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# taz.de -- Vielstimmig „Das weiße Leintuch“, der große moderne Roman des…
Bild: Vertikale Stadt und Exil: die New Yorker Fifth Avenue in den fünfziger J…
von Jochen Schimmang
Hinten im Buch, nach den Anmerkungen der Übersetzerin, gibt es ein
ganzseitiges Foto des Autors, aufgenommen im Jahr 1951 in New York von
keinem Geringeren als Jonas Mekas. Es zeigt eine Mischung aus Landstreicher
und Dandy, wobei der Dandy überwiegt. Hut, Mantel, weite Hosen, die Beine
übereinandergeschlagen, die Zigarette in der rechten Hand. Es gibt ein
sehr ähnliches Foto von Albert Camus aus demselben Jahrzehnt, im feinen
Anzug auf einer Treppe sitzend.
Die Korrespondenz ist kein Zufall. Antanas Škėma, geboren 1910 in Łodź, wo
sein Vater als Lehrer arbeitete, und ums Leben gekommen 1961 in
Pennsylvania bei einem Autounfall, gilt als der Vertreter der modernen, das
heißt nicht nationalromantischen Literatur Litauens in der Nachkriegszeit.
Er war vom französischen Existenzialismus ebenso beeinflusst wie von den
Romantechniken der klassischen Moderne.
Nun ist „Litauen“ buchstäblich ein beweglicher Begriff, auch auf der
Landkarte. Die Geschichte dieses Landes ist so eng mit der der
unmittelbaren Nachbarländer verbunden wie kaum eine andere, auch in dem
Sinne, dass das Land oder Teile des Landes vorübergehend zu diesen
Nachbarländern gehörten und keine eigene staatliche Existenz gehabt haben.
Im Gegensatz zu den beiden anderen baltischen Staaten war Litauen,
insbesondere seine Oberschicht, stark an Polen und damit auch am polnischen
Katholizismus orientiert. Auch Škėma selbst kommt mütterlicherseits aus
einer Familie mit dieser Orientierung.
## Lift, mythisch überhöht
Sein deutlich autobiografisch geprägter Roman erzählt die Geschichte des
Schriftstellers Antanas Garšva, der im New Yorker Exil als Liftboy in einem
Luxushotel arbeitet. Wie sein Schöpfer ist Garšva nach der Okkupation
seines Landes durch die Sowjets zunächst nach Deutschland geflohen, wo er
einige Zeit in einem Camp für Displaced Persons zubrachte, und danach in
die USA gegangen, wo er sich nun mit diesem Job durchschlägt. Sein
Arbeitsort und sein Arbeitswerkzeug, der Lift, bilden den Rahmen, der die
disparaten Elemente dieses Romans zusammenhält. Der Lift wird mythisch
überhöht: „Up and down, up and down in einem streng eingegrenzten Raum.
Sisyphos, von neuen Göttern an diesen Ort versetzt. Diese Götter sind
humaner. Der Stein hat die Erdanziehung verloren. Sisyphos braucht keine
geäderten Muskeln mehr.“
Ob man sich ihn als einen glücklichen Menschen vorstellen muss, steht
allerdings auf einem anderen Blatt. Denn die Geschichte wird durch die
litauischen Verhältnisse bestimmt, die Gegenwart durch sein Verhältnis zu
einer verheirateten Frau und durch die Tatsache, dass er anscheinend
todkrank ist, auch wenn er es immer wieder aufschiebt, ein zweites Mal zum
Arzt zu gehen und sich seine Diagnose abzuholen.
Es ist aber primär nicht die Geschichte, die uns fesselt, auch wenn sie für
das litauische Exil einer bestimmten Boheme in den USA in der
Nachkriegszeit – zu der auch Jonas Mekas gehörte – vermutlich so
exemplarisch Zeugnis ablegt wie kein anderer Roman. Das allein ist es
nicht, was seinen fortdauernden Einfluss auf die litauische Literatur bis
heute erklärt. Es sind die sprachlichen und formalen Mittel. Mit anderen
Worten, es geht nicht um Litauen, welche Leiden dieses Land auch immer
durchzumachen gehabt hat, es geht um Literatur.
Škėma setzt das gesamte Instrumentarium des modernen Romans ein und alle
Stimmungslagen dazu. Er benutzt (Pseudo-)Dokumentarisches,nämlich die
Aufzeichnungen seines Helden zu seiner Kindheit und Jugend, ebenso wie
Gedichte und (Volks-)Lieder. Er ruft mit gelungenen Bildern den Rhythmus
des New York der fünfziger Jahre auf und mit geschickt arrangierten
Episoden die Provinzialität und Miefigkeit des Litauens der
Zwischenkriegszeit. „Die Autobahn machte einen Bogen und hängte sich an die
Wohnviertel von Millionären. Fred Astaires Tanzschule rauschte vorüber,
puritanisch gepflegte Parks, Villen im Kolonialstil, ein, zwei Cadillacs,
nicht in Garagen geschoben, und mit einem letzten Aufleuchten verschwand
eine rote Reklametafel von Shell.“
Škėma kann ironisch und sarkastisch sein, aber auch
existenzialistisch-ernst und sogar sentimental. Dieser Roman ist keine
einfach nachzusingende Melodie, sondern eine sehr vielstimmige Symphonie –
eine Vielstimmigkeit jedoch, der man sehr gern folgt.
Es gibt da zum Beispiel die schon beinahe klassisch zu nennende Episode des
halbherzigen Selbstmordversuchs in der Jugendzeit, heftig inspiriert durch
die Lektüre Schopenhauers und seiner Verneinung des Willens. Nachdem der
junge Garšva im letzten Moment doch davon abgesehen hat, sich im Wald
aufzuhängen, heißt es: „In seinem Zimmer im Volkshaus rubbelte er sich
lange die feuchten Füße mit einem Handtuch ab, und später, als er unter die
Bettdecke geschlüpft war, hielt er in einer Hand einen Feuilletonband von
Pivošas und in der anderen – ein langes Stück Krakauer Wurst. Es war
gemütlich.“
So gemütlich ist es naturgemäß nicht immer, vielmehr tun sich in den
Erinnerungen des Protagonisten regelmäßig Abgründe auf. Es sind die
Abgründe der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. „Das Schicksal hatte aus
mir einen Leichenbeschauer gemacht“, heißt es an einer Stelle. „Ich bin in
den unterschiedlichsten Situationen auf Leichen gestoßen.“ Und dann folgt
eine Aufzählung von Scheußlichkeiten.
## Dichter als Florettfechter
Versteht sich, dass Škėma deshalb literarisch nicht den Weg gehen konnte,
den andere litauische Autoren zu gehen versuchten: die Schaffung einer
nationalromantischen, schönen litauischen Literatur. In einer zentralen
Szene des Romans gibt es eine lange Auseinandersetzung zwischen Garšva und
dem Dichter Vaidilionis, die sich nach dem Krieg in einem DP-Camp in
Deutschland begegnen. Dazu muss man wissen, „dass von den insgesamt etwa
100.000 aus ihrer Heimat geflohenen Litauern etwa 58.000 Personen in DP
Camps auf deutschem Boden gelebt haben. Unter ihnen war der größte Teil der
politischen und kulturellen Elite des Landes“, schreibt Claudia Sinnig in
ihren Anmerkungen. Weiter ist dort zu lesen, man könne sagen, „dass etwa
von 1945 bis 1949 Westdeutschland Standort und Schauplatz der litauischen
Kultur gewesen ist“. Auch Mekas und Škėma sind sich in einem solchen Camp
erstmals begegnet.
Im Roman ist die Auseinandersetzung mit dem schöne Naturgedichte
schreibenden Vaidilionis äußerst erfolgreich, und für Škėmas Protagonisten
und Alter Ego Garšva ist es auch eine mit Vergangenheit und Zukunft. Garšva
führt sie nicht verbissen, sondern eher wie ein Florettfechter oder ein
asiatischer Selbstverteidigungskünstler, im Kontrast zu seinem Gegenüber,
das vor tiefem Ernst trieft. Das gebiert einen der schönsten Sätze in
diesem an gelungenen Bildern nicht armen Buch: „‚Fanatiker und ihre
Anhänger haben angespannte Muskeln und Seelen‘, dachte ich.“
Erstaunlich, wie wenig angestaubt dieser Roman heute wirkt, der zwischen
1952 und 1954 entstand und erstmals 1958 in einem Londoner Exilverlag
publiziert wurde. Da sich die Schrecken des 20. Jahrhunderts im
einundzwanzigsten perpetuieren, hat das Lebensgefühl, das aus ihm spricht,
an Berechtigung nichts verloren. Dass das so deutlich wird, liegt an der
Übersetzung von Claudia Sinnig. Der Autor hat damals alle Register gezogen
und eine Vielstimmigkeit geschaffen, die hier und da durchaus an den
„Ulysses“ erinnert. Seine Übersetzerin hat es ihm gleichgetan.
Antanas Škėma: „Das weiße Leintuch“. Aus dem Litauischen von Claudia
Sinnig. Guggolz Verlag, Berlin 2017, 255 S., 21 Euro
15 Apr 2017
## AUTOREN
Jochen Schimmang
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