| # taz.de -- Das Prinzip Lulu | |
| > OPER An der Staatsoper gelingt Regisseur Marthaler in Bergs „Lulu“ die | |
| > Demontagealler Kunst-Regeln. Auch für den problematischen dritten Akt | |
| > gibteseine Lösung | |
| Bild: Ganz und gar keine naturalistische Studie: Die kanadische Ausnahmekünstl… | |
| von Dagmar Penzlin | |
| Lulu lebt in ihrer eigenen Welt. Auf einem kleinen Podest ruht sie: | |
| zusammengerollt und eingehüllt in einen langen, schmuddelig blauen | |
| Bademantel. Ab und an erhebt sie sich, rollt artistisch vom Podest, gibt | |
| ein paar Worte von sich. Manchmal streckt Lulu sitzend Arme und Beine starr | |
| von sich oder sie lässt sich fallen, bevor sie sich wieder einrollt. Dass | |
| ein Maler sie porträtiert, dass Männer auf der Lauer liegen – es scheint | |
| Lulu gleichgültig zu sein. Dass diese Frau allen Menschen, die sie lieben | |
| oder begehren, den Tod bringen wird – man ahnt, das wird eher nebenbei | |
| passieren. Denn Lulu ist hier keine Femme fatale, sondern eine Frau, die | |
| sich entzieht, die zugleich rastlos wirkt und in sich gefangen. | |
| Nicht-Kommunikation: das Prinzip Lulu. | |
| An der Staatsoper Hamburg stattet Barbara Hannigan ihre Lulu mit einer | |
| eigenwilligen Körpersprache aus – die Inszenierung ist ganz auf die | |
| kanadische Ausnahmekünstlerin zugeschnitten. Hannigans Lulu äußert sich | |
| nicht nur in exaltierten Klanggesten, sondern sie tanzt auch ekstatisch, | |
| hüpft wie ein Flummi, kauert und lauert, reitet auf Herrenschultern oder | |
| baumelt immer wieder kopfüber am Hals von Männern. Christoph Marthaler hat | |
| gemeinsam mit Hannigan ein nonverbales Vokabular gefunden, um fern einer | |
| naturalistischen Studie auszudrücken, was Lulu und die ihr Verfallenen | |
| umtreibt, wie wenig sie sich erreichen und verstehen. | |
| Ausstatterin Anna Viebrock hat für dieses szenische Nachdenken über „Lulu“ | |
| eine wunderbar verschachtelte Theater-auf-dem-Theater-Welt geschaffen. Es | |
| beginnt als Hinterbühnen-Panoptikum. Noch bevor der erste Ton erklingt, | |
| reiht ein routinierter Spielleiter die Darsteller von Lulus Verehrern auf, | |
| schlägt Fusseln von deren Schultern. Ein skurriler Reigen in grotesk | |
| altmodischer Unterwäsche à la „Väter der Klamotte“. Und weil Marthalers | |
| stimmige Inszenierung ohnehin ein modernes Hohelied auf den Brecht’schen | |
| Verfremdungseffekt ist, laufen die Liebhaber den ganzen Abend allzeit | |
| bereit in langen, schlabberigen Unterhosen herum, auch wenn sie nachher | |
| Schlips, Kragen und Jackett tragen. | |
| Im zweiten Akt wirkt das Bühnenbild dann wie gedreht. Im Haus von Doktor | |
| Schön lebt Lulu als dessen Ehefrau, ohne dass die Zahl ihrer Verehrer | |
| kleiner geworden ist. Das Vierer-Rendezvous mit Casting-Charme unterm | |
| obligatorischen Mikrofon-Galgen (Achtung, V-Effekt!) eskaliert. Ein Fenster | |
| gibt währenddessen den Blick frei auf ein Treppenhaus, in dem immer was los | |
| ist. Der eifersüchtige Ehemann tigert mit Pistole herum, die Gräfin | |
| Geschwitz als Lulus langmütige Liebhaberin im Suffragetten-Look schleicht | |
| wie ein guter Geist treppauf, treppab, und auch eine Geigerin stiefelt die | |
| Stufen empor. Schon ein Vorgriff auf den dritten Akt. | |
| Dieser dritten Akt ist unvollendet. Berg ist über der „Lulu“-Komposition | |
| 1935 gestorben. Es existiert vom 3. Akt nur ein Particell, ein Entwurf, den | |
| Friedrich Cerha später orchestriert hat. Die Hamburger Neuproduktion bleibt | |
| bei dem, was Berg hinterlassen hat. Das Ende des 2. Akts gleicht einer | |
| Vollbremsung: Eben noch spielt das volle Orchester den dramatischen | |
| Akt-Schluss, dann übernehmen zwei Klaviere und eine Geige. | |
| Regisseur Marthaler inszeniert den Bruch im Werk. Die Pianisten und eine | |
| Geigerin dürfen sich aufeinander einstimmen, bevor sie das Particell | |
| spielen. Probenatmosphäre macht sich zunächst breit, aber wenn Lulu zu den | |
| expressiven Phrasen der Geigerin zu tanzen beginnt, wird klar, dass diese | |
| Fassung wie ein intensiver Extrakt wirkt. Zugleich korrespondiert der | |
| Bruch, die musikalische Implosion mit Lulus Taumeln hin in den eigenen Tod. | |
| Christoph Marthaler beschreibt die Zusammenarbeit mit Hamburgs | |
| Generalmusikdirektor selbst im Interview als „Glücksfall“. Marthaler und | |
| sein Team durften den dritten Akt massiv kürzen und das Violinkonzert von | |
| Alban Berg als eine Art Epilog anfügen. Der Komponist hatte die Arbeit an | |
| „Lulu“ unterbrochen, um dieses Konzert zu schreiben – er dachte dabei an | |
| den Tod der 18-jährigen Manon Gropius. Deshalb trägt das Werk den Beinamen | |
| „Dem Andenken eines Engels“. | |
| Und so bleiben am Ende 20 Minuten, um darüber zu meditieren, inwiefern Lulu | |
| ein Engel ist. Dass diese Fassung Schule machen wird, ist unwahrscheinlich | |
| – ein interessantes Experiment bleibt sie allemal. Die tote Lulu erhebt | |
| sich schließlich und gesellt sich zu vier Alter Egos. Das Prinzip Lulu, es | |
| lebt. | |
| Nächste Aufführungen am 18., 21. und 24. Februar in der Staatsoper Hamburg | |
| 18 Feb 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Dagmar Penzlin | |
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