehr bezahlen. Sie hatten ihre Ateliers hinten in Nummer 185 und 187 – das | |
| gehört auch Berggruen, der zwar kunstsinnig sein soll, aber die Künstler | |
| vor die Tür setzen ließ. Ich glaube, da sind jetzt zahlungskräftige | |
| Start-ups drin. | |
| Aber Berggruen ist nur einer von vielen Immobilienspekulanten und | |
| Hausbesitzern, die so agieren. Es gibt hier, wie gesagt, mehrere Gewerbe | |
| und Institutionen, von denen ich weiß, dass sie bedroht sind. Es gibt hier | |
| welche, bei denen sich der Mietvertrag jedes Jahr verlängert, die müssen | |
| Jahr um Jahr zittern. Aber wenn man ein Gewerbe betreibt, dann muss man | |
| planen können, und zwar über große Zeiträume. Also wenn das so weitergeht | |
| mit der ‚Strukturumwandlung‘, wenn nicht jetzt irgendwas passiert, dann | |
| wird diese Straße in drei Jahren komplett anders aussehen. | |
| Zur Kiezdemo, die hier um14 Uhr am Laden losging und an den exemplarischen | |
| bedrohten Objekten langgegangen ist, kamen immerhin 3.000 Leute zusammen. | |
| Es war eine tolle Stimmung. Viele bekannte Gesichter waren zu sehen.“ (Auch | |
| HG Lindenau, vom Laden für Revolutionsbedarf, war im Rollstuhl dabei.) „Ein | |
| älterer Mann wurde gefragt, warum er eigentlich demonstriert, und er | |
| erklärte, dass der Kiez sich so verändert, dass er nicht mehr für die | |
| Bewohner und Gewerbetreibenden ist, die hier leben. Kann man auf YouTube, | |
| ‚Kiezgeflüster 28‘, anschauen. Vor der Demo hat es ja die Kiezversammlung | |
| gegeben, organisiert von der ‚Initiative Zwangsräumung verhindern‘. Es sind | |
| 350 Leute gekommen ins SO 36. Und dort haben wir, und noch drei andere | |
| bedrohte Objekte, unsere Probleme eingebracht. Es wurden Ideen gesammelt | |
| zur Frage: Was kann man überhaupt machen? Und alle waren sich einig, es | |
| geht nicht nur um die momentan bedrohten vier, es geht um etwas Größeres, | |
| das letztlich alle betrifft. Das hat sich auch in der Kiez-Demo deutlich | |
| ausgedrückt. Die Demonstranten haben klargemacht, sie sind hier auf der | |
| Straße, weil sie zeigen möchten, dass sie das nicht einfach hinnehmen | |
| werden! Wir sind ja ganz gerührt gewesen, von der Solidarität mit uns, es | |
| wurden Plakate getragen mit der Aufschrift: ‚Wir sind Kisch & Co‘. | |
| Ich meine, logischerweise wäre die nächste Stufe jetzt im Grunde genommen, | |
| mit den Politikern zu sprechen, auf Bezirksebene, auf Landesebene. Wir | |
| haben schließlich eine neue Regierung, die sich was anderes auf die Fahnen | |
| geschrieben hat, man sollte sie jetzt beim Wort nehmen, dann wird man | |
| sehen, ob sie es ernst meinen oder nicht. Und dann heißt es, weiter die | |
| Solidarität organisieren, die nächste Kiezversammlung vorbereiten, | |
| vielfältige Formen des Widerstands versuchen und nicht aufgeben. Das ist | |
| jetzt das, was wichtig ist. Und was die Zukunft bringt, ist ungewiss. Eins | |
| aber scheint klar, es kann nicht endlos so weitergehen, es wird zu einer | |
| Katastrophe führen, zu einer Finanzkrise mit ganz anderen Ausmaßen, wie wir | |
| sie 2008 zuletzt hatten, wo auch die Immobilienspekulation mit eine der | |
| Hauptursachen war. Und wir alle werden doppelt und dreifach darunter zu | |
| leiden haben, während die Verursacher ihre Schäfchen ins Trockene gebracht | |
| haben. Aber vielleicht, wenn’s eine richtige Krise gibt …“. Ich ergänze:… | |
| dann ist auch das Trockene weg, die Schäfchen und die Schäfer.“ Thorsten | |
| Willenbruck lacht sehr: „Ja, dann ist alles weg!“ | |
| Sein Gesicht wird wieder ernst und er sagt: „Da ist noch ein Punkt, den ich | |
| vergessen hatte zu erwähnen, den ich aber sehr wichtig finde. Die | |
| Immobilien hier werden ja beworben bei Verkauf und Vermietung mit dem | |
| Hinweis auf die bunte Vielfalt des Kiezes, also auf etwas, das die Bewohner | |
| selbst hervor gebracht haben. Nun soll es den Wohnwert der Immobilien | |
| erhöhen. Es wird quasi schnell noch mitverkauft, während sie es zerstören. | |
| Es ist die in Jahrzehnten entstandene Kultur. Dazu gehört auch die | |
| ‚Buchnacht‘, die hier vor fast 20 Jahren initiiert wurde, die sogenannte | |
| lange Buchnacht. Das war zu einer Zeit, als Kreuzberg für solche Investoren | |
| noch vollkommen unattraktiv war. Es galt als ‚Problembezirk‘, die Presse | |
| schrieb ständig von Gewalt, Drogen, Kriminalität und was weiß ich, alles | |
| war angeblich auf dem absteigenden Ast. Da haben sich sieben oder acht | |
| Buchhandlungen zusammengetan und sich gesagt, dieses Bild stimmt so nicht. | |
| Dem wollen wir mal was entgegensetzen, und so haben wir, also die | |
| Buchhändler, die ‚lange Buchnacht‘ gemacht. Eintrittsfrei, mit 17 | |
| Veranstaltungen an verschiedenen Orten. Heute sind es wesentlich mehr. Die | |
| Organisatoren haben sich zusammengeschlossen im ‚Verein lange Buchnacht. e. | |
| V.‘. In den ersten Jahren ging es sehr lang, bis vier Uhr morgens. Das war | |
| auch noch die Zeit, wo man hier noch rauchen konnte, es gab Lesungen, | |
| Diskussionen mit Autoren, es wurde Bier getrunken, es gab Musik und | |
| vielfältige andere Sachen. Viele Leute kamen, Kneipen und Cafés haben | |
| mitgemacht, Museen, Bibliotheken, sogar die Kirche. Es wurde ein Erfolg. Es | |
| ging uns um eine Vernetzung des nachbarschaftlichen Lebens hier, quer durch | |
| alle Altersgruppen und sozialen und kulturellen Hintergründe. Und es hat | |
| diesem Bild vom gewalttätigen, drogendurchseuchten Kreuzberg in der | |
| Öffentlichkeit etwas entgegengesetzt. Die Quittung bekommen wir jetzt! | |
| Die ‚lange Buchnacht‘ gibt es immer noch, inzwischen ist sie Ende Mai, | |
| Anfang Juni. Dieses Jahr ist sie am 20. Mai, also fast genau zum | |
| Auszugstermin! Da wird es dann hier sehr leer aussehen. Also es ist ein | |
| Aberwitz! Und für mich illustriert das noch mal den gesamten | |
| Verdrängungsprozess, der hier vor sich geht. Und es interessiert die | |
| Profiteure nicht im Geringsten, dass Individuen jahrelang etwas aufgebaut | |
| haben, das sie jetzt einfach abernten und ihren Geschäftszwecken | |
| einverleiben. Und es interessiert sie auch nicht, dass, so wie auch bei | |
| uns, ganze Lebenszusammenhänge und Existenzen dranhängen. Es gibt hier | |
| außer mir noch vier andere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, und wir alle | |
| brauchen diese Arbeit, auch in materieller Hinsicht natürlich, und es ist | |
| äußerst bedrohlich für jeden Einzelnen, wenn das alles plötzlich | |
| zusammenbricht. | |
| In der ersten Zeit nach dieser Mitteilung, dass wir hier nicht weitermachen | |
| können, dass es aus und vorbei ist, war ich wie gelähmt. Es geht alles | |
| durcheinander im Kopf. Dann habe ich eines Tages im Briefkasten eine | |
| Mitteilung gefunden, dass Zeitungsausträger gesucht werden. Ich bin ja | |
| selbstständig und kann nicht zum Amt gehen und Arbeitslosengeld I | |
| beantragen. Ich hab keinerlei Ansprüche. Dann fiel mir auf, dass auch die | |
| Bäckereiketten Mitarbeiter suchen, und ich dachte, na ja, es gibt ja | |
| wenigstens solche Jobs, wenigstens übergangsweise kann ich da ein bisschen | |
| Geld verdienen … Und im Hinterkopf hatte ich immer: Wir müssen uns darum | |
| kümmern, was anderes zu finden. Es kamen Leute, die sagten, da und dort | |
| steht was leer. Aber wir haben uns vom Zeitaufwand her und von unserer | |
| Kraft her erst mal auf die anderen Lösungsmöglichkeiten konzentriert, auf | |
| Protest und Widerstand. Man wird ja sonst wirklich verrückt, wenn man zu | |
| viel gleichzeitig macht. Und es könnte ja auch verfrüht sein. Das Ganze ist | |
| vollkommen unberechenbar! | |
| Also wenn das Ende dann wirklich am 31. 5. kommt, dann wird es eng. Bei den | |
| Verlagen kann man remittieren, teilweise. Und im Falle eines | |
| Räumungsverkaufs ist ja die Buchpreisbindung aufgehoben für4 Wochen, in | |
| dieser Zeit müssten wir dann versuchen, so viel wie möglich zu verkaufen. | |
| Und was dann noch übrigbleibt, da müssen wir dann gucken. Wir machen ja | |
| jetzt schon kaum noch Nachbestellungen. Die Lücken zeigen das. | |
| Ich kann gar nicht daran denken, es greift mir ans Herz. Aber ich möchte | |
| noch mal sagen, in so einer Situation ist das Allerwichtigste, dass man | |
| miteinander spricht, dass man Solidarität erfährt, dass sich die Leute | |
| gegenseitig helfen. Uns hat das unglaubliche Kraft gegeben, dass wir so | |
| viel Unterstützung bekommen haben. Dafür sind wir wirklich dankbar und es | |
| macht die ganze Misere erträglicher. | |
| Aber es geht ja nicht nur um unser Problem, es geht um das Problem des | |
| gesamten Kiezes, ein Problem, das auch die gesamte Stadt betrifft. Die | |
| Politiker müssen handeln, dazu sind sie da. Es muss verhindert werden, dass | |
| die Leute vertrieben werden und ganze Viertel zu ‚angesagten‘ Wohnadressen | |
| für Leute mit Geld werden und zu Flaniermeilen für Touristen. Im | |
| Endergebnis wird aber genau das erloschen sein, was sie mal suchten, das | |
| Lebendige, das Vitale. Es wird dann eine Stadt aussehen wie die andere. Die | |
| Touristen brauchen gar nicht mehr zu kommen, denn sie haben im Prinzip | |
| alles schon woanders gesehen und zu Hause haben sie dasselbe auch. Was für | |
| eine grauenvolle Vorstellung …“ | |
| Das Gespräch wurde geführt am Morgen des 27. Februar 2017. Am 30. März 2017 | |
| bekam ich folgende Mail: | |
| „Liebe Gabriele, | |
| es konnte eine Einigung mit der Berggruen Holding über die Fortsetzung des | |
| Mietvertrages über drei weitere Jahre getroffen werden. Die morgige | |
| Kundgebung ist deshalb abgesagt worden. | |
| Herzliche Grüße | |
| Thorsten“ | |
| Am 7. April schrieb Thorsten Willenbrock: | |
| „Liebe Gabriele, | |
| jetzt bin ich malade und liege im Bett. Deshalb nur ganz kurz: der von der | |
| Berggruen Holding unterschriebene Vertrag ist bei uns angekommen. | |
| Herzliche Grüße | |
| Thorsten“ | |
| Drei Jahre sind zwar ein Aufschub, der erst mal etwas Luft zum Atmen lässt, | |
| aber mehr als eine Galgenfrist sind die drei Jahre nicht. | |
| 24 Apr 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Gabriele Goettle | |
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