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# taz.de -- Inhaftierte Journalisten: 20 Quadratmeter Beton
> Vor 100 Tagen wurden zehn Mitarbeiter der “Cumhuriyet“ verhaftet. Im
> Gefängnis Istanbul-Silivri werden ihre Rechte aufs Schwerste verletzt.
Bild: Gefängnis- und Gerichtskomplex Silivri
Unsere zehn Cumhuriyet-Kollegen, die sich seit 100 Tagen in
Untersuchungshaft befinden, wurden noch nicht verurteilt – bestraft werden
sie aber bereits. Mit einer Reihe von Rechtsverletzungen wird nicht nur
ihre Meinungs- und Pressefreiheit eingeschränkt, auch ihr Recht auf
Kommunikation mit der Außenwelt wird aufs Schwerste verletzt.
Ihnen wird untersagt, Briefe zu verschicken. Als Begründung für diese
Einschränkungen werden die im Rahmen des Ausnahmezustands geltenden
Notstandsdekrete angeführt. Dabei gibt es in diesen Dekreten keine
offizielle Regulierungen, die diese Haftbedingungen rechtfertigen.
Stellen Sie sich vor, Sie dürfen nur zwei Stunden pro Woche Ihre Anwälte
und Angehörigen sehen. Ziehen Sie eine Glaswand zwischen sich und ihnen
hoch und denken Sie sich ein Telefon dazu. Eine Begegnung, bei der nach
einer Stunde der Ton abgeschaltet wird und nur das Bild übrigbleibt.
## Alle zwei Monate eine Umarmung
Alle 15 Tage dürfen Sie mit ihrer Familie telefonieren, allerdings wird die
Gesprächszeit auf zehn Minuten beschränkt. Alle zwei Monate dürfen Sie Ihre
Geliebten umarmen. Währenddessen werden Sie von einer Kamera aufgezeichnet,
inklusive Tonaufnahme. Willkommen in Silivri!
Sinem Kara, die Ehefrau des Cumhuriyet-Autoren Hakan Kara, hat es nicht
übers Herz gebracht, ihrer fünf Jahre alten Tochter zu erklären, dass ihr
Vater im Gefängnis sitzt. Bis zum 100. Tag seiner Inhaftierung hat sie
ihren Ehemann nur einmal ohne die trennende Glaswand sehen dürfen. Auch
wenn sie sich längst daran gewöhnt hat, dass ihre wöchentlichen Gespräche
hinter der Glaswand aufgezeichnet werden, sagt sie doch: “Es ist nicht gut,
sich daran zu gewöhnen.“
Ihre kleine Tochter denkt derweil, dass ihr Vater auf Geschäftsreise im
Ausland ist. “Sie kann alle fünfzehn Tage mit ihrem Vater telefonieren“,
erzählt Sinem Kara. “An Tagen, an denen diese Gespräche stattfinden, geht
sie nicht zur Schule. Damit sie ihren Vater nicht vergisst, lasse ich ihr
Geschenke zukommen, als habe sie ihr Vater geschickt. Er sitzt weiterhin in
Untersuchungshaft, weil es immer noch keine Anklageschrift gibt. Langsam
findet die Kleine: ‚Es reicht jetzt. Er soll endlich zurückkommen.‘“
## Ein Buch für drei Insassen
Nun stellen Sie sich Ihre Lieblingsfarbe vor. Zum Beispiel hellblau. In
Silivri ist diese Farbe nicht erlaubt. Die Justizvollzugsbeamten geben die
Farbpalette vor. Das Leben hier ist weiß, dunkelblau, algengrün und
metallgrau. Das Grün im Pflanzentopf ist auch verboten. Überall ist Beton.
Und überall bedeutet 20 Quadratmeter.
Bücher können zwischen diesen vier grauen Wänden ohne Frage die große
Rettung sein. Doch als unsere Kollegen im November verhaftet wurden, gab es
in Silivri so wenige Bücher, dass sich schon damals drei Insassen ein Buch
teilen mussten. Die Haftanstalt, die den traurigen Ruf des “größten
Gefängnisses von Europa“ genießt, war im Besitz von 1.750 Büchern.
Nach der großen Verhaftungswelle, die auf den gescheiterten Putschversuch
im letzten Sommer folgte, ist Silivri so überfüllt wie nie zuvor. Da auch
der Cumhuriyet-Literaturredakteur Turhan Günay unter den Verhafteten war,
entschied der Verlag İletişim Yayınları, der Haftanstalt Bücher zu spenden.
Erst nach einer langen Prüfung durch die Beamten erhielten die Insassen
kürzlich Zugang zu diesen Büchern.
## Beschluss des Verfassungsgerichts
Vor genau einem Jahr hatte das Verfassungsgericht einen Beschluss
unterzeichnet, der die Rechtsverletzungen während der Haft von Can Dündar
und Erdem Gül bestätigte. Darin stand, dass Journalist*innen nicht allein
aufgrund ihrer Berichterstattung inhaftiert werden könnten, und dass
Dündars und Güls Persönlichkeitsrechte sowie ihr Recht auf Meinungs- und
Pressefreiheit verletzt wurden. Auch heute werden die in diesem Beschluss
aufgezählten Prinzipien außer Acht gelassen.
61 Tage nachdem unsere zehn Kollegen festgenommen wurden, landete auch der
Cumhuriyet-Korrespondent Ahmet Şık hinter Gittern. Ihm wird vorgeworfen,
über Twitter Propaganda für die Terrororganisationen FETÖ/PDY (die
sogenannte „Gülen-Terrororganisation“/“parallele Staatsstruktur“,
Anm.d.Red.) und die PKK gemacht zu haben. Auch wenn Justizminister Bekir
Bozdağ behauptet, derzeit seien „nur“ 30 Journalist*innen in Haft, handelt
es sich tatsächlich um 151 Kolleg*innen, die ihrer Freiheit beraubt wurden.
Solange sie inhaftiert sind, fühlen auch wir uns nicht frei.
7 Feb 2017
## AUTOREN
Canan Coşkun
## TAGS
taz.gazete
Ahmet Şık
Schwerpunkt Türkei
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