# taz.de -- Sitten des liberalen Wohnungsmarkts | |
> GENTRIFIZIERUNG Von den Problemen des Wohnens und über eine Zwangsräumung | |
> mit Todesfolge | |
Bild: Die Möbel sind schon lange raus: Berlin, Kreuzberg, 2017 | |
VON Gabriele Goettle | |
Margit Englert, Diplom-Biochemikerin. Sie wurde 1969 in Berlin geboren, ist | |
ledig und kinderlos. Ihr Vater war Techniker und arbeitete im Betrieb ihres | |
Großvaters, ebenso ihre Mutter, die von Beruf Technische Zeichnerin war. | |
Aufgewachsen ist Englert in Westberlin, nach Schule und Abitur Studium an | |
der TU Berlin, 1987 mit Diplom beendet. Ein Jahr wissenschaftliche | |
Mitarbeiterin an der TU. Politische Betätigung (im Themenbereich chemische | |
Kampfstoffe, Rüstungsproduktion). Arbeitete dann bei der Historikerin Karin | |
Hausen an ihrer Dissertation, konnte diese aber aus persönlichen Gründen | |
nicht beenden. Es folgten diverse freie Brotjobs auf der Basis ihrer | |
biochemischen Ausbildung. War eine Zeit lang beim DGB-Bildungswerk, und | |
auch beim Schering-Aktionsnetzwerk von Henry Mathews (Dachverband der | |
kritischen Aktionärinnen und Aktionäre). Allmählich kam das Thema Wohnen | |
dazu, Gründung verschiedener eigener Initiativen, vorübergehend Mitarbeit | |
im „Bündnis Zwangsräumung verhindern“. Dort lernte sie Rosemarie F. kenne… | |
deren Zwangsräumung bevorstand. Nach deren Exmittierung und dem darauf | |
folgenden Herztod, schrieb sie ein Buch über die brutalen Vorgänge: | |
„Rosemarie F. Kein Skandal.“ (Edition Assemblage, Münster 2015). | |
Wer in Deutschland Vermögen hat und es in Immobilien anlegt, kann viel Geld | |
verdienen, ohne großen Einsatz. Wer in Deutschland über wenig Geld verfügt, | |
hat alle Chancen, immer ärmer zu werden und auch noch sein Letztes zu | |
verlieren, seine Wohnung – besser gesagt, sein Obdach, oder sogar sein | |
Leben. Am 1. Dezember 2015 berichtete die Bild-Zeitung: „Erfurt – | |
Todesdrama mitten in Erfurt! SEK-Beamte stürmen eine Wohnung. Schüsse | |
fallen, am Ende liegt der Mieter (48) blutend am Boden. Er stirbt wenig | |
später im Krankenhaus (…).“ | |
Das Haus soll saniert werden, Hans-Jürgen S. ist im Erdgeschoss der letzte | |
Mieter. Ihm ist bereits gekündigt worden, die Zwangsräumung steht | |
unmittelbar bevor. (Er soll sich verbarrikadiert haben.) „Das SEK rückte | |
mit einem Großaufgebot an. Mehrere Schüsse fallen, eine Blendgranate blitzt | |
in der Wohnung auf. Hans-Jürgen S. sinkt getroffen zu Boden.“ (Er soll | |
einen Polizisten tätlich angegriffen haben.) | |
## Jährlich mehr als 30.000 Zwangsräumungen | |
Ältere Menschen, Familien mit Kindern und Arbeitslose haben dem Druck durch | |
steigende Preise, durch steigende Mieten und Umwandlung von Wohnungen in | |
Eigentum, wenig entgegenzusetzen. Es gibt deutschlandweit jährlich weit | |
über 30.000 Zwangsräumungen. In vielen Fällen ziehen die bedrohten Mieter | |
schon während der Räumungsklage aus. Offizielle Zahlen gibt es nicht. Es | |
wird von Psychologen davon ausgegangen, dass der Verlust der Wohnung dem | |
Tod eines nahen Angehörigen gleich kommt. Es gibt nach Schätzungen | |
mindestens 350.000 Obdachlose in Deutschland. Für ihren Schutz wird so gut | |
wie nichts unternommen. Während die Reichen automatisch ständig reicher | |
werden, steigt dementsprechend die Zahl der Armen und Verarmenden. 16,5 | |
Millionen Menschen sind in diesem reichen Land von Armut bedroht, jeder | |
fünfte Bundesbürger. Mehr als eine Million nimmt regelmäßig das | |
Essensangebot der Tafeln in Anspruch, Tendenz steigend. Der Landesverband | |
der Tafeln verzeichnet für Berlin und Brandenburg ebenfalls einen kräftigen | |
Zuwachs an Bedürftigen , Tausende stehen täglich Schlange an den | |
Essensausgabestellen. | |
## Eine Zumutung, die Höhe der Kapitalertragssteuer | |
Die Damen und Herren des Establishments klagen derweil über die Höhe der | |
Kapitalertragssteuer (lediglich 25 Prozent) und andere Zumutungen. Und ich | |
weiß nicht, durch welche Potemkin’sche Dörfer unsere Politiker in ihren | |
Dienstwagen gefahren werden von A nach B, denn sonst würden sie unter den | |
U- und S-Bahn-Brücken der Stadt die Obdachlosen liegen sehen. Sie reagieren | |
auf die katastrophale soziale Entwicklung der Gesellschaft mit | |
Wahrnehmungsstörungen beziehungsweise mit Wahrnehmungsverweigerung. Und mit | |
hartem Durchgreifen, gegen all jene, die ihnen Widerstand entgegensetzen. | |
In diesem Kontext ist auch das „Zurückgetretenwerden“ des kritischen | |
Stadtsoziologen und eben ernannten Berliner Staatssekretärs für Wohnen, | |
Andrej Holm, zu sehen. Er hat zwar einen Stasi-Makel, schlimmer aber ist, | |
er hat ein Sakrileg begangen: Seine Stadtentwicklungspläne störten die | |
Renditeerwartungen. Margit Englert engagiert sich innerhalb von stadt- und | |
mietenpolitischen Aktivitäten. Sie bewohnt in einem der stark betroffenen | |
Bezirke Berlins eine Neubauwohnung. Das Gebäude gehört einer | |
Genossenschaft, in die sie vor vielen Jahren eingetreten ist. Bis jetzt | |
hatte sie Glück, noch scheint ihre Miete erschwinglich zu bleiben. | |
Elisabeth Kmölniger und ich werden herzlich willkommen geheißen. Die | |
Freundin unserer Gastgeberin hat einen Kuchen gebacken, Tee wird | |
eingeschenkt, dann beginnt Frau Englert zu erzählen: | |
„Anfangs gab es das Thema Wohnen für mich eher am Rande. Ich nahm es | |
natürlich wahr, schon durch die vielen Hausbesetzungen damals, auch durch | |
Freunde und im Bekanntenkreis. Aber es war für mich erst mal nicht so das | |
zentrale politische Problem. Ich wohnte seit 1983 am Kottbusser Damm in | |
einem normalen Mietshaus und natürlich haben wir mit unserem Vermieter | |
Streit. Wir haben dann so ein bisschen Beratung gemacht im Haus, haben | |
versucht, Schwerpunkte zu bilden in den Häusern. | |
Unser Vermieter war wie aus dem Bilderbuch. Er kam ab und zu mit seinem | |
Jaguar, parkte quer auf dem Bürgersteig und stand dann mit seiner 1.000 | |
Euro teuren Lederjacke vor unserer Tür oder vor der einer anderen | |
Mietpartei und hat sein Leid geklagt, seine schweres Leben als Eigentümer | |
geschildert. Also für uns, die wir aus der Uni kamen, bewegte sich das | |
alles noch irgendwo auf der Scherzebene, für die anderen im Haus eher | |
nicht. Die erste Zwangsräumung habe ich dann 1987 mitbekommen. Wir hatten | |
ja damals –ab Mitte der Siebziger und in den Achtzigern in Westberlin eine | |
Wohnungsnot. Betroffen war eine deutsche Familie in der Nebenwohnung. Ich | |
hatte zu den Kindern einen sehr engen Kontakt. 1986 wurde das sechste Kind | |
geboren. Die Wohnung hatte 40 Quadratmeter. Und man kann sich vorstellen, | |
40 Quadratmeter, sechs Kinder und zwei Erwachsene, da entsteht Stress. | |
Außerdem gibt es rechtliche Regelungen, was Überbelegung betrifft. Damals | |
galt 4½ Quadratmeter für ein Kind und 9 Quadratmeter für einen | |
Erwachsenen.“ (Heute sind es 10 Quadratmeter für Erwachsene, 6 Quadratmeter | |
für Kinder. Anm. G. G.). „Wenn pro Person weniger Wohnraum zur Verfügung | |
steht, gilt das als Überbelegung und der Vermieter hat das Recht zu | |
kündigen. Ich hatte besonders zu zwei Kindern eine gute Beziehung, die | |
waren viel bei mir. Ich hatte so eine Spielecke eingerichtet, sie haben | |
auch oft übernachtet bei mir. | |
## Quatsch auf dem Fragebogen der Volkszählung | |
Zu dieser Zeit war gerade die Volkszählung und meine Freundinnen und ich | |
haben irgend welchen Quatsch in den Fragebogen eingetragen. Aber die | |
Familie neben mir hatte richtig Angst, sie haben sich versteckt und so | |
getan, als seien sie nicht da. Am Ende mussten sie aber doch ausfüllen, es | |
gab damals massive Drohungen gegen Verweigerer. Jedenfalls bekam die | |
Familie die Kündigung wegen Überbelegung und es kam zur Zwangsräumung. Die | |
Familie wurde dann in einem Gebäude, einem Hotel einquartiert, das der | |
Besitzer für solche Fälle an den Bezirk vermietete. Mein Kontakt zu dieser | |
Familie blieb noch jahrelang erhalten. | |
Es gibt ja zunehmend heute diese ,innere Gentrifizierung' ein Begriff, den | |
Andrej Holm auch an der Berliner Humboldt-Universität in seiner | |
wissenschaftlichen Studie zu Zwangsräumung verwendet.“ („Zwangsräumungen | |
und Krise des Hilfesystems. Eine Fallstudie in Berlin. Laura Berner, Inga | |
Jensen, Andrej Holm“, Anm. G. G.) „Mit diesem Begriff ist gemeint, dass | |
Leute, die ihre Mieten nicht mehr bezahlen können, ihre Wohnungen aufgeben | |
müssen und zusammenrücken, damit sie nicht aus der Stadt rausmüssen und in | |
ihrem Kiez bleiben können. Hier stehen genügend Interessentinnen und | |
Interessenten Schlange, die mühelos die höhere geforderte Miete bezahlen | |
können. | |
## Drei Familien in einer Mietwohnung | |
Also Zusammenrücken, das betrifft nicht nur junge Leute, die wieder zu den | |
Eltern ziehen, sondern auch ältere Leute oder ganze Familien. Das bedeutet | |
auch, dass Überbelegung wieder ein Thema werden wird, so wie in den | |
achtziger Jahren. Hier im Haus wohnt eine mit uns befreundete | |
Sprachlehrerin, die kommt viel herum und sie erzählte, dass es inzwischen | |
fast üblich ist, dass in einer Wohnung drei Familien leben.“ Elisabeth | |
sagt: „Das erinnert stark an die Kommunalkas der Sowjetunion, die hier als | |
vollkommen rückständig und menschenunwürdig galten. Also diese Verhältnisse | |
führen wir jetzt bei uns ein.“ (Alle lachen.) „Gut, das war also ,meine | |
erste Zwangsräumung‘ und das war diese Familie. Ich bin damals viel zu | |
Veranstaltungen gegangen zu diesem Thema. Es gab dann nach der Wende die | |
Hausbesetzerbewegung im Osten. In Prenzlauer Berg hatte sich der | |
Zusammenschluss ,Wir bleiben alle' gegründet. Und ich habe gesehen, dass | |
nach der Wende, um den Kollwitzplatz herum, quasi die gesamte Bevölkerung | |
komplett ausgetauscht wurde. Ich mache jetzt mal einen Sprung in die nuller | |
Jahre; da wurde es dann immer drückender, und da kam es dann bei mir | |
eigentlich zu der Entscheidung, dass ich meine politischen Aktivitäten auf | |
das Thema Wohnen konzentriert habe. | |
Die Mieten explodierten, der Druck auf die Leute hatte stark zugenommen, | |
ganze Nachbarschaften sind kaputtgegangen, plötzlich waren Menschen weg, | |
waren Geschäfte weg, es veränderte sich der gesamte Kiez. Ich habe | |
versucht, mehrere Initiativen zu gründen, habe alles mögliche gemacht, und | |
was ich so beobachten konnte, ist eben das, was ich über ,innere | |
Gentrifizierung‘ sagte und wie es immer bedrückender wird. Es betrifft | |
besonders die Transferleistungsempfängerinnen und -empfänger, die Mieten | |
sind nach und nach über den Satz gestiegen, der als Sozialleistung fürs | |
Wohnen übernommen wird. Den Mehrbetrag müssen sich die Leute dann abknapsen | |
von ihrem Geld fürs Essen, für Kleidung usw. Und es verändern sich die | |
Lebensgewohnheiten. Kinder etwa, die hier aufgewachsen sind, erwachsen | |
wurden und normalerweise von zu Hause ausziehen und sich eine eigene | |
Wohnung nehmen, wohnen weiterhin bei den Eltern. Wo sollen sie denn hin? | |
Und wenn die Mutter auf Hartz IV ist, wird ihr das Wohngeld gestrichen, | |
wenn das Kind auszieht. Unter Umständen auch gleich ihre Wohnung, wenn sie | |
größer ist als 50 Quadratmeter. Als ,angemessen' gelten 50 Quadratmeter für | |
eine Person, 60 Quadratmeter für zwei Personen. Wer diese Größe | |
überschreitet, muss umziehen in eine Wohnung vorgeschriebener Maximalgröße, | |
die gibt es aber nicht. Also, das ist eine Katastrophe für alle | |
Beteiligten. Das erwachsene Kind wird also zu Hause bleiben müssen!Und wenn | |
man jetzt auch auf die Herkunftszusammensetzung schaut, so wird klar, dass | |
viele von denen, die in den fünfziger Jahren als Arbeitskräfte nach | |
Deutschland geholt wurden, heute in Altersarmut leben. Oft sind es Frauen, | |
die übrig geblieben sind, das haben wir hier bei uns im Haus auch. Wenn | |
ihnen ihre Wohnung zu teuer wird, dann ziehen sie zu Verwandten. Also alle | |
rücken zusammen. | |
So um 2010, würde ich mal sagen, hatte der Druck noch weiter zugenommen, | |
und gleichzeitig aber gab es so eine Aufbruchstimmung. 2011 war ja dann die | |
große Mietendemo mit 6.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern. Wir haben hier | |
Kiezrundgänge gemacht, hatten große Versammlungen mit vielen Menschen, die | |
sich verschiedene Aktionen ausgedacht haben. Und dann kam ja 2012 die | |
herrliche Aktion von Ali Gülbol und seiner Familie. Das Haus, in dem er | |
wohnte, war verkauft worden und der neue Eigentümer klagte einen Mieter | |
nach dem anderen mit Scheinbegründungen raus, um nach minimaler Sanierung | |
seine Wohnungen teurer vermieten zu können. Ali Gülbol hat sich an seine | |
Nachbarn gewandt und gesagt: He! Man will uns räumen, kommt mal alle | |
zusammen! Also die haben das nicht verborgen vor den Nachbarn, dass sie | |
zwangsgeräumt werden sollen, sondern sie haben die Nachbarn alarmiert! Und | |
das ist geglückt, weil die Nachbarschaft solidarisch war und bereit, sich | |
als Blockade gegen Polizei und Gerichtsvollzieher vor die Tür zusetzen. | |
Das war die erste Zwangsräumung, die so bekannt wurde, weil sie nicht als | |
,privates Schicksal‘ unsichtbar geblieben ist. Als die Gerichtsvollzieherin | |
kam, saßen 120 Leute vor der Tür. Sie konnte nicht ins Haus zu ihrer | |
Amtshandlung und ist wieder gegangen. Und das fand ich toll, denn hier | |
stand keine Organisation dahinter, sondern das waren Mieterinnen und Mieter | |
aus der Nachbarschaft. Beim nächsten Termin allerdings wurde Herrn Gülbols | |
Familie dennoch geräumt. Der Vermieter bot danach die 700 Euro teure | |
Wohnung für 1.400 Euro an, die Interessenten – drei Studenten – sprangen | |
aber ab, als sie durch die Nachbarschaft von der Zwangsräumung erfuhren. | |
Das zeigt, dass wir auch dafür sorgen müssen, dass das Image einer | |
zwangsgeräumten Wohnung in der Öffentlichkeit so schlecht wie möglich | |
gemacht wird. So dass keiner eine solche Wohnung eigentlich bewohnen | |
möchte. | |
## Starke Bewegung gegen Exmittierungen | |
Bereits in den zwanziger und dreißiger Jahren gab es schon einmal eine | |
starke Bewegung gegen Exmittierungen. Es war eine breite Bewegung. Anfang | |
1933 gab es in Berlin 1.000 Mieterinnen- und Mieterräte. Die Leute wurden | |
einfach zusammengerufen zu spontanen Aktionen. Das ging auch ohne Internet, | |
man brauchte nur rausgehen, die Leute waren ja alle da! Und so ist es auch | |
heute noch. Diese Bewegung ist dann natürlich nach 1933 zerschlagen worden. | |
Ich wollte nur sagen, die spontane Versammlung der Nachbarschaft für Ali | |
Gülbol, mehr als 80 Jahre später, war wie ein Neuanfang. Bei dieser | |
Gelegenheit hat sich dann das ,Bündnis Zwangsräumen verhindern!' gebildet. | |
Ich hatte zwar damals gerade eine Initiative gegründet, bin dann aber zum | |
Bündnis gegangen, weil ich dachte, wunderbar, es wird zum Ausgangspunkt, | |
zum Kristallisationspunkt für eine breite Bewegung. Man kann an die | |
Geschichte der Bewegungen anknüpfen und manche Organisationsformen | |
übernehmen. Allmählich aber musste ich feststellen, dass was schieflief. | |
Beispielsweise hat das Bündnis andere Gruppen als Konkurrenz angesehen, | |
statt sich zu freuen, dass die Basis sich verbreitert. Und es tut mir heute | |
noch leid, dass ich, oder wir, den Fehler gemacht haben, die andere Gruppe | |
fallen zu lassen. Ja, das Bündnis hat tolle Organisationsformen entwickelt | |
und praktiziert sie, hat eine Drohkulisse aufgebaut, macht Sitzblockaden, | |
Rundgänge und die Teilnahme an Gerichtsverhandlungen, ist alles sehr gut. | |
Aber meine Hoffnung, dass das Bündnis zur Ausgangsbasis für eine breite | |
Bewegung wird, hat sich nicht erfüllt. Es war von starken Stimmen im | |
Bündnis nicht gewollt. Schon als dann Rosi F. kam – ich werde gleich von | |
ihr erzählen –, hat sich alles verengt, man konzentrierte sich lieber auf | |
medienwirksame Skandalfälle und versuchte durch die Skandalisierung von | |
Einzelfällen eine Veränderung des gesellschaftlichen Diskurses zu | |
erreichen. | |
Ich denke, es war ein Fehler, dass man die Aufbruchstimmung, die vorhanden | |
war bei Ali Gülbol, nicht ausreichend genutzt hat, nicht daran gearbeitet | |
hat, dass die Bewegung in die Breite geht. Mitte 2013 sind einige Leute | |
deshalb aus dem Bündnis rausgegangen. Auch ich, bald nach dem Tod von | |
Rosemarie F. Ich habe dann das Buch verfasst, Rosemarie hat uns ja ihre | |
ganzen Unterlagen gegeben, zwei dicke Leitz-Ordner mit Briefwechseln, | |
Behördenschreiben, Urteilen. Es war wie ein Vermächtnis. Ich habe | |
Rosemarie, wie gesagt, im ,Bündnis Zwangsräumung verhindern!‘ kennen | |
gelernt. Sie hatte sich hilfesuchend ans Bündnis gewandt. Anfangs war alles | |
gut, dann aber zeigte man immer weniger Geduld und Einfühlungsvermögen | |
gegenüber den sicherlich oft ausufernden Ausführungen dieser bedrängten und | |
vollkommen überforderten Frau. Man nahm sie nicht mehr so richtig ernst, | |
das merkte sie natürlich. Ich erzähle mal zusammenfassend ihre Geschichte: | |
Rosemarie hat über ein Jahr um ihre Wohnung gekämpft. Am 27. Februar 2013 | |
hatte sie einen ersten Zwangsräumungstermin, der wurde aber im allerletzten | |
Moment vom Amtsgericht aufgrund einer Eingabe von Rosemaries Anwalt | |
ausgesetzt. Gerichtsvollzieherin, Amtsarzt, sozialpsychiatrischer Dienst, | |
Schlosser, Rosemaries Anwalt und die Wohnungseigentümerin standen bereits | |
in der geöffneten Wohnung, die Schlösser waren ausgetauscht, als die | |
Nachricht kam. Beim nächsten Räumungstermin, am 9. April 2013 um 9 Uhr | |
vormittags wurde es ernst. Die Zwangsräumung fand statt, trotz Demo. | |
Eingaben und Atteste wegen ihrer Herzkrankheit waren vom Gericht verworfen | |
worden. Zwei Tage später, am 11. April 2013, starb Rosemarie 67-jährig in | |
der Kleiderkammer einer Wärmestube für Obdachlose im Wedding. Dort hatte | |
man ihr einen provisorischen Schlafplatz eingerichtet, am Tag darauf sollte | |
ein Zimmer frei werden. | |
## Gewaltsamer Entzug der Wohnung ist tödlich | |
Rosemarie ist kein Einzelschicksal. Der gewaltsame Entzug der Wohnung | |
tötet. Früher oder später. Wie viele der Betroffenen war sie mittellos, | |
Empfängerin von Sozialleistungen, war Frau, alleinstehend, alt, zudem auch | |
noch zu 100 Prozent schwerbehindert (sie ging wegen einer | |
Rückgratverletzung an zwei Krücken, war schwer herzkrank und | |
Schmerzpatientin). Rosemarie wohnte seit 2001 allein in einer | |
Zweizimmerwohnung innerhalb einer der großen Wohnhausanlagen aus den | |
zwanziger Jahren im Berliner Bezirk Reinickendorf. Die 53 Quadratmeter | |
große Wohnung kostete zuletzt 336,29 Euro brutto kalt. Rosemaries | |
Altersrente lag mit 250 Euro weit unter dem Existenzminimum, so dass sie | |
ergänzende Grundsicherung in Anspruch nehmen musste. | |
Das Grundsicherungsamt zahlte ihr das Wohngeld für die Warmmiete, sie wurde | |
vom Amt direkt an die wechselnden Vermieterinnen und Vermieter überwiesen. | |
Dann aber, 2012, stellte das Grundsicherungsamt die Zahlungen komplett ein. | |
Angeblich wegen bürokratischer Schwierigkeiten aufgrund des | |
Vermieterwechsels, wovon die Mieterin der Wohnung aber nichts wusste. Trotz | |
der Direktüberweisung blieb Rosemarie zwar Mieterin ihrer Wohnung im | |
rechtlichen Sinne, als handelnde Vertragspartnerin war sie jedoch | |
ausgeschaltet. Dennoch muss sie die Konsequenzen des Behördenversagens | |
alleine tragen. Das Amt jedenfalls lieferte der Vermieterin einen | |
juristisch astreinen Kündigungsgrund. Nach dem Mietrecht kann eine | |
fristlose Kündigung bereits bei einem Rückstand von einer Monatsmiete plus | |
1 Cent erfolgen. Früher waren es, glaube ich, zwei Monate. In seiner Studie | |
über Zwangsräumung hat Andrej Holm etwa nachgewiesen, durch Interviews mit | |
Job-Center-MitarbeiterInnen, dass Job-Center in vielen Fällen für | |
Wohnungsverluste und Zwangsräumungen verantwortlich sind. Und es ist | |
besonders perfide, wenn sich genau die Behörden, deren Aufgabe es ist, | |
Sozialleistungen zu erbringen, sich stattdessen sozusagen ,an der | |
Entmietung beteiligen', indem sie Zahlungen nicht oder nicht rechtzeitig | |
erbringen. | |
## Ein Viertel aller Jobcenter-Unterlagen verschwinden | |
Der Sozialrechtler Harald Thomé hat mal geschätzt – und er muss es wissen | |
–, dass 25 Prozent der Unterlagen in den Job-Centern ,verschwinden‘. Und | |
das ist vermutlich beim Grundsicherungsamt nicht viel anders. Erst Monate | |
später, am 15. März 2013, schrieb ihr Anwalt, dass Rosemarie wieder | |
Grundsicherung erhält. ,Das Geld vom Sozialamt wird an mich überwiesen. | |
Hiervon wird die Miete weitergeleitet an die Vermieterin.' Voraussetzungen | |
für die Bezahlung der Miete lagen offensichtlich die ganze Zeit über vor, | |
sonst hätte der Anwalt beim Amt nicht erreichen können, dass widerstandslos | |
rückwirkend für den gesamten Zeitraum das Geld gezahlt wurde. Aber obwohl | |
er die vom Amt geschuldete Miete sofort überwies an die | |
Wohnungseigentümerin, ließ sie nicht locker mit ihrem Wunsch, diese | |
Mieterin loszuwerden. Sie hatte den Räumungstitel längst in der Hand und | |
war entschlossen, ihn durchzusetzen. Der ,Fall Rosemarie F.‘ hat | |
Schlagzeilen gemacht. Es gab eine infame Beeinflussung der öffentlichen | |
Meinung. Die Eigentümerin der Wohnung und mit ihr große Teile der Presse | |
haben sich nach Kräften bemüht, Rosemarie als Extremfall darzustellen. | |
Vorwürfe, Diffamierungen und Gerüchte über Konflikte im Haus wurden | |
ungeprüft übernommen und zum Teil genüsslich wiedergekäut. | |
## Pfandflaschensammeln am Gesundbrunnencenter | |
Da war die Rede davon, Rosemarie sei unsauber gewesen, hätte Nachbarn | |
belästigt und bedroht, hätte im Haus Zerstörungen angerichtet. Besonders | |
perfide die Bemerkung einer Journalistin im Tagesspiegel, Rosemarie habe | |
,täglich am Gesundbrunnencenter Flaschen gesammelt'. Was sowohl die | |
Tatsache ignorierte, dass das Grundsicherungsamt ihr monatelang kein Geld | |
überwies, als auch nahelegt, dass mit ,solchen Leuten‘ kein langes | |
Federlesen nötig ist. Das Motiv, Rosemarie sei kompliziert und eigensinnig | |
gewesen, habe sich abgeschottet und niemanden an sich herangelassen, taucht | |
in der Berichterstattung oft auf und dient dazu, das Problem zu | |
relativieren und ins Private zu verlegen, der Betroffenen die Schuld | |
zuzuschieben. Der Fokus richtete sich also immer wieder auf die Person | |
Rosemaries und ignorierte vollkommen die gesellschaftlichen Zusammenhänge. | |
Ein völliger Gegensatz also zu dem, was das Bündnis mit seiner Pressearbeit | |
bezweckt hatte. | |
Und nun noch mein Resümee: Wie das Beispiel Rosemaries zeigt, wird dem | |
Recht auf Verwertung des Eigentums Vorrang eingeräumt gegenüber der | |
Gesundheit und im Extremfall sogar einem Menschenleben. Zwangsräumung ist | |
ein existenziell bedrohlicher Eingriff, eine brutale Form der Enteignung | |
derjenigen, die ohnehin schon nichts haben. Um dem und den Akteuren | |
entgegenzutreten, braucht es eine möglichst breite, sich selbst | |
reflektierende Bewegung mit einem großen Spektrum an Aktionsformen. Ob das | |
nun Blockaden sind, Diskussionen am Rande von Gerichtsprozessen, gemeinsame | |
Besichtigungen von Luxuswohnungen, Briefe, Mails, Telefonate, gemeinsame | |
Gänge zum Jobcenter und Sozialamt, persönliche Gespräche an den | |
unterschiedlichsten Orten mit den verschiedenen verantwortlichen Akteuren, | |
Sit-ins, Flashmobs oder Wandzeitungen.“ | |
6 Feb 2017 | |
## AUTOREN | |
Gabriele Goettle | |
## ARTIKEL ZUM THEMA |