# taz.de -- Syrische Geflüchtete in Sur: Von Krieg zu Krieg | |
> Offiziell leben in der südosttürkischen Stadt Diyarbakır 35.000 | |
> Geflüchtete. Stiftungen und junge Freiwillige versuchen sie im Alltag zu | |
> unterstützen. | |
Bild: Das Viertel Iskenderpaşa in Sur, Diyarbakır | |
Wir gehen durch die Gassen von İskenderpaşa. Das Viertel in der Altstadt | |
von Diyarbakır in der Südosttürkei bemüht sich nach den Schlägen, die es | |
bei der Zerstörung durch Gefechte in den vergangenen zwei Jahren einstecken | |
musste, wieder auf die Beine zu kommen. | |
Wir suchen nach den Adressen, die uns Bezirksvorsteher Ali Ürün in die Hand | |
drückte. Er weiß genau, wer wo wohnt. Hier leben viele bedürftige | |
Kriegsgeflüchtete aus Syrien. Er nannte uns fünf Familien, die er nach | |
Kräften unterstützt. Wir gehen mit Ahmad und Ruken durch die Gassen, die | |
wegen illegal aufgestockter Häuser und zerstörter Struktur inzwischen noch | |
enger wirken als früher. | |
Einen Jugendlichen, der mit dem Rücken an einer Mauer lehnt und raucht, | |
fragen wir nach der 3. Sackgasse, Telegrafenamt. Er hebt den Kopf, blickt | |
uns wie abwesend aus geröteten Augen an und ruft jemandem zu: „Cengiz, | |
schau doch mal, nach welcher Sackgasse die fragen!“ Wir gehen weiter. | |
Cengiz kommt uns hinterher. | |
„Der Typ, den ihr nach dem Weg gefragt habt ist doch auf dem Abflug, wie | |
soll er da was wissen?“, verspottet er uns. Ein paar Kids verhöhnen uns | |
weiter: „Fragt doch den Gouverneur, der weiß es bestimmt“, sagen sie und | |
zeigen auf einen jungen Mann im gestreiften Anzug, der uns entgegenkommt. | |
„Was für ein Glück, dass ich heute einen Anzug trage“, sagt der junge Mann | |
und alle brechen in Gelächter aus. | |
## Diyarbakır ist meine zweite Heimat | |
Ahmad Malla Muhammed ist 25 Jahre alt. Er studierte Jura im letzten | |
Semester in Aleppo, bevor er vor den Kämpfen flüchtete und 2012 zunächst | |
nach Qamischli und von dort weiter nach Batman ging. Er ließ die Uni, sein | |
geliebtes Land und seine Freunde zurück. Nach anderthalb Jahren in Batman | |
zog er nach Diyarbakır. | |
Obwohl seine Noten gut genug für ein Studium in Istanbul oder Ankara waren, | |
wollte er lieber hier weiter studieren und immatrikulierte sich für | |
Rechtswissenschaften an der Dicle-Universität. Er mietete eine Wohnung im | |
Viertel Hasırlı in der Altstadt Sur, als es hier mit den Gefechten losging, | |
zog er weiter nach Bağlar. | |
Türkisch hat er auf der Straße gelernt. Er arbeitet heute für die Stiftung | |
Ehrenamtliche aus der Gesellschaft (Toplum Gönüllüleri), nimmt Kontakt zu | |
den Geflüchteten in der Stadt auf. „Mittlerweile kann ich an der Art, wie | |
sie einen begrüßen, erkennen, ob in dem Haus Kurden, Araber oder Roma | |
wohnen. | |
Dementsprechend reden wir mit den einen an der Tür und mit den anderen in | |
der Wohnung. Die Umstände, die wir vorfinden, machen uns betroffen, aber | |
ich habe dermaßen viel Kriegsbrutalität erlebt, dass ich die Sache | |
inzwischen mit mehr Ruhe und Gelassenheit angehe“, erzählt er. Ahmad möchte | |
weiter in Diyarbakır bleiben. „Ich habe das Gefühl hierherzugehören“, sa… | |
er. „Mein Weg ist klar. Nach dem Studium werde ich hier arbeiten.“ | |
## Ein Leben voller Ungewissheiten | |
Ruken Şeyhmus kam vor fünf Jahren aus Damaskus nach Diyarbakır. „Am Anfang | |
war es schwer“, sagt sie. „Ich war 17. Du verlässt dein Land, dein Zuhause, | |
deine Schule, deine Freunde, dein Bett. Dann baute ich mir einen neuen | |
Kreis auf, löste das Sprachproblem und gewöhnte mich ein.“ | |
In Diyarbakır lernte sie die Stiftung Ehrenamtliche aus der Gesellschaft | |
kennen und wurde für sie tätig. Es tue ihr gut, etwas für die Geflüchteten | |
in Diyarbakır zu tun. Sie dolmetscht für sie in Gesundheitsfragen. „Wir | |
bemühen uns, unsere Wunden selbst zu versorgen“, sagt Ruken. Derzeit | |
bereitet sie sich auf die Uni-Zulassungsprüfung für ausländische | |
Studierende vor. | |
Endlich finden wir die gesuchte Adresse. Auf einem Transparent oben an dem | |
zweistöckigen Haus steht: „In den Mauern von Sur erblühen Rosen“, dazu ei… | |
Anzeige des Sozialhilfeprogramms (SODES): „Korankurs für Mädchen“. | |
An der Tür begrüßt uns ein älterer Herr, Fadıl Muhammed Ali, und bittet uns | |
herein. In einem der beiden Zimmer sehen wir Stoffe und Nähmaterialien | |
liegen. Wir gehen in den zweiten Raum, wo der Putz von den Wänden bröckelt, | |
am Fenstergriff hängt eine Brottüte, aus einem alten Fernsehapparat | |
erklingt arabische Musik. | |
## Von Sur nach Istanbul und wieder zurück | |
Auf einer Matratze neben dem beheizten Ofen fällt uns ein Junge auf, der | |
eine körperliche Behinderung hat. Fadıls Sohn Rafet. Seit einem schweren | |
Fieberkrampf im Alter von 9 Jahren ist er gelähmt. Sie ließen nichts | |
unversucht, konnten ihn aber nicht heilen. Rafet ist jetzt 22. Er besteht | |
nur noch aus Haut und Knochen und kann weder sprechen noch laufen. | |
Die Familie hat außer Rafet sechs weitere Kinder. Fadıls Frau Nebiha | |
Muhammed kommt mit dem Teetablett herein. Vor fünf Jahren flüchteten sie | |
vor dem Krieg in Syrien nach Diyarbakır. In der Heimat waren sie als | |
Schneider tätig und erzählen, dass sie versuchen, den Beruf hier weiter | |
auszuüben. Als die Kämpfe in Sur begannen, flüchteten sie nach Istanbul. | |
Dort aber war es schwierig, sie kannten weder die Stadt noch die Sprache, | |
und kamen zurück nach Diyarbakır. Zwei Töchter arbeiten in der | |
Porzellanmanufaktur. Wenn Nebiha erzählt, kümmert Fadıl sich um Sohn Rafet. | |
Sie sagt, für Rafet erhielten sie nur Unterstützung für die Windeln und | |
zeigt die klinischen Atteste ihres Sohnes. Während Nebiha erzählt, wird die | |
Stimmung im Zimmer immer schwerer. Es drängen sich die Eindrücke vom Krieg | |
zerstörter Leben, Armut und dem Flüchtlingsdasein auf ein einziges Bild. | |
## Geografie ist Schicksal | |
Gerade als man denkt wie wenige hiervon erfahren, fällt der Blick auf Ahmad | |
und Ruken. Zwei strahlende junge Menschen. Sie gehören zu jenen, die dafür | |
sorgen, dass all das gesehen und gehört wird. Sie kommen aus der selben | |
Region. Es heißt Geografie sei Schicksal, vielleicht bedeutet es auch | |
Kummer. | |
Offiziellen Angaben zufolge leben in Diyarbakır 35.000 geflüchtete | |
Menschen. Die 2002 gegründete Stiftung Ehrenamtliche aus der Gesellschaft | |
sorgt dafür, dass junge Freiwillige soziale Verantwortung übernehmen und | |
sich engagieren und trägt so zu deren persönlichen Entwicklung bei. | |
Im Juni 2015 startete dann noch das Projekt Unterstützung für junge | |
Geflüchtete, dass finanziell mit Mitteln aus den Vereinigten Staaten und | |
dem Europäischen Amt für humanitäre Hilfe (ECHO) unterstützt wird. Zweck | |
dieser Gemeinschaftsinitiative der Stiftung und des UN-Bevölkerungsfonds | |
UNFPA ist es, Menschen zwischen 18-30 Jahren zu unterstützen, physische | |
Bedarfe zu decken und junge Leute aus der Türkei und den kurdischen | |
Gebieten zusammenzubringen. In der Einrichtung, in der sich syrische und | |
türkisch-kurdische junge Menschen begegnen, gibt es Computer- und | |
Sprachkurse (Türkisch, Kurdisch, Arabisch, Englisch), Angebote zur | |
Berufsvorbereitung, Sport, künstlerische und kulturelle Angebote. | |
In der Stiftung arbeiten zehn Personen für das Projekt, darunter | |
Psycholog*innen, Krankenpfleger*innen und Student*innen. Zudem gibt es | |
Workshops, die Geflüchtete selbst leiten. Sie bereiten etwa junge | |
Erwachsene auf die Uni-Zulassungsprüfung für ausländische Studierende vor. | |
## Unterstützung für Frauen und Jugendliche | |
Mindestens vier Tage die Woche werden bei ausgewählten Familien in | |
Begleitung von Psycholog*innen und Krankenpfleger*innen Hausbesuche | |
durchgeführt. Man stellt sicher, dass Kranke versorgt werden, und lädt in | |
die Einrichtung ein. Bei wöchentlichen Aktivitäten werden Projekte | |
generiert. Es gibt Nähkurse und auch Workshops, bei denen Frauen über | |
sexuelle Gesundheit und Familienplanung beraten werden. Auch werden | |
Carepakete verteilt, die Artikel der Frauenhygiene für jeweils drei Monate | |
enthalten. | |
Der UN-Bevölkerungsfond UNFPA strebt an, jeder Frau, jedem Mann, jedem | |
Jugendlichen ein gesundes, gleichberechtigtes Leben zu ermöglichen und ist | |
seit über 40 Jahren in der Türkei tätig. Die UN-Organisation engagiert sich | |
vor allem für die Stärkung der Stellung der Frau, die Gendergleichstellung | |
und die Verbesserung der sexuellen Gesundheit, indem sie vor allem Frauen | |
und Jugendlichen hilft, ihre Bedarfe zu decken. | |
Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe | |
3 Apr 2017 | |
## AUTOREN | |
Bircan Değirmenci | |
## TAGS | |
taz.gazete | |
Schwerpunkt Syrien | |
taz.gazete | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
C-Waffen-Angriff in Syrien: Giftiger Streit über Giftgas | |
Die Zahl der Toten des Angriffs von Chan Scheichun steigt auf 72. Russland | |
stellt sich schützend vor die Assad-Regierung. |