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# taz.de -- Krawalle in Frankreichs Banlieues: Die Stadt der Wütenden
> Nachts sind ihre Brüder über den Balkon abgehauen, um mitzumischen. Die
> Mädchen vor der Schule des Pariser Vororts Villiers-le-Bel haben
> Verständnis für die Randale: Schließlich sind ihre Freunde tot
Bild: "Man muss sich in die Köpfe der Jungs hineinversetzen".
VILLIERS-LE-BEL taz "Rache", sagt der kleine Blonde. "Wir sind
solidarisch", meint der schwarze Junge rechts neben ihm, "die Leute hier
gehören zur Familie." "Wir wollen, dass über uns geredet wird", tönt der
Braunhäutige links auf der Bank.
Es sind Erklärungsversuche für die Straßenschlachten, die in den Nächten
von Sonntag bis Dienstag die nördlich von Paris gelegene Vorstadt
Villiers-le-Bel in Rauchwolken gehüllt haben. An diesem Mittwoch, dem
Morgen nach der ersten ruhigen Nacht, in der über tausend Polizisten durch
die Straßen patrouilliert sind und sie von oben per Helikopter überwacht
haben, sitzen die drei Jungen auf der hinteren Bank von Bus Nummer 270.
"Nennen Sie mich Biggie" sagt der Schwarze. "Ich bin Psycho", stellt sich
der Braunhäutige grinsend vor. Der kleine Blonde sagt: "Ich bin bei den
Bullen bekannt." Die drei kommen aus Sarcelles, der Nachbargemeinde von
Villiers-le-Bel. 19 sind sie, haben alle einen Job und finden das Leben in
ihrer Vorstadt einfach "scheiße".
Der Bus 270 verbindet die S-Bahn-Station Gonesses mit der von
Villiers-le-Bel. Vor dem Fenster zieht eine typische französische Vorstadt
vorbei: Sozialsiedlungen mit großen Wohnblöcken, die meisten mit frisch
renovierten Fassaden, wechseln sich mit adretten Reihenhäusern ab.
Dazwischen liegen Gewerbegebiete. An einer Kreuzung hievt ein Kran
verkohlte Autowracks auf einen Lastwagen. Bis Sonntagnacht stand auf dem
Eckgrundstück eine Hyundai-Niederlassung, 30 Leute arbeiteten hier. Wenige
Stunden nach dem Zusammenstoß zwischen einer Polizeistreife und einem
Minimotorrad, auf dem zwei Jugendliche saßen, ging die Firma in Flammen
auf. Übrig ist nur noch ein Gerippe.
Ein paar Meter weiter, auf einer Verkehrsinsel, stehen noch die Plakate für
das "Requiem" von Gabriel Fauré, das am Sonntagnachmittag um 16 Uhr von den
örtlichen Musikschulen im Kulturzentrum aufgeführt wurde. Eine Stunde nach
Konzertbeginn waren Lakhami, 16, und Mouhsin,15, tot. Die beiden in dem Ort
geborenen Jungen - der eine aus einer marokkanischen, der andere aus einer
senegalesischen Einwandererfamilie - kannten sich von Kindheit an. Wenige
Stunden nach ihrem Tod bezogen Kamerateams Stellung auf der Verkehrsinsel.
Der Platz erwies sich als günstig: In der zweiten Krawallnacht gingen in
der nur wenige Meter entfernten Sozialsiedlung Ceriseraie sowohl die
Gemeindebibliothek als auch eine Vorschule in Flammen auf.
An diesem Mittwochmorgen stehen Jugendliche in kleinen Gruppen zwischen den
Übertragungswagen. Es wirkt, als würden sie darauf warten, interviewt zu
werden.
Was in der Banlieue anders werden müsste, damit sie wieder zur Ruhe kommen,
das haben sich die drei Jungen im Bus 270 noch nicht gefragt. Zwei Nächte
lang waren sie in Villiers-le-Bel unterwegs. Na ja, sie fahren gern
Motorrad, "wenn sie uns ein Motocrossgelände anlegen würden, wäre das schon
gut," fällt schließlich dem Schwarzen ein.
Bus 270 bremst an der rue Louise Michel. Neben einer Hecke stapeln sich
Blumensträuße. Rosa und gelbe Rosen. An eine Laterne sind Abschiedsbriefe
geklebt. In kindlicher Schrift stehen da Sätze wie: "Lakhami und Mouhsin -
wir werden euch nie vergessen", ein Foto zeigt einen strahlenden Jungen,
der auf einem Kamel reitet. Auf der gegenüber liegenden Straßenseite weisen
Blasen im Asphalt auf einen Brand hin. Das Auto, das hier zerstört wurde,
ist schon weggeräumt.
Die Gegend hier hat schon im Herbst 2005 Schlagzeilen gemacht - wegen der
besonders vielen verbrannten Autos. Auch diesmal war wieder mächtig was
los. Stundenlang standen sich Polizisten und Jugendliche gegenüber, von den
Balkons prasselten Wurfgeschosse und Beschimpfungen auf die Beamten herab.
"Ich halte das hier kaum noch aus", klagt eine kräftig gebaute Mutter. Sie
steht in einem der Innenhöfe der Siedlung und hebt ihre hennaverfärbten
Hände wie zum Gebet: "Die Jungen gehen nicht mehr zur Schule, sie haben
keine Arbeit und hängen den ganzen Tag zu Hause herum." Andere Frauen
fallen ihr auf Arabisch ins Wort. Von einem Balkon im zweiten Stock mischt
sich eine andere Frau Frau ein, sie schreit, "eine Schande" sei das, dass
der Präsident an diesem Morgen zuerst einen verletzten Polizisten besucht
und erst danach die Angehörigen "unserer beiden kleinen Jungen" empfangen
hat. "Auch die Polizei macht Fehler", sagt eine Frau unten im Hof. Andere
fallen ihr in gebrochenem Französisch ins Wort, sie hätten "gehört", die
Polizisten hätten am Unfallort keine Erste Hilfe geleistet. Überhaupt
würden ihre Jungen "wie Hunde behandelt".
Vor dem Tor zur Saint-Exupéry-Schule stehen Mädchen, die hier in der Gegend
wohnen. An diesem eiskalten Morgen tragen viele keine Strümpfe unter den
dreiviertellangen Hosen und hautenge T-Shirts. "Ich will doch nicht wie
eine Zigeunerin aussehen", sagt eine 15-Jährige schlotternd. Die Tochter
westafrikanischer Einwanderer hat Verständnis für die nächtlichen
Schlachten der Jungen, ebenso wie sie hasst sie die Polizei. "Natürlich ist
es ein Fehler, eine Bibliothek anzuzünden", sagt sie, "aber was sollen wir
sonst tun, wenn sie uns fertigmachen?" Sie hat die beiden Toten, Lakhami
und Mouhsin gekannt. "Süß" nennt sie sie, "lustig" und "glücklich".
Die umstehenden Mädchen, zwei Dutzend sind sie nun, erzählen Geschichten
von ihren Brüdern. In den Krawallnächten seien die über den Balkon auf die
Straße abgehauen oder gar nicht erst nach Hause gekommen. Die Schülerinnen
haben am Montag und Dienstag an den Schweigemärschen für die Toten
teilgenommen. Sie werden es am Freitag wieder tun.
Der Weg zum S-Bahnhof Villiers-le-Bel führt vorbei an Einfamilienhäusern,
hinter heruntergelassenen Rollläden haben sich die Anwohner seit der ersten
Krawallnacht versteckt. Eine Frau, die seit 15 Jahren hier lebt, erzählt,
sie habe, gleich als die ersten Mülleimer brannten, den Wagen hinters Haus
gefahren. Bisher hat sie sich hier immer sicher gefühlt, das ist nun
vorbei.
Auch in der Hauptgeschäftsstraße sind fast alle Schaufensterscheiben durch
Holzbretter ersetzt. Drauf kleben Sticker von Versicherungen, die sich um
die Reparatur kümmern. In den beiden Krawallnächten sind Scheiben
unterschiedlichster Art zertrümmert worden. Bei dem medizinischen Labor,
beim Konditor, bei der Immobilienagentur, beim Weingeschäft und beim
Fleischer. Auch mehrere Geldautomaten wurden zertrümmert. Die
Fensterscheibe der Bar Le Havane ist als einige von wenigen unversehrt.
"Weil unser eisernes Rollo heruntergelassen war",sagt der Mann hinter dem
Tresen achselzuckend. Er hat eine Erklärung für die Straßenschlachten: die
hohe Arbeitslosenrate in Villiers-le-Bel. 19 Prozent beträgt sie hier, bei
den unter 25-Jährigen reicht sie bis an 40 Prozent.
"Man muss sich in die Köpfe der Jungs hineinversetzen", sagt ein
22-jähriger Gemeindearbeiter, der seit Montag Brandspuren und Scherben
beseitigt: "Sie haben ihre Kinderfreunde verloren. Sie sind wütend." Er ist
weiß, trägt den französischen Namen Mathieu und hat eine Arbeit, für die er
sehr früh aufstehen muss. Deshalb ist er nachts nicht unterwegs. Aber auch
er macht immer wieder die Erfahrung von Polizeikontrollen: "Weil ich jung
bin und hier lebe." Mathieu meint: "Es hätte auch mich treffen können."
29 Nov 2007
## AUTOREN
Dorothea Hahn
Dorothea Hahn
## TAGS
Bildband
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