# taz.de -- „Mit Klang kann man nicht schummeln“ | |
> Neue Musik „The Long Now“ hieß die 30-stündige Abschlussveranstaltung d… | |
> 10-tägigen Festivals Maerzmusik, bei der auch der ikonische | |
> Klangexperimentator Alvin Lucier aus den USA wieder im Kraftwerk | |
> performte | |
Bild: Alvin Lucier im Jahr 1999 | |
von Tabea Köbler | |
Alvin Lucier sitzt regungslos und gespannt in einem roten Pullover auf der | |
Bühne und schaut auf Hunderte Feldbetten. Mit geschlossenen Augen lässt | |
sich das Publikum auf der 30-stündigen Abschlussveranstaltung „The Long | |
Now“ des Maerzmusik Festivals für Zeitfragen in die Metamorphose von Text | |
zu Resonanzklang fallen. „I Am Sitting in a Room“, ein bekanntes Stück für | |
Stimme und Tonband von 1970. Lucier hat einen Text eingesprochen, der | |
erklärt, was geschieht, spielt ihn immer wieder in den gewaltigen Raum des | |
Berliner Kraftwerks mit den nackten Betonwänden und nimmt die Wiedergabe | |
jedes Mal erneut auf. | |
Etwa nach der fünften Wiederaufnahme des eingesprochenen Texts beginnen | |
sich die S-Laute deutlich zu verschärfen, und ein Fiepen haftet ihnen an. | |
Nach etwa zwanzig Minuten ist fast nur noch die natürliche Resonanz des | |
ursprünglich gesprochenen Texts zu hören. Die Worte haben ihre Form | |
verloren. Stattdessen beginnen sich die wogenden Resonanzen sich selbst zu | |
verstärken. | |
Alvin Lucier ist Komponist und Klangkünstler. 1931 wurde er im | |
amerikanischen Nashua, New Hampshire geboren. Seine Stücke balancieren | |
zwischen Performance, Komposition und wissenschaftlichem Experiment: Sie | |
forschen nach dem Wesen und der Wirkung von Klang und nutzen die natürliche | |
Schwingung von Instrumenten und Dingen. Insgesamt sechs seiner Stücke | |
fanden im Programm der Maerzmusik Zeit. Kein Versuch, dem jüngsten Stück | |
Gegenwart hinterherzulaufen. Der rasanten Halbwertszeit von aktueller Musik | |
setzt das Festival Jahr die Geduld entgegen, schwerpunktartig das Œuvre | |
einiger weniger Komponisten zu vertiefen – etwa das von Alvin Lucier. | |
Mit winzigen Schritten bewegte sich dieser am Dienstagabend über die Bühne | |
im Haus der Berliner Festspiele. In der Performance „Bird and Person | |
Dyning“ von 1975 schaukelten sich die binauralen Mikrofone in seinen Ohren | |
und das synthetische Vogelzwitschern aus den Lautsprechern gegenseitig zu | |
einer schrillen, unvergleichlich intensiven Zufallssinfonie aus Feedback | |
und psychoakustischen Phantomtönen auf. Viele Gesichter im Publikum | |
verrieten Anspannung. Einige verließen sogar unwirschen Schrittes den Raum. | |
Dann löste sich alles in tosendem Applaus. | |
„Meine Erziehung war eine der Ausweitung“, sagt Lucier. Er glaubt fest | |
daran, dass man sich Musik immer ausliefern muss, um ihre Schönheit zu | |
finden. Dem Programm der Maerzmusik ist dieselbe Einladung an ein Publikum | |
mit rund sechzig Jahren Altersspanne, sich einem breiten Spektrum (Neuer) | |
Musik auszuliefern, zehn Tage lang immer wieder gelungen. Zusätzlich | |
widmete sich das Festival auf theoretischer Ebene mit der Konferenz | |
„Thinking Together“ den diversen gesellschaftlich-künstlerischen Ebenen von | |
Zeit. | |
Alvin Lucier weicht Gesprächen auf Metaebene gern aus und überlässt seinen | |
Stücken den Kommentar. Er habe „no ideas but in things“, keine Ideen außer | |
den Sachen selbst, so zitiert er gern den Dichter William Carlos Williams. | |
Im Publikumsgespräch sagt Lucier zum Thema Zeit, etwas heiser: „Zeit ist | |
etwas sehr Reales. Ich glaube nicht an psychologische Zeit in Musik. Klang | |
hat eine messbare physikalische Geschwindigkeit. Deswegen ist das Benutzen | |
von Klang sehr real, man kann hier nicht schummeln“. | |
Auch in seinem Kompositionsansatz, der auf „Neutralität“ zielt, rückt | |
Lucier seine Person in den Hintergrund. Es gehe ihm um „natürliche | |
Reaktionen“, der Klänge, Räume und Menschen, die völlig unmittelbar | |
miteinander interagieren. „Ich entscheide nie auf der Basis von Kriterien | |
wie ‚Das ist schöner‘ “, sagt er und fügt hinzu, dass er nie kalkuliert | |
Sounds nutzen würde, um ein bestimmtes Gefühl auszulösen. Das wäre | |
cheating, also schummeln, findet er. | |
Nichtbeeinflussung und Absichtlosigkeit spielen in Luciers Werk eine große | |
Rolle. Es interessiert ihn nicht, sich auszudrücken; er sucht nach dem | |
Ausdruck des Klangs selbst: „Man sollte nicht eingreifen. Man überlässt den | |
Klang für eine Weile sich selbst, und etwas Wunderbares wird passieren. Es | |
ist, als würde man in einem Wald auf ein Tier warten. Man muss ruhig | |
verharren, sonst taucht es nie auf.“ | |
27 Mar 2017 | |
## AUTOREN | |
Tabea Köbler | |
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