# taz.de -- Verfassungsreferendum in Berlin: „Nicht das Gefühl, verloren zu … | |
> In Berlin fehlten dem Nein-Lager nur 150 Stimmen zum Sieg. Der | |
> Oppositionelle Erkin Erdoğan über die Stimmung in der Community. | |
Bild: CHP-Anhänger verfolgen den Ausgang der Wahl | |
taz: Herr Erdoğan, wie haben Sie den Wahlabend verbracht? | |
Erkin Erdoğan: Ich war im „Aquarium“, einem Raum hinter dem Café Südblock | |
am Kottbusser Tor. Der Verband HDK (ein Bündnis aus dem Umfeld der | |
prokurdisch-linken Partei HDP – d. Red.) hatte das organisiert und sehr | |
viele Menschen waren da. Die Stimmung war sehr aufgewühlt. Die ersten | |
Prognosen sahen einen großen Vorsprung für das Ja-Lager, der dann immer | |
weiter schmolz. Leider nicht genug. Es gab auch eine Live-Schalte zu einem | |
Sprecher der HDP. | |
Wie bewerten Sie das Ergebnis? | |
Wir haben nicht das Gefühl, verloren zu haben. Ob Istanbul, Ankara oder | |
Izmir – alle großen Städte haben mehrheitlich mit Nein gestimmt, trotz der | |
großen Hindernisse, die der Opposition in den Weg gelegt wurden. Das | |
Bündnis aus Regierungspartei AKP und den Nationalisten der MHP hat im | |
Vergleich zu den Parlamentswahlen im November 2015 überall verloren – auch | |
in Berlin. Damals kamen AKP und MHP hier zusammen noch auf 55 Prozent. | |
Jetzt steht es fast 50:50, der Unterschied beträgt lediglich etwa 150 | |
Stimmen. | |
Im deutschen Vergleich hat Berlin mit 49,87 Prozent den höchsten | |
Stimmanteil für das Nein erreicht. Wieso? | |
Für uns ist das das Resultat einer erfolgreichen Kampagne für das Hayir. | |
Wir waren viel auf der Straße, haben mehr als 100.000 Flyer verteilt, | |
Autokorsos gemacht. Aber natürlich ist Berlin auch ein sehr spezieller Ort | |
für die türkische Community. Hier gibt es sehr viele Kurden und Aleviten. | |
Auch sind in den vergangenen Jahren viele Türken vor der Unterdrückung nach | |
Berlin geflohen. Diese Basis haben wir mobilisiert. | |
Trotzdem hat die Mehrheit für Ja gestimmt. Wie erklären Sie sich, dass | |
Menschen, die hier in der Demokratie leben, für ein diktatorisches System | |
in der Türkei stimmen? | |
Viele haben gar keine Ahnung, wofür sie da stimmten. Die Strategie der AKP | |
war darauf ausgerichtet, möglichst wenig über die politischen Veränderungen | |
an sich zu diskutieren. Die Kampagne fand eher auf einem abstrakten Level | |
statt. Sie haben polarisiert. Insofern war es ein cleverer Zug von Erdoğan, | |
die Spannungen mit den Niederlanden oder Deutschland durch die Streits über | |
Wahlkampfauftritte zu verstärken. Viele AKP-Unterstützer haben sich in | |
ihrer Argumentation nur darauf bezogen. Sie haben gesagt: Wenn Deutschland | |
Nein sagt, sagen wir Ja. | |
Für einige Türken, gerade wenn sie ihre Wurzeln in konservativen, | |
ländlichen Regionen haben, ist die Unterstützung für Erdoğans AKP ein | |
Identitätsfaktor. Dazu kommt, dass die Berichterstattung in den türkischen | |
Medien, deren Einfluss auch hier sehr groß ist, sehr einseitig war. Die | |
Argumente für das Nein kamen da kaum vor. | |
Was bedeutet das Ergebnis für die Community in Berlin? | |
Bei dem geringen Stimmenunterschied werden sich die AKP-Unterstützer nicht | |
stärker fühlen als zuvor. Ich erwarte erst mal keine zunehmenden | |
Spannungen. Aber natürlich müssen wir die weiteren Entwicklungen in der | |
Türkei abwarten. Wenn dort die Konflikte eskalieren, wird das auch für | |
Berlin nicht folgenlos bleiben. | |
Die HDP und die sozialdemokratische CHP wollen das Ergebnis anfechten. Wie | |
ist Ihre Meinung dazu? | |
Die Entscheidung der obersten Wahlbehörde am Sonntag, Wahlzettel trotz | |
fehlender offizieller Stempel zuzulassen, ist ein Skandal. Es ist richtig, | |
dagegen vorzugehen. Insgesamt muss man aber sagen: Ohne einen fairen | |
demokratischen Prozess kann man auch kein faires Ergebnis erwarten. 5.000 | |
HDP-Mitglieder sitzen im Gefängnis, eine freie Medienberichterstattung gibt | |
es nicht mehr, es herrscht der Ausnahmezustand. Elementare Voraussetzungen | |
für eine demokratische Entscheidung haben gefehlt. | |
Deswegen braucht es auch eine weitere Mobilisierung. Wir warten ab, ob es | |
zentrale Aufrufe gibt, auf die Straßen zu gehen. Dann werden wir uns auch | |
in Berlin daran beteiligen und den Kampf fortführen. | |
17 Apr 2017 | |
## AUTOREN | |
Erik Peter | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Emmanuel Macron | |
Türkei | |
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