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# taz.de -- Essay: Die Banalität des Ganzen
> Auf dem Weg zur Demokratisierung hat sich erneut der Despotismus
> durchgesetzt. Warum? Unser Gastautor sucht nach Antworten.
Bild: Wir fordern: Wassermelonen statt Politik!
Die derzeitigen Entwicklungen in der Türkei werfen sehr verstörende Fragen
auf. Eine Parallele zu den USA drängt sich auf, fragt man sich doch jeden
Tag, wie das alles möglich sein kann, was in den nächsten Wochen und
Monaten wohl noch alles ertragen werden muss und wann endlich Schluss ist
mit den Übergriffen auf liberale Prinzipien. Eine Kollegin aus der Türkei
argumentierte zuletzt, diese von vielen geteilte Wahrnehmung in der Causa
Trump sei der einzige Grund, etwas Schadenfreude am Ergebnis der
US-Präsidentschaftswahlen zu empfinden. Sie zwinge Westlern nämlich eine
gewisse Solidarität mit der türkischen Bevölkerung auf, die seit
Jahrzehnten Erfahrungen mit erratischen Eliten mache. Nun, so ihr Argument,
würden Europäer und Amerikaner sicherlich nachvollziehen können, wie sich
politisch Aufrichtige in der Türkei fühlten. Diese seien nämlich jahrein,
jahraus einem politischen Diskurs ausgesetzt, dem es an kognitiven
Verirrungen nicht mangele – mit verschwörungstheoretisch anmutenden
Ausführungen zu Finanzmärkten, den wirklichen Interessen von Europäern,
Amerikanern, Juden und Christen, der HDP, liberalen zivilgesellschaftlichen
Organisationen, Intellektuellen, Künstlern und, natürlich, Journalisten.
Die aktuelle Türkei wirft deswegen so viele Fragen auf, weil es die
autoritäre Transformation, die sie zuletzt hinter sich gebracht hat, nicht
hätte geben dürfen. Eigentlich war die Türkei weiterhin auf einem guten Weg
in Richtung Demokratisierung politischer Institutionen, befand sich in
einer positiven Dynamik, was die Konfliktverregelung der türkischen
Kurdenfrage betraf, hatte die globale Finanzkrise von 2008 relativ gut
überstanden und hielt, trotz der Streitigkeiten um die Zukunft Zyperns, an
ihrem Europäisierungs(dis)kurs fest. Darüber hinaus war das Land von einer,
zugegeben nicht lange anhaltenden, Welle der Begeisterung vonseiten
arabischer Zivilgesellschaften getragen worden, eine Begeisterung darüber,
dass mit der Türkei gleichsam die eigene demokratische Zukunft beschworen
werden konnte, für die man bereit war, auf den Straßen von Kairo und
Damaskus das eigene Leben zu riskieren.
Nach Jahren der Repression ist das nun alles vorbei. Doch wenn keine der
politischen Öffnungen seit 2000 diese autoritäre Wende nach 2012 aufhalten
konnte, was sind sie dann überhaupt wert?
Bislang war es Herrschern in bereits etablierten autoritären Regimen mit
den dazu gehörigen, von möglichst Vielen verinnerlichten Spielregeln und
Grenzen des Politischen vorbehalten, Liberalisierungsschritte auf
strategische Art und Weise umzusetzen. Das tat man, um Teile der Opposition
für das Regime zu gewinnen, um zivilgesellschaftliche Organisationen zu
kooptieren und um in der globalen Öffentlichkeit das Ziel der Demokratie
für sich zu beanspruchen und sich somit dem Zeitgeist anzupassen. Dass aber
Liberalisierungen im Kontext real existierender demokratischer
Institutionen zu einer unaufhaltbaren Akkumulierung politischer Macht
führen konnten, war so nicht vorgesehen. Denn man ging davon aus, dass sich
eine ermächtigte Zivilgesellschaft ihren Handlungsspielraum nicht mehr
würde nehmen lassen, zumal nicht unter Bedingungen formal freier und
geheimer Wahlen.
Es gibt zahlreiche Gründe dafür, dass die moderne Türkei seit ihrer
Entstehung noch nie wirklich demokratisch war. Das autoritäre Staatsprojekt
des Republikgründers Mustafa Kemal Atatürk, der Umstand, dass Demokratie in
der türkischen Geschichte nie erfolgreich von unten erkämpft, sondern immer
nur von oben gewährt wurde, und der rassische Nationalismus sind vermutlich
die wichtigsten Gründe für diesen Mangel an Demokratie. Aus ihnen kann man
ableiten, warum die formal demokratischen Institutionen dem Ansturm der
autokratiebegeisterten AKP-Anhängerschaft nicht trotzen konnten. So können
letztere angesichts dieser widersprüchlichen Demokratiegeschichte für sich
beanspruchen, dass die AKP immerhin mehr Freiheit und Gleichheit produziert
hat als die vorigen Eliten.
Die AKP muss sich aber den Vorwurf gefallen lassen, diesem
Herrschaftsanspruch einfach nicht mehr zu genügen zu können. Ihre
Unfähigkeit, Macht mit anderen Akteuren und Organisationen zu teilen und
Dissens zumindest zu tolerieren, zwingt sie seit Jahren zur Ausweitung
repressiver Maßnahmen gegen Andersdenkende. Ihre jüngsten Opfer sind die
die Berufsstände des Journalismus und der Sozial- und
Geisteswissenschaften, deren Aufgabe es nun einmal ist, von den
Regierungsdiskursen abweichende Sichtweisen auf die Entwicklungen der
letzten zwei Jahrzehnte zu produzieren.
Die AKP hat damit eine Grenze erreicht. Sie kann zwar weiterhin für sich
beanspruchen, den Willen der Mehrheit der türkischen Bevölkerung zu
repräsentieren. Sie und ihre Apologeten haben jedoch die Fähigkeit
verloren, Menschen mit Argumenten, mit Ideen und Narrativen zu überzeugen
und emotional für die gemeinsame Sache zu begeistern. Ihre Anhänger
scheinen derzeit zu erkennen, dass die Strategie der kulturellen
Polarisierung ihr zwar zur jetzigen Machtfülle verholfen hat, aus der
türkischen Gesellschaft aber nicht mehr an Stimmen rauszupressen ist. Also
kann die AKP auf Kritik und Ungehorsam nur noch mit Verratsvorwürfen und
Zwang reagieren, wenn der demokratische Diskurs und der Streit in der
Öffentlichkeit kein Mehr an politischer Macht produziert.
Es bedarf keiner akademischen und journalistischen Expertise mehr, um zu
erkennen, dass die AKP nur noch mit nackter Gewalt regiert und auf
Herausforderungen reagiert. Die juristische Willkür, der Angeklagte
ausgesetzt sind und die keine Gleichbehandlung vor dem Gesetz ermöglicht,
spricht für sich. Das alles erfolgt mit einem Ausmaß an Einschüchterung,
das seinesgleichen sucht. Mit Rechtfertigungen, die von keiner außer der
AKP-Öffentlichkeit mehr ernst genommen werden können und die auch dort nur
unter Bedingungen einer aggressiven Eingrenzung der
Meinungsäußerungsfreiheit gelten können.
Das Kuriose ist, dass die AKP ihren Gewalteinsatz nicht einmal mehr
versucht zu verschleiern. Es ist dieses Ausmaß an Banalität, welches
Beobachter staunen und die der AKP-Macht schutzlos Ausgelieferten schaudern
lässt. Diese Banalität wird im Falle des Endes dieser despotischen
Herrschaft eine gesellschaftliche Aussöhnung unmöglich machen. Im Angesicht
dieses allzu sichtbaren physischen und psychischen Zwangs zur Erzwingung
von Gefolgschaft werden die heute Überlegenen einfach keine
zufriedenstellende Antwort auf die Frage abgeben können, wie sie diese neue
Unfreiheit freiwillig und bei geheimen Wahlen zulassen konnten. Damit sind
die aktuellen Unrechtserfahrungen auf Jahrzehnte in die Körper der
Bevölkerung eingeschrieben. Und die Hoffnungen auf ein friedliches
Miteinander auf absehbare Zeit einfach nicht mehr einlösbar. Leider.
27 Mar 2017
## AUTOREN
Roy Karadağ
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