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# taz.de -- Kühe am Atomkraftwerk
> Lyrik Tom Schulz’ Gedichte sind wie Stolpersteine: Sie erinnern
> daran,hinter die Fassade zu blicken. Heute liest er im Brecht-Haus
Stolpersteine erinnern an die Menschen, die in der NS-Zeit vertrieben und
vernichtet wurden. Sie sind ein Projekt des Künstlers Günter Demnig, der
dem Prinzip des Talmuds folgt: „Ein Mensch ist erst vergessen, wenn sein
Name vergessen ist.“ Die Gedenktafeln aus Messing sind im Boden
eingelassen, vor den Häusern, in denen die Menschen wohnten. Die Schicksale
der Verstorbenen bleiben so lebendig. Mittlerweile liegen Stolpersteine in
rund 1.100 Orten Deutschlands und in zwanzig Ländern Europas. Sie sind
klein und unscheinbar. Wer genau hinsieht, entdeckt sie. Und nur wer sich
die Zeit nimmt, stehenzubleiben, kann erinnern.
Tom Schulz’ Gedichte sind lyrische Gedenktafeln. In seinem Gedichtband „Die
Verlegung der Stolpersteine“, jüngst erschienen, nimmt er die Welt aus
einem historisch wachsamen Blickwinkel wahr. Heute liest der 46-jährige
Berliner Autor im Literaturforum im Brecht-Haus. In seinen Gedichten
erkundet er Orte in Deutschland, Litauen und Mexiko. Dabei verbindet er die
Gegenwart mit Erinnerungen seiner Großeltern und eigenen
Kindheitserlebnissen in der DDR und verschneidet diese persönlichen
Erfahrungen mit der Geschichte des 20. und 21. Jahrhunderts.
Die 72 Gedichte haben eine bildstarke Sprache. Oft kommen sie leicht und
unschuldig daher wie in „Prager Straße“, das von einem Spaziergang durch
die Dresdner Innenstadt zur DDR-Zeit erzählt: „Wir gingen über die Prager
Straße / Großmutter und ich / hinter uns die beiden Cousinen / schlichen
auf Schneckensohlen / wie Rosenrot und Pechmarie“. Doch dann handelt es vom
Bombenangriff auf die Stadt: „Senfgras, schwelendes schwefliges / Gras, an
Böschungen wuchs / eine Flak-Welle hoch / Dresden brennt“.
Die Gedichte sind als Warnung zu verstehen: Menschen zerstören und töten.
Ein besonders heftiges Gedicht heißt „Die Menschenfabrik“. Es beginnt
heiter, doch leicht sarkastisch: „Die Fabrik ist ein Segen. Kinder, spannt
die Schirme auf. Es wird Geld regnen. Ein bisschen Manchester, Arbeit für
alle.“ Langsam schleichen sich Bilder von Zwangsarbeit und Holocaust
hinein: „Fällt einer um, gehört er zu den Fliegen. Fällt einer in den
Graben, fressen ihn die Raben. Liegt einer in der Grube, legt sich ein
anderer darüber.“ Es endet mit: „Gott, schütze uns. Im Namen von IG Farbe…
Im Namen von Bayer Monowitz.“
Immer wieder taucht Kritik am Verhalten von Konzernen auf, etwa in „Die
Rodung eines Parks“: „Was wir sagen: / Wir brauchen keine Menschen an der
Schnittstelle / von Profitmaximierung und Geldvernichtung, wir brauchen /
keine Konzerne, die den Garten auf Erden zerstören“. Schulz’ Lyrik nimmt
die unterschiedlichsten Formen an, ist kurz, lang, formt Strophen oder
erscheint als Fließtext. Immer geht es darum, die eigene Wahrnehmung zu
hinterfragen, ob in der Heimat oder als Tourist: „Es stimmt nicht, dass die
meisten Mexikaner komische Hüte tragen“, schreibt Schulz in „Buñuel in
Mexico City“.
Der Dichter mahnt dazu, sich von heimelig anmutenden Situationen nicht
täuschen zu lassen. Besonders deutlich wird dies im Zyklus „Die Kühe am
Atomkraftwerk“: „Die Kühe kauen Gras / wir legen uns einen
Säureschutzmantel an / dann versiegeln wir das Fleisch“. Tom Schulz’
poetische Stolpersteine regen zum Nachdenken an, fordern auf, bewusst im
Moment zu leben, zu erinnern und daraus zu lernen. Er schreibt: „Alle
sieben Jahre / wirft der Mensch seine Haut ab / ändert die Farbe des Bluts
/ Aber jetzt / an dieser Stelle wächst ein Stein / aus dem Boden, ein Stein
/ der weiß, der spricht“. Julika Bickel
Lesung 1. März, 20 Uhr, Literaturforum im Brecht-Haus
1 Mar 2017
## AUTOREN
Julika Bickel
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