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# taz.de -- Die Wahrheit: Die Slowies kommen
> Wir haben es immer geahnt, doch jetzt besteht endlich Gewissheit: Die
> Lebensschleicher sind unter uns und überall.
Bild: Weltweit bevorzugte Spielwiese der Slowies ist die Rolltreppe
Wir kennen es alle: Man hat es eilig – und vor einem an der Kasse mümmelt
der Rentner: „Ich hab’s passend“, und fängt an zu kramen. Direkt am Fuß…
Rolltreppe bleiben zwei Kundinnen stehen und überlegen, ob sie wirklich zur
Damenoberbekleidung wollen. Auf der Mittelspur der Autobahn hält ein
Hutträger konsequent Tempo 80. Zielsicher an der engsten Stelle des
Bürgersteigs stellen zwei Muttis die Kinderwagen quer für ein Schwätzchen.
Und in der S-Bahn-Tür legt ein Smartphone-Junkie mal eben den Berufsverkehr
lahm.
All diese Menschen halten den Betrieb auf. Nichtsahnend, dachten wir
bisher. Aber weit gefehlt, wie südamerikanische Forscher jetzt enthüllt
haben. „Es war zwischen Siesta und Faultierfütterung“, erinnert sich Dr.
Paulatina Lento vom IMSL (Institut für Langsame Soziale Bewegungen) im
peruanischen Hochland-Städtchen Puerto Tranquilo, „als wir drauf kamen, was
da los ist.“ Anfang der achtziger Jahre, so die laszive Forscherin mit dem
Schlafzimmerblick, ging es bekanntlich so richtig los mit dem
Turbokapitalismus – Reagan, Thatcher, Deregulierung. Und hektisch immer
mitten drin: die früheren Achtundsechziger.
Deshalb bildete sich damals eine neue, verdeckt arbeitende
Widerstandbewegung heraus: die Slowies. Rückkehrer aus Lateinamerika
brachten die „Mañana“-Mentalität mit nach Europa – sie hatten begriffen,
dass die Herstellung eines Ponchos nur deshalb zwei Jahre dauert, weil die
Frauen meist im Webstuhl sitzen und schlummern.
Auch wenn das europäische Hauptquartier der Bewegung in Slowenien sitzt,
wurde die Effizienzhölle Deutschland zum Hauptziel: Hier fallen ihre
Aktionen wenigstens auf. Sten Nadolny veröffentlichte 1983 mit der
„Entdeckung der Langsamkeit“ das heimliche, als historischen Roman getarnte
Manifest der Slowies. Gesteuert werden die Aktivisten durch verdeckte
Schläfer in Fußgängerzonen, die sich als Panflötenspieler ausgeben. Sie
haben unzählige Mitstreiter als „humane Bots“ in die Gesellschaft
eingeschleust – mit dem einzigen Auftrag, Sand ins Getriebe zu streuen. Und
plötzlich bekommt alles einen Sinn!
Wer sich immer gefragt hat, warum alle Rentner zwanghaft am
Samstagvormittag einkaufen gehen – darum! Und natürlich stimmt es, dass 50
Prozent der Insassen von Wartezimmern gar nicht zum Arzt wollen – sondern
nur den Betrieb aufhalten. Auch die allermeisten Rollatoren und
Elektrorollstuhl-SUVs werden gar nicht gebraucht – aber sie nehmen halt so
schön viel Platz weg. Dasselbe gilt für Laternen- und Karnevalsumzüge:
alles konspirativ gesteuerte Slowie-Aktionen.
Die Slowies bekämpfen so unterschiedliche Dinge wie den Expressbrief, den
Hochfrequenzhandel, die vorzeitige Ejakulation, die Rückpassregel, die
Breaking News, die Fast-forward-Taste, das Speed-Dating, das Gaspedal, den
Blitzkrieg und das Blaulicht. Und natürlich: den Terminkalender! Alles
Werkzeuge des Teufels. Bedauern tut man bis heute, dass sich im 16.
Jahrhundert mit knapper Mehrheit die Calvinisten durchsetzten – gegen die
weitaus entspannteren Calministen.
Mittlerweile haben die Slowies eine eigene Grammatik entwickelt – unter
anderem mit der Zeitform des Retardivum, der „sich sehr langsam
vollendenden Gegenwart“. Beispielsatz: „Ich werde vielleicht irgendwann
angekommen sein.“ Auch einen 5. Fall haben sie entwickelt: Der Prokrastiv
fügt überall ein „noch nicht“ ein. Nominativ: „Ich stehe auf.“ Prokra…
„Ich stehe noch nicht auf.“ Und zusätzlich zum Aktiv und Passiv gibt es das
Dormiv, bei dem niemand was macht und mit niemandem was gemacht wird.
## Großes Vorbild ist die DDR
Heute ist Slowing die trendige Widerstandsform gegen den
Hochfrequenz-Kapitalismus – für alle, denen nicht nur Attac, sondern auch
Martin Schulz zu hektisch sind. Ihr Motto lautet: „Was lange währt, wird
sich auch wieder beruhigen.“ Und ihr großes Vorbild ist die DDR: „Überholt
werden, ohne einholen zu gehen“ – und eine Mauer, die große Sprünge
zuverlässig verhinderte.
Natürlich sind die Slowies stolz auf ihre Erfolge: Bei der Elbphilharmonie
sind sie zwar irgendwann aufgeflogen, aber der Berliner Flughafen ist das
erste Projekt, bei dem die Vollübernahme zehn Jahre lang unbemerkt
geblieben ist. Und auch sonst können sie zufrieden sein: Sie sitzen in
praktisch allen Planungsstäben und Verwaltungen. Sie organisieren mehr als
60 Prozent der Straßenbaustellen und stellen die Tempolimit-Schilder auf.
Und sie haben mit Lang Lang auch einen Mann im Musikbusiness.
Aber die Slowies haben noch Ziele: Alle Schulen sollen mit 68-K-Modems
ausgerüstet und alle Industrieanlagen auf Kriechstrom umgestellt werden.
Und Ruhe geben sie wohl erst, wenn die Parole „Kiffen statt Koksen“ sich
auch bei Topmanagern durchgesetzt hat – und wenn endlich alle Rolltreppen
beschildert sind: „Rechts stehen, links auch“. und
13 Mar 2017
## AUTOREN
Andreas Czech
Oliver Domzalski
## TAGS
Schwerpunkt 1968
Ostern
Hollywood
Bekennerschreiben
Fifa
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