# taz.de -- Kurzgeschichte aus der Haftanstalt: Grüß mir die dunklen Augen | |
> Der HDP-Ko-Vorsitzende Selahattin Demirtaş befindet sich seit viereinhalb | |
> Monaten in Haft. Er schreibt dort Kurzgeschichten. Dies ist die Neueste. | |
Bild: Selahattin Demirtaş im Juni 2015. | |
Es war sechs Uhr morgens, als der Wecker klingelte. Hüseyin stellte ihn aus | |
und kletterte aus der oberen Etage des Kajütenbetts herab. Auf dem Weg nach | |
unten stieß er den eine Etage unter ihm schlafenden Cemal mit dem Fuß an. | |
Cemal und Hüseyin waren Freunde seit ihrer Kindheit. Sie kamen aus dem | |
gleichen Dorf. Bis zur dritten Grundschulklasse waren sie Schulkameraden. | |
Dann gab Hüseyin die Schule auf, Cemal machte noch die Vierte fertig. Wenn | |
er Hüseyin ab und an wie einen ungebildeten Idioten behandelte, dann | |
deshalb. | |
Sobald sein Fuß den Boden berührte, erinnerte sich Hüseyin daran, dass der | |
heutige Tag ganz anders als alle anderen werden sollte. Sie waren durch mit | |
den endlosen, zwölfstündigen Arbeitstagen und schlaflosen Nächten, die sich | |
so angefühlt hatten, als würden sie ein Leben lang weitergehen. | |
Seit fünfzehn Monaten arbeiteten sie auf dieser Baustelle. Es war jetzt | |
eineinhalb Jahre her, dass sie auf der Suche nach Arbeit ihr Dorf verlassen | |
hatten. Die ersten drei Monate mussten sie sich in Istanbul als | |
Gelegenheitsarbeiter durchschlagen. Dann hatten sie Glück und konnten auf | |
dieser Baustelle anheuern. Weil sie beide erst sechzehn Jahre alt waren, | |
hatte der Bauleiter zunächst seine Bedenken, schließlich aber gefiel ihm, | |
dass sie unversichert und zu niedrigem Lohn arbeiten würden. | |
Insgesamt arbeiteten acht Kinder auf der Baustelle. Von den 60 Arbeitern | |
waren ohnehin nur sechsundzwanzig versichert. Die anderen hatten | |
zugestimmt, illegal und ohne Versicherung zu arbeiten. Kind zu sein war | |
schwer. Doch als Kind illegal zu arbeiten war noch schwerer. Nichts aber | |
war so schwer für Hüseyin wie die Sehnsucht nach Berfin, die er im Dorf | |
zurückgelassen hatte. | |
Nachdem sie den nach Schweiß stinkenden Schlafsaal verlassen und in der | |
Kantine die immer nur lauwarme Suppe hastig geschlürft hatten, liefen sie | |
nicht rüber zur Baustelle, wie sie es die letzten fünfzehn Monate über | |
jeden einzelnen Morgen getan hatten, sondern stellten sich in der Schlange | |
vor der Buchhaltung an, um ihren gesammelten Lohn für die Arbeit der | |
letzten fünfzehn Monate zu erhalten. | |
Es war eine lange Schlange, erschöpft, unglücklich und kaputt. Mit dem | |
Geld, das sie bekommen sollten, wollten sie nach Istanbul zurückkehren, um | |
dort nach einer neuen Arbeit zu suchen. Hüseyins Liebe zu Berfin war wie | |
die Arbeit die er verrichtete nicht gestattet, kindlich und ohne jede | |
Absicherung. Er hatte ihr nur zwei heimliche Briefe geschickt, seit er das | |
Dorf verlassen hatte. | |
Eigentlich hatte er die Briefe, da er Berfin nicht schreiben durfte, an | |
seine Schwester Zeliha geschickt und sich gedacht, sie sei sicher schlau | |
genug, um sie an Berfin weiterzugeben. Genau genommen kam der Name Berfin | |
nirgendwo in den Briefen vor. Aber Zeliha würde es wohl verstehen und | |
Berfin die Sehnsucht ihres großen Bruders nach ihr ausrichten. Aber auch | |
das Wort Sehnsucht kam nirgendwo vor. Damit niemand Verdacht schöpfte, | |
hatte er sich in seiner Wortwahl sehr zurückgehalten. | |
Er vertraute nur dem Satz: „Grüß mir die dunklen Augen“, den er an den | |
Schluss jedes Briefes angefügt hatte. Zwar hatten im Dorf alle dunkle | |
Augen, aber niemandes dunkle Augen waren so dunkel wie die von Berfin. | |
Eigentlich hatte er Cemal die Briefe schreiben lassen. Cemal hatte immerhin | |
die bessere Schulbildung. Nachdem auf die beiden Briefe keine Antwort kam, | |
ärgerte sich Hüseyin noch mehr darüber, dass er nicht länger zur Schule | |
gegangen war. | |
Weiter vorne in der langen, stillen, unglücklichen Schlange kam Bewegung | |
auf, und Hüseyin riss sich von seinen finsteren Gedanken los. Er fing | |
Cemals Blick auf. Das Geraune, das die Bewegung verursacht hatte, setzte | |
sich nach hinten fort und veränderte sich von Mund zu Ohr, bis es etwas | |
entstellt das Ende der Schlange erreichte: Der Buchhalter war verschwunden! | |
Schnell hatte jeder eine Meinung dazu, was jetzt passieren würde. Die | |
Menschen hatten fünfzehn Monate Tag und Nacht wie Sklaven geschuftet, ohne | |
einen Mucks von sich zu geben. Mit einem Mal waren sie kurz vor einem | |
Aufstand. Sie nörgelten wütend. Das Warten kam ihnen länger vor als die | |
vorigen Monate. Dann überkam sie wieder eine angespannte Stille. | |
Cemal hatte vergessen, die Absenderadresse auf den Umschlag der beiden | |
Briefe zu schreiben. Schlimmer noch, er hatte auch vergessen, die genaue | |
Postadresse des Dorfes zu schreiben. Die ausbleibende Antwort aus dem Dorf | |
hatte Hüseyin um den Schlaf gebracht. Obwohl er jeden Tag zwölf Stunden | |
lang Sklavenarbeit leistete, konnte er nachts nicht schlafen. | |
An die Decke über seinem Nachtlager auf dem Kajütenbett hatte er mit einem | |
Kuli Berfin geschrieben. Er konnte den Schriftzug sogar nachts in der | |
Dunkelheit sehen. Beim Verputzen auf der Baustelle hatte er Mal um Mal mit | |
der Ecke der Kelle Berfin geschrieben und es dann wieder mit der flachen | |
Seite sauber verputzt. | |
Cemal war über Hüseyins Gespenstereien regelrecht zum Dämon geworden. Er | |
hatte ihn zu trösten und aufzubauen versucht, und als es nicht klappte, | |
hatte er ihn verflucht und sogar getreten. Hüseyin aber tauchte ab in seine | |
Tagträume, ohne sich darum zu scheren. | |
Er erinnerte sich an alles, worüber Berfin und er gesprochen hatten, wenn | |
sie sich heimlich im Dorf trafen. Berfin hatte bis zum Ende der fünften | |
Klasse zur Schule gehen können. Dann hieß es, Bildung ist nichts für | |
Mädchen, sie wurde von der Schule genommen und auf die Heirat vorbereitet. | |
Es war schwer, ein Kind in einem winzigen Dorf in Muş zu sein. Mädchen zu | |
sein war noch schwerer. Und als Kind verheiratet zu werden war am | |
Allerschwersten. Berfin – das Schneeglöckchen – war ein aufsässiges | |
Blümchen. | |
Bisher hatte sie sich noch keiner Schwierigkeit gebeugt. Sie hatte sich | |
dagegen gewehrt, verheiratet zu werden, und einen Riesenaufstand gemacht. | |
Sie war nämlich auch heimlich in Hüseyin verliebt. Aber sie sehnte sich | |
auch nach Höherem. Nach etwas viel Höherem. Das hatte sie Hüseyin mal | |
angedeutet. Sie sprach davon, zu gehen. Es kam also nicht von ungefähr, | |
dass seine Liebe so arg brannte, so unverzichtbar für ihn war und doch so | |
hoffnungslos. | |
Dieses Geheimnis hatte Hüseyin nicht einmal Cemal anvertraut. Als der | |
Vorarbeiter aus dem Baustellenbüro herauskam und auf die Arbeiter zuging, | |
kam wieder Leben in die Schlange. Alle spitzten die Ohren. Ohne auch nur | |
seine Stimme zu heben sagte der Mann: „Eure auszuzahlenden Löhne könnt ihr | |
euch in der Firmenzentrale in Istanbul abholen…“ | |
Zuerst waren alle still. Dann begann das Murren. Der Vorarbeiter wollte | |
sich schon umdrehen und gehen, da sagte er noch: „Der Shuttlebus fährt in | |
zehn Minuten ab. Alles paletti?“ Die Arbeiter hörten auf zu murren. Sie | |
ließen ihre Köpfe hängen, lösten die Schlange auf und schlurften schweren | |
Schrittes auf den abgewrackten Bus zu, der sie in die Stadt bringen sollte. | |
Hüseyin wurde von einer schweren Unruhe und tiefen Wehmut erfüllt. Wenn es | |
auf dieser Welt noch einen anderen Menschen gab, der mit einer ähnlichen | |
Wehmut wie Hüseyin an Berfin denkt und sich in Sehnsucht verzerrt, dann war | |
es ihre Mutter. Denn zwei Wochen, nachdem Hüseyin das Dorf verlassen hatte, | |
verschwand Berfin. | |
„Auf dass dir kein Haar gekrümmt wird“, hatte ihre Mutter ihr hinterher | |
gerufen, als sie ging. Seit jenem Tag richtete sie bei jedem Morgengebet | |
die Augen gen Himmel und betete für ihre zarte Tochter Berfin. Der kleine | |
Bus mit den Arbeitern wühlte sich schwerfällig durch den Matsch und Hüseyin | |
drehte seinen Kopf, um durch die Heckscheibe ein letztes Mal das Gebäude | |
anzuschauen, das sie fertiggestellt hatten. | |
Genau über der Eingangspforte hing ein riesiges Schild: | |
„Hochsicherheitsgefängnis Edirne“. Cemal drehte sich ebenfalls um und | |
schaute in die gleiche Richtung. Dann blickten sie einander an. Schnell | |
wendeten sie voller Scham ihre Augen voneinander ab, als seien sie von | |
jemandem auf frischer Tat ertappt worden. | |
Der abgewrackte Arbeitershuttle fuhr über die matschige Wiese auf den | |
Zubringer, der sie zur Autobahn führen sollte, und die versicherten und | |
unversicherten, alten und noch kindlichen Arbeiter nahmen einander in den | |
Arm und machten sich auf den Weg aus einer traurigen Vergangenheit in eine | |
ungewisse Zukunft. Still sandte Hüseyin seine Grüße an die dunklen Augen | |
aus. Cemal schimpfte leise auf Hüseyin und auf das Schild. | |
Selahattin Demirtaş, HDP-Ko-Vorsitzender, Haftanstalt Edirne | |
Aus dem Türkischen von Oliver Kontny | |
20 Mar 2017 | |
## AUTOREN | |
Selahattin Demirtaş | |
## TAGS | |
taz.gazete | |
Politik | |
taz.gazete | |
Schwerpunkt Türkei | |
taz.gazete | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Verfassungsreferendum in der Türkei: Kurdische HDP ausgebremst | |
Im Wahlkampf der Türkei ist die Oppositionspartei HDP kaum wahrnehmbar. Sie | |
beklagt einen Medienboykott, Schlägertrupps und Polizeischikanen. |