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# taz.de -- Fotobuch über US-Sozialsiedlung: Wege zu einem besseren Leben
> Jeffrey A. Wolin legt ein Langzeitfotoprojekt über eine US-Sozialsiedlung
> vor. Darin haben die Bewohner die Deutungshoheit über ihr Leben.
Bild: Ausschnitt aus: Jeffrey A. Wolin: Loretta with Daughters Sarah and Laura …
Auf dem Pigeon Hill altert man schneller als anderswo. Jeffrey A. Wolins
Protagonisten machen daraus kein Geheimnis: Mit vier Jahren haben sie die
erste Messerstecherei gesehen, während der Vater immer besoffen und die
Mutter abwesend waren oder umgekehrt; als Teenager sind sie oder ihre
Freundinnen selbst schwanger geworden oder hatten Ärger mit der Polizei.
„Pigeon Hill: Then + Now“ ist erst einmal vieles nicht: kein
sozialromantisches „Schaut, wie die Armen leben!“-Projekt, kein
Live-dabei-Chic à la Nan Goldin, auch keine betont nüchterne
Dokumentarfotografie. Aus dem, was dann noch übrig bleibt an künstlerischen
Optionen, hat der Fotograf Jeffrey A. Wolin eine beeindruckende Bilderserie
geschaffen: das Leben in einer US-amerikanischen Sozialsiedlung,
kristallisiert in einzelne Zeitpunkte, zwischen 1987 und 1991 und noch mal
etwa 20 Jahre später.
Seine Kamera ist die eines Fotografen, nicht eines Freundes oder
Sensationensammlers. Er ist nicht dabei, wenn Crack geraucht wird, das
Crystal der 80er und frühen 90er Jahre, wenn Kinder verprügelt werden oder
sich Väter die Birne wegsaufen. Aber die Bewohner posieren gern vor seiner
Kamera, des emphatischen Beobachters. „Pigeon Hill: Then + Now“ ist eine
Fotoreihe und daneben ein kürzlich erschienenes Fotobuch auch für Menschen,
die keinen Coffeetablebook-Table besitzen.
Strategien hin zum besseren Leben gibt es einige: Großeltern kümmern sich
nun besser um die Enkel als einst um ihre eigenen Kinder, die
zwischenzeitlich im Gefängnis gelandet sind. Einige haben es in die
ersehnte Mittelschicht geschafft, fahren Autorennen, haben ihr Seelenheil
in der Pfingstgemeinde gefunden oder wollen als Polizist andere vorm
Schicksal ihrer Weggenossen bewahren.
Für Jamie, die in ihrer dysfunktionalen Familie stets lieb und artig zu
sein hatte, liegt der Luxus eines anderen Lebens nicht im Monetären: „Meine
Kinder haben gelernt, offen ihre Meinung zu sagen. Ich bin stolz. Stolz auf
meine Kinder, stolz darauf, wer ich bin.“
## Verformter Rückblick
Und dann gibt es Leute wie Jerrold, einer von wenigen afroamerikanischen
Bewohnern im Buch, die es offenbar geschafft haben, die ganze Zeit über ein
einigermaßen bescheiden-zufriedenes Leben zu führen. Auf dem Pigeon Hill.
Wolin überlässt die Deutungshoheit über das eigene Leben seinen
Porträtierten: Sie erzählen, was sie damals und heute so umtrieb, er
notiert ihre Worte auf den Fotos.
Das Erinnerungsvermögen mag falsch sein oder wie man heute gern sagt:
plastisch, der Rückblick verformt durch die erreichte Zukunft. Neben denen,
die es aus ihrer prekären Situation rausgeschafft haben, geografisch oder
inwendig, gibt es andere, die es damals gar nicht so übel fanden: „Ich
erinnere mich an Pigeon Hill als den perfekten Ort, um groß zu werden“,
steht auf Davids Kinderfoto geschrieben: Er trägt BATMAN-Shirt und
Riesenbrille, der Kamerablitz lässt die Augen in seinem runden Gesicht
erschrocken aufreißen. Im Arm trägt er ein Gewehr.
„Dieses Foto erinnert mich an all den Spaß, den meine Freunde und ich beim
Radfahren und Kriegsspielen hatten. Ich hatte keinen Haufen an
Verantwortungen damals.“ Heute ist er auf Bewährung aus dem Knast, weil er
seiner Ex keinen Unterhalt zahlen konnte, wollte oder beides. Danny wird
1988 in einem Rockstar-Setting fotografiert, er lacht mit dicker Zahnlücke
von den Ledersitzen seines abgeranzten Wagens: „Es gab gute Zeiten damals.
Ich hatte einen großartigen Hund, Willard, meine Freundin, Tina, und ein
Auto.“
Heute ist er obdachlos, was ein Pigeon-Hill-Bewohner anders ausdrückt: „Ich
bekomme Mahlzeiten im Shalom Center. Wenn ich muss, schlafe ich in einem
Graben am Twin-Lakes-Erholungscenter.“ Und Steve, der heute im Unterhemd
Arm in Arm mit seinem Sohn posiert, weiß, dass auch die relative
finanzielle Besserung ihren Preis hat: „Ich mag arm gewesen sein als Kind,
aber jetzt arbeite ich so viel, dass es keine Rolle spielt – ich habe keine
Zeit fürs Leben.“
20 Apr 2017
## AUTOREN
Katharina J. Cichosch
## TAGS
Bildband
Sozialwohnungen
Sucht
EMtaz Bericht/Analyse
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