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# taz.de -- Kein Heim, ein Exil soll das Land sein
> Theater Die erste Produktion des Exil Ensemble am Maxim Gorki Theater ist
> trotz starken Tobaks extrem unterhaltsam. „Winterreise“ erzählt von einer
> vielsagenden Busreise des Ensembles quer durch Deutschland
Bild: Karim Daoud, Niels Bormann, Maryam Abu Khaled, Ayham Majid Agha, Hussein …
von Julika Bickel
Schirme sind gefährliche Wurfgeschosse, erklärt der Busfahrer. Er habe
schon mal gesehen, wie sich einer in den Kopf einer Frau gebohrt habe. Aus
Sicherheitsgründen darf man auch nicht im Gang herumlaufen. Flüssigkeiten
sind verboten. Auf dem Teppich dürfen keine Krümel landen. Wer kleckert,
muss die chemische Reinigung zahlen. Küche und Toilette sind ebenfalls
Tabu, weil sie keine Stewardess hinzugebucht hätten.
Während der Fahrer die Regeln aufzählt, macht sich der Reiseleiter Niels
Bormann Sorgen wegen Pegida. Es ist Montag und sie sind auf dem Weg nach
Dresden. Wann ist wohl der richtige Zeitpunkt, um seine Fahrgäste aus
Syrien, Palästina und Afghanistan auf einen möglicherweise feindlichen
Empfang in Sachsen vorzubereiten? Dabei will er ihnen doch Deutschlands
Klassik und Romantik zeigen.
Im Januar dieses Jahres reiste das Exil Ensemble des Gorki-Theaters zwei
Wochen lang mit dem Bus durch Deutschland mit einem Abstecher in die
Schweiz. In „Winterreise“, das am Samstag Premiere hatte, erzählen sie
ihren Roadtrip nach. Die sieben Mitglieder des gerade gegründeten Ensembles
sind professionelle Schauspieler*innen, die gezwungen sind, im Exil zu
leben. Das Recherchetheaterstück, das sie gemeinsam mit
Gorki-Hausregisseurin Yael Ronen entwickelt haben, ist ihre erste
Produktion, und es ist durch und durch fantastisch.
Vor allem ist es extrem lustig. Mit viel Selbstironie berichten sie, was
sie zusammen mit ihrem deutschen Mitspieler auf der Reise erlebt haben.
Maryam Abu Khaled erhält SMS von einem deutschen Mann, in den sie sich
verliebt hat. Was eine „offene Beziehung“ bedeutet, wurde ihr erst klar,
als sie seine Freundin mit deren Freundin kennenlernte und sie mit allen
gemeinsam Kartoffelsalat essen sollte, erzählt sie. Auch was es mit der
Montagsdemo von Pegida auf sich hat, verstehen die Reisenden nicht sofort.
„Wer hat ihnen erzählt, dass wir kommen?“, fragt Maryam. – „Sie wollen…
hier nicht“, erklärt Niels unbeholfen. Später sitzen sie mit Bier und Chips
am Fenster ihrer Unterkunft und versuchen, die Botschaften auf den
Schildern zu entziffern. „Merkel muss weg!“, steht da zum Beispiel, und auf
einem anderen ist die Kanzlerin mit Kopftuch zu sehen. „Ich wusste nicht
mal, dass sie Muslimin ist“, sagt der eine zum anderen.
Dadurch, dass die Schauspieler*innen sich selbst spielen, erhält das Stück
etwas zutiefst Wahrhaftiges. Auf die drei beweglichen Leinwände werden
neben Landschaftsaufnahmen immer wieder Skizzen von Kenda Hmeidan
projiziert. Eine Zeichnung zeigt ihren Exfreund. Mit ihm hat sie die besten
Partys in Damaskus veranstaltet, sagt sie. Doch immer weniger Freunde
kamen: Sie flohen, kamen ins Gefängnis oder verschwanden einfach. Ihr
Freund demonstrierte oft, wurde mehrmals verhaftet. Sie sorgte sich um ihn
und war gleichzeitig neidisch, sagt sie und fängt an zu tanzen und zu
rufen, wie sie es sich nie getraut hat: „Stoppt Abschiebungen!“ Trotzdem
ist klar, dass die Darsteller*innen nicht als Privatpersonen auf der Bühne
stehen, sondern Charaktere in einer Inszenierung spielen.
Gleich zu Anfang unterbrechen sie eine episch anmutende Szene im
Schneegetöse. „Stopp! Es ist nicht klar, was wir hier tun“, sagt Maryam.
Erst sollten sie vom Gespräch erzählen. Alles fing nämlich angeblich damit
an, dass sie ihren Kollegen Niels überredet hätten, ihnen Deutschland zu
zeigen. Sie wollen auch seine dunklen Seiten kennenlernen, wollen
verstehen, warum er Karstadt liebt, und möchten seine Eltern treffen.
Niels in seiner Outdoorkleidung stellt eine Karikatur eines Deutschen dar.
Er mag keinen Rock ’n’ Roll, keine Beziehungen und erst recht nicht die
Realität. Gerade seine Eigenarten machen ihn zu einer besonders
liebenswürdigen Figur. Nachdem sie im KZ Buchenwald waren und fast alle
Alpträume hatten, macht er sich Vorwürfe: „Ich hätte echt nicht mit Pegida
und dem Zweiten Weltkrieg anfangen sollen.“ Neben den witzigen Szenen gibt
es auch viele ernste und tiefsinnige Momente. Die Beteiligten berichten von
Suizidgedanken, Folter und Zwangsheirat. Mit einer Art Puppenspiel, das auf
die Leinwände projiziert wird, erzählen sie von Hussein Al Shathelis Flucht
von Syrien nach Deutschland.
Karim Daoud rappt das Gedicht „Über die Bezeichnung Emigranten“ von Bertolt
Brecht: „Immer fand ich den Namen falsch, den man uns gab: / Emigranten. /
Das heißt doch Auswanderer. Aber wir / Wanderten doch nicht aus, nach
freiem Entschluss / Wählend in ein anderes Land. Wanderten wir doch auch
nicht / Ein in ein Land, dort zu bleiben, womöglich für immer. / Sondern
wir flohen. Vertriebene sind wir, Verbannte. / Und kein Heim, ein Exil soll
das Land sein, das uns da / Aufnahm.“
„Winterreise“ am Maxim Gorki Theater, 13. + 26. 4., 19. + 24. 5.
10 Apr 2017
## AUTOREN
Julika Bickel
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