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# taz.de -- Sitten des liberalen Wohnungsmarkts
> GENTRIFIZIERUNG Von den Problemen des Wohnens und über eine Zwangsräumung
> mit Todesfolge
Bild: Die Möbel sind schon lange raus: Berlin, Kreuzberg, 2017
VON Gabriele Goettle
Margit Englert, Diplom-Biochemikerin. Sie wurde 1969 in Berlin geboren, ist
ledig und kinderlos. Ihr Vater war Techniker und arbeitete im Betrieb ihres
Großvaters, ebenso ihre Mutter, die von Beruf Technische Zeichnerin war.
Aufgewachsen ist Englert in Westberlin, nach Schule und Abitur Studium an
der TU Berlin, 1987 mit Diplom beendet. Ein Jahr wissenschaftliche
Mitarbeiterin an der TU. Politische Betätigung (im Themenbereich chemische
Kampfstoffe, Rüstungsproduktion). Arbeitete dann bei der Historikerin Karin
Hausen an ihrer Dissertation, konnte diese aber aus persönlichen Gründen
nicht beenden. Es folgten diverse freie Brotjobs auf der Basis ihrer
biochemischen Ausbildung. War eine Zeit lang beim DGB-Bildungswerk, und
auch beim Schering-Aktionsnetzwerk von Henry Mathews (Dachverband der
kritischen Aktionärinnen und Aktionäre). Allmählich kam das Thema Wohnen
dazu, Gründung verschiedener eigener Initiativen, vorübergehend Mitarbeit
im „Bündnis Zwangsräumung verhindern“. Dort lernte sie Rosemarie F. kenne…
deren Zwangsräumung bevorstand. Nach deren Exmittierung und dem darauf
folgenden Herztod, schrieb sie ein Buch über die brutalen Vorgänge:
„Rosemarie F. Kein Skandal.“ (Edition Assemblage, Münster 2015).
Wer in Deutschland Vermögen hat und es in Immobilien anlegt, kann viel Geld
verdienen, ohne großen Einsatz. Wer in Deutschland über wenig Geld verfügt,
hat alle Chancen, immer ärmer zu werden und auch noch sein Letztes zu
verlieren, seine Wohnung – besser gesagt, sein Obdach, oder sogar sein
Leben. Am 1. Dezember 2015 berichtete die Bild-Zeitung: „Erfurt –
Todesdrama mitten in Erfurt! SEK-Beamte stürmen eine Wohnung. Schüsse
fallen, am Ende liegt der Mieter (48) blutend am Boden. Er stirbt wenig
später im Krankenhaus (…).“
Das Haus soll saniert werden, Hans-Jürgen S. ist im Erdgeschoss der letzte
Mieter. Ihm ist bereits gekündigt worden, die Zwangsräumung steht
unmittelbar bevor. (Er soll sich verbarrikadiert haben.) „Das SEK rückte
mit einem Großaufgebot an. Mehrere Schüsse fallen, eine Blendgranate blitzt
in der Wohnung auf. Hans-Jürgen S. sinkt getroffen zu Boden.“ (Er soll
einen Polizisten tätlich angegriffen haben.)
## Jährlich mehr als 30.000 Zwangsräumungen
Ältere Menschen, Familien mit Kindern und Arbeitslose haben dem Druck durch
steigende Preise, durch steigende Mieten und Umwandlung von Wohnungen in
Eigentum, wenig entgegenzusetzen. Es gibt deutschlandweit jährlich weit
über 30.000 Zwangsräumungen. In vielen Fällen ziehen die bedrohten Mieter
schon während der Räumungsklage aus. Offizielle Zahlen gibt es nicht. Es
wird von Psychologen davon ausgegangen, dass der Verlust der Wohnung dem
Tod eines nahen Angehörigen gleich kommt. Es gibt nach Schätzungen
mindestens 350.000 Obdachlose in Deutschland. Für ihren Schutz wird so gut
wie nichts unternommen. Während die Reichen automatisch ständig reicher
werden, steigt dementsprechend die Zahl der Armen und Verarmenden. 16,5
Millionen Menschen sind in diesem reichen Land von Armut bedroht, jeder
fünfte Bundesbürger. Mehr als eine Million nimmt regelmäßig das
Essensangebot der Tafeln in Anspruch, Tendenz steigend. Der Landesverband
der Tafeln verzeichnet für Berlin und Brandenburg ebenfalls einen kräftigen
Zuwachs an Bedürftigen , Tausende stehen täglich Schlange an den
Essensausgabestellen.
## Eine Zumutung, die Höhe der Kapitalertragssteuer
Die Damen und Herren des Establishments klagen derweil über die Höhe der
Kapitalertragssteuer (lediglich 25 Prozent) und andere Zumutungen. Und ich
weiß nicht, durch welche Potemkin’sche Dörfer unsere Politiker in ihren
Dienstwagen gefahren werden von A nach B, denn sonst würden sie unter den
U- und S-Bahn-Brücken der Stadt die Obdachlosen liegen sehen. Sie reagieren
auf die katastrophale soziale Entwicklung der Gesellschaft mit
Wahrnehmungsstörungen beziehungsweise mit Wahrnehmungsverweigerung. Und mit
hartem Durchgreifen, gegen all jene, die ihnen Widerstand entgegensetzen.
In diesem Kontext ist auch das „Zurückgetretenwerden“ des kritischen
Stadtsoziologen und eben ernannten Berliner Staatssekretärs für Wohnen,
Andrej Holm, zu sehen. Er hat zwar einen Stasi-Makel, schlimmer aber ist,
er hat ein Sakrileg begangen: Seine Stadtentwicklungspläne störten die
Renditeerwartungen. Margit Englert engagiert sich innerhalb von stadt- und
mietenpolitischen Aktivitäten. Sie bewohnt in einem der stark betroffenen
Bezirke Berlins eine Neubauwohnung. Das Gebäude gehört einer
Genossenschaft, in die sie vor vielen Jahren eingetreten ist. Bis jetzt
hatte sie Glück, noch scheint ihre Miete erschwinglich zu bleiben.
Elisabeth Kmölniger und ich werden herzlich willkommen geheißen. Die
Freundin unserer Gastgeberin hat einen Kuchen gebacken, Tee wird
eingeschenkt, dann beginnt Frau Englert zu erzählen:
„Anfangs gab es das Thema Wohnen für mich eher am Rande. Ich nahm es
natürlich wahr, schon durch die vielen Hausbesetzungen damals, auch durch
Freunde und im Bekanntenkreis. Aber es war für mich erst mal nicht so das
zentrale politische Problem. Ich wohnte seit 1983 am Kottbusser Damm in
einem normalen Mietshaus und natürlich haben wir mit unserem Vermieter
Streit. Wir haben dann so ein bisschen Beratung gemacht im Haus, haben
versucht, Schwerpunkte zu bilden in den Häusern.
Unser Vermieter war wie aus dem Bilderbuch. Er kam ab und zu mit seinem
Jaguar, parkte quer auf dem Bürgersteig und stand dann mit seiner 1.000
Euro teuren Lederjacke vor unserer Tür oder vor der einer anderen
Mietpartei und hat sein Leid geklagt, seine schweres Leben als Eigentümer
geschildert. Also für uns, die wir aus der Uni kamen, bewegte sich das
alles noch irgendwo auf der Scherzebene, für die anderen im Haus eher
nicht. Die erste Zwangsräumung habe ich dann 1987 mitbekommen. Wir hatten
ja damals –ab Mitte der Siebziger und in den Achtzigern in Westberlin eine
Wohnungsnot. Betroffen war eine deutsche Familie in der Nebenwohnung. Ich
hatte zu den Kindern einen sehr engen Kontakt. 1986 wurde das sechste Kind
geboren. Die Wohnung hatte 40 Quadratmeter. Und man kann sich vorstellen,
40 Quadratmeter, sechs Kinder und zwei Erwachsene, da entsteht Stress.
Außerdem gibt es rechtliche Regelungen, was Überbelegung betrifft. Damals
galt 4½ Quadratmeter für ein Kind und 9 Quadratmeter für einen
Erwachsenen.“ (Heute sind es 10 Quadratmeter für Erwachsene, 6 Quadratmeter
für Kinder. Anm. G. G.). „Wenn pro Person weniger Wohnraum zur Verfügung
steht, gilt das als Überbelegung und der Vermieter hat das Recht zu
kündigen. Ich hatte besonders zu zwei Kindern eine gute Beziehung, die
waren viel bei mir. Ich hatte so eine Spielecke eingerichtet, sie haben
auch oft übernachtet bei mir.
## Quatsch auf dem Fragebogen der Volkszählung
Zu dieser Zeit war gerade die Volkszählung und meine Freundinnen und ich
haben irgend welchen Quatsch in den Fragebogen eingetragen. Aber die
Familie neben mir hatte richtig Angst, sie haben sich versteckt und so
getan, als seien sie nicht da. Am Ende mussten sie aber doch ausfüllen, es
gab damals massive Drohungen gegen Verweigerer. Jedenfalls bekam die
Familie die Kündigung wegen Überbelegung und es kam zur Zwangsräumung. Die
Familie wurde dann in einem Gebäude, einem Hotel einquartiert, das der
Besitzer für solche Fälle an den Bezirk vermietete. Mein Kontakt zu dieser
Familie blieb noch jahrelang erhalten.
Es gibt ja zunehmend heute diese ,innere Gentrifizierung' ein Begriff, den
Andrej Holm auch an der Berliner Humboldt-Universität in seiner
wissenschaftlichen Studie zu Zwangsräumung verwendet.“ („Zwangsräumungen
und Krise des Hilfesystems. Eine Fallstudie in Berlin. Laura Berner, Inga
Jensen, Andrej Holm“, Anm. G. G.) „Mit diesem Begriff ist gemeint, dass
Leute, die ihre Mieten nicht mehr bezahlen können, ihre Wohnungen aufgeben
müssen und zusammenrücken, damit sie nicht aus der Stadt rausmüssen und in
ihrem Kiez bleiben können. Hier stehen genügend Interessentinnen und
Interessenten Schlange, die mühelos die höhere geforderte Miete bezahlen
können.
## Drei Familien in einer Mietwohnung
Also Zusammenrücken, das betrifft nicht nur junge Leute, die wieder zu den
Eltern ziehen, sondern auch ältere Leute oder ganze Familien. Das bedeutet
auch, dass Überbelegung wieder ein Thema werden wird, so wie in den
achtziger Jahren. Hier im Haus wohnt eine mit uns befreundete
Sprachlehrerin, die kommt viel herum und sie erzählte, dass es inzwischen
fast üblich ist, dass in einer Wohnung drei Familien leben.“ Elisabeth
sagt: „Das erinnert stark an die Kommunalkas der Sowjetunion, die hier als
vollkommen rückständig und menschenunwürdig galten. Also diese Verhältnisse
führen wir jetzt bei uns ein.“ (Alle lachen.) „Gut, das war also ,meine
erste Zwangsräumung‘ und das war diese Familie. Ich bin damals viel zu
Veranstaltungen gegangen zu diesem Thema. Es gab dann nach der Wende die
Hausbesetzerbewegung im Osten. In Prenzlauer Berg hatte sich der
Zusammenschluss ,Wir bleiben alle' gegründet. Und ich habe gesehen, dass
nach der Wende, um den Kollwitzplatz herum, quasi die gesamte Bevölkerung
komplett ausgetauscht wurde. Ich mache jetzt mal einen Sprung in die nuller
Jahre; da wurde es dann immer drückender, und da kam es dann bei mir
eigentlich zu der Entscheidung, dass ich meine politischen Aktivitäten auf
das Thema Wohnen konzentriert habe.
Die Mieten explodierten, der Druck auf die Leute hatte stark zugenommen,
ganze Nachbarschaften sind kaputtgegangen, plötzlich waren Menschen weg,
waren Geschäfte weg, es veränderte sich der gesamte Kiez. Ich habe
versucht, mehrere Initiativen zu gründen, habe alles mögliche gemacht, und
was ich so beobachten konnte, ist eben das, was ich über ,innere
Gentrifizierung‘ sagte und wie es immer bedrückender wird. Es betrifft
besonders die Transferleistungsempfängerinnen und -empfänger, die Mieten
sind nach und nach über den Satz gestiegen, der als Sozialleistung fürs
Wohnen übernommen wird. Den Mehrbetrag müssen sich die Leute dann abknapsen
von ihrem Geld fürs Essen, für Kleidung usw. Und es verändern sich die
Lebensgewohnheiten. Kinder etwa, die hier aufgewachsen sind, erwachsen
wurden und normalerweise von zu Hause ausziehen und sich eine eigene
Wohnung nehmen, wohnen weiterhin bei den Eltern. Wo sollen sie denn hin?
Und wenn die Mutter auf Hartz IV ist, wird ihr das Wohngeld gestrichen,
wenn das Kind auszieht. Unter Umständen auch gleich ihre Wohnung, wenn sie
größer ist als 50 Quadratmeter. Als ,angemessen' gelten 50 Quadratmeter für
eine Person, 60 Quadratmeter für zwei Personen. Wer diese Größe
überschreitet, muss umziehen in eine Wohnung vorgeschriebener Maximalgröße,
die gibt es aber nicht. Also, das ist eine Katastrophe für alle
Beteiligten. Das erwachsene Kind wird also zu Hause bleiben müssen!Und wenn
man jetzt auch auf die Herkunftszusammensetzung schaut, so wird klar, dass
viele von denen, die in den fünfziger Jahren als Arbeitskräfte nach
Deutschland geholt wurden, heute in Altersarmut leben. Oft sind es Frauen,
die übrig geblieben sind, das haben wir hier bei uns im Haus auch. Wenn
ihnen ihre Wohnung zu teuer wird, dann ziehen sie zu Verwandten. Also alle
rücken zusammen.
So um 2010, würde ich mal sagen, hatte der Druck noch weiter zugenommen,
und gleichzeitig aber gab es so eine Aufbruchstimmung. 2011 war ja dann die
große Mietendemo mit 6.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern. Wir haben hier
Kiezrundgänge gemacht, hatten große Versammlungen mit vielen Menschen, die
sich verschiedene Aktionen ausgedacht haben. Und dann kam ja 2012 die
herrliche Aktion von Ali Gülbol und seiner Familie. Das Haus, in dem er
wohnte, war verkauft worden und der neue Eigentümer klagte einen Mieter
nach dem anderen mit Scheinbegründungen raus, um nach minimaler Sanierung
seine Wohnungen teurer vermieten zu können. Ali Gülbol hat sich an seine
Nachbarn gewandt und gesagt: He! Man will uns räumen, kommt mal alle
zusammen! Also die haben das nicht verborgen vor den Nachbarn, dass sie
zwangsgeräumt werden sollen, sondern sie haben die Nachbarn alarmiert! Und
das ist geglückt, weil die Nachbarschaft solidarisch war und bereit, sich
als Blockade gegen Polizei und Gerichtsvollzieher vor die Tür zusetzen.
Das war die erste Zwangsräumung, die so bekannt wurde, weil sie nicht als
,privates Schicksal‘ unsichtbar geblieben ist. Als die Gerichtsvollzieherin
kam, saßen 120 Leute vor der Tür. Sie konnte nicht ins Haus zu ihrer
Amtshandlung und ist wieder gegangen. Und das fand ich toll, denn hier
stand keine Organisation dahinter, sondern das waren Mieterinnen und Mieter
aus der Nachbarschaft. Beim nächsten Termin allerdings wurde Herrn Gülbols
Familie dennoch geräumt. Der Vermieter bot danach die 700 Euro teure
Wohnung für 1.400 Euro an, die Interessenten – drei Studenten – sprangen
aber ab, als sie durch die Nachbarschaft von der Zwangsräumung erfuhren.
Das zeigt, dass wir auch dafür sorgen müssen, dass das Image einer
zwangsgeräumten Wohnung in der Öffentlichkeit so schlecht wie möglich
gemacht wird. So dass keiner eine solche Wohnung eigentlich bewohnen
möchte.
## Starke Bewegung gegen Exmittierungen
Bereits in den zwanziger und dreißiger Jahren gab es schon einmal eine
starke Bewegung gegen Exmittierungen. Es war eine breite Bewegung. Anfang
1933 gab es in Berlin 1.000 Mieterinnen- und Mieterräte. Die Leute wurden
einfach zusammengerufen zu spontanen Aktionen. Das ging auch ohne Internet,
man brauchte nur rausgehen, die Leute waren ja alle da! Und so ist es auch
heute noch. Diese Bewegung ist dann natürlich nach 1933 zerschlagen worden.
Ich wollte nur sagen, die spontane Versammlung der Nachbarschaft für Ali
Gülbol, mehr als 80 Jahre später, war wie ein Neuanfang. Bei dieser
Gelegenheit hat sich dann das ,Bündnis Zwangsräumen verhindern!' gebildet.
Ich hatte zwar damals gerade eine Initiative gegründet, bin dann aber zum
Bündnis gegangen, weil ich dachte, wunderbar, es wird zum Ausgangspunkt,
zum Kristallisationspunkt für eine breite Bewegung. Man kann an die
Geschichte der Bewegungen anknüpfen und manche Organisationsformen
übernehmen. Allmählich aber musste ich feststellen, dass was schieflief.
Beispielsweise hat das Bündnis andere Gruppen als Konkurrenz angesehen,
statt sich zu freuen, dass die Basis sich verbreitert. Und es tut mir heute
noch leid, dass ich, oder wir, den Fehler gemacht haben, die andere Gruppe
fallen zu lassen. Ja, das Bündnis hat tolle Organisationsformen entwickelt
und praktiziert sie, hat eine Drohkulisse aufgebaut, macht Sitzblockaden,
Rundgänge und die Teilnahme an Gerichtsverhandlungen, ist alles sehr gut.
Aber meine Hoffnung, dass das Bündnis zur Ausgangsbasis für eine breite
Bewegung wird, hat sich nicht erfüllt. Es war von starken Stimmen im
Bündnis nicht gewollt. Schon als dann Rosi F. kam – ich werde gleich von
ihr erzählen –, hat sich alles verengt, man konzentrierte sich lieber auf
medienwirksame Skandalfälle und versuchte durch die Skandalisierung von
Einzelfällen eine Veränderung des gesellschaftlichen Diskurses zu
erreichen.
Ich denke, es war ein Fehler, dass man die Aufbruchstimmung, die vorhanden
war bei Ali Gülbol, nicht ausreichend genutzt hat, nicht daran gearbeitet
hat, dass die Bewegung in die Breite geht. Mitte 2013 sind einige Leute
deshalb aus dem Bündnis rausgegangen. Auch ich, bald nach dem Tod von
Rosemarie F. Ich habe dann das Buch verfasst, Rosemarie hat uns ja ihre
ganzen Unterlagen gegeben, zwei dicke Leitz-Ordner mit Briefwechseln,
Behördenschreiben, Urteilen. Es war wie ein Vermächtnis. Ich habe
Rosemarie, wie gesagt, im ,Bündnis Zwangsräumung verhindern!‘ kennen
gelernt. Sie hatte sich hilfesuchend ans Bündnis gewandt. Anfangs war alles
gut, dann aber zeigte man immer weniger Geduld und Einfühlungsvermögen
gegenüber den sicherlich oft ausufernden Ausführungen dieser bedrängten und
vollkommen überforderten Frau. Man nahm sie nicht mehr so richtig ernst,
das merkte sie natürlich. Ich erzähle mal zusammenfassend ihre Geschichte:
Rosemarie hat über ein Jahr um ihre Wohnung gekämpft. Am 27. Februar 2013
hatte sie einen ersten Zwangsräumungstermin, der wurde aber im allerletzten
Moment vom Amtsgericht aufgrund einer Eingabe von Rosemaries Anwalt
ausgesetzt. Gerichtsvollzieherin, Amtsarzt, sozialpsychiatrischer Dienst,
Schlosser, Rosemaries Anwalt und die Wohnungseigentümerin standen bereits
in der geöffneten Wohnung, die Schlösser waren ausgetauscht, als die
Nachricht kam. Beim nächsten Räumungstermin, am 9. April 2013 um 9 Uhr
vormittags wurde es ernst. Die Zwangsräumung fand statt, trotz Demo.
Eingaben und Atteste wegen ihrer Herzkrankheit waren vom Gericht verworfen
worden. Zwei Tage später, am 11. April 2013, starb Rosemarie 67-jährig in
der Kleiderkammer einer Wärmestube für Obdachlose im Wedding. Dort hatte
man ihr einen provisorischen Schlafplatz eingerichtet, am Tag darauf sollte
ein Zimmer frei werden.
## Gewaltsamer Entzug der Wohnung ist tödlich
Rosemarie ist kein Einzelschicksal. Der gewaltsame Entzug der Wohnung
tötet. Früher oder später. Wie viele der Betroffenen war sie mittellos,
Empfängerin von Sozialleistungen, war Frau, alleinstehend, alt, zudem auch
noch zu 100 Prozent schwerbehindert (sie ging wegen einer
Rückgratverletzung an zwei Krücken, war schwer herzkrank und
Schmerzpatientin). Rosemarie wohnte seit 2001 allein in einer
Zweizimmerwohnung innerhalb einer der großen Wohnhausanlagen aus den
zwanziger Jahren im Berliner Bezirk Reinickendorf. Die 53 Quadratmeter
große Wohnung kostete zuletzt 336,29 Euro brutto kalt. Rosemaries
Altersrente lag mit 250 Euro weit unter dem Existenzminimum, so dass sie
ergänzende Grundsicherung in Anspruch nehmen musste.
Das Grundsicherungsamt zahlte ihr das Wohngeld für die Warmmiete, sie wurde
vom Amt direkt an die wechselnden Vermieterinnen und Vermieter überwiesen.
Dann aber, 2012, stellte das Grundsicherungsamt die Zahlungen komplett ein.
Angeblich wegen bürokratischer Schwierigkeiten aufgrund des
Vermieterwechsels, wovon die Mieterin der Wohnung aber nichts wusste. Trotz
der Direktüberweisung blieb Rosemarie zwar Mieterin ihrer Wohnung im
rechtlichen Sinne, als handelnde Vertragspartnerin war sie jedoch
ausgeschaltet. Dennoch muss sie die Konsequenzen des Behördenversagens
alleine tragen. Das Amt jedenfalls lieferte der Vermieterin einen
juristisch astreinen Kündigungsgrund. Nach dem Mietrecht kann eine
fristlose Kündigung bereits bei einem Rückstand von einer Monatsmiete plus
1 Cent erfolgen. Früher waren es, glaube ich, zwei Monate. In seiner Studie
über Zwangsräumung hat Andrej Holm etwa nachgewiesen, durch Interviews mit
Job-Center-MitarbeiterInnen, dass Job-Center in vielen Fällen für
Wohnungsverluste und Zwangsräumungen verantwortlich sind. Und es ist
besonders perfide, wenn sich genau die Behörden, deren Aufgabe es ist,
Sozialleistungen zu erbringen, sich stattdessen sozusagen ,an der
Entmietung beteiligen', indem sie Zahlungen nicht oder nicht rechtzeitig
erbringen.
## Ein Viertel aller Jobcenter-Unterlagen verschwinden
Der Sozialrechtler Harald Thomé hat mal geschätzt – und er muss es wissen
–, dass 25 Prozent der Unterlagen in den Job-Centern ,verschwinden‘. Und
das ist vermutlich beim Grundsicherungsamt nicht viel anders. Erst Monate
später, am 15. März 2013, schrieb ihr Anwalt, dass Rosemarie wieder
Grundsicherung erhält. ,Das Geld vom Sozialamt wird an mich überwiesen.
Hiervon wird die Miete weitergeleitet an die Vermieterin.' Voraussetzungen
für die Bezahlung der Miete lagen offensichtlich die ganze Zeit über vor,
sonst hätte der Anwalt beim Amt nicht erreichen können, dass widerstandslos
rückwirkend für den gesamten Zeitraum das Geld gezahlt wurde. Aber obwohl
er die vom Amt geschuldete Miete sofort überwies an die
Wohnungseigentümerin, ließ sie nicht locker mit ihrem Wunsch, diese
Mieterin loszuwerden. Sie hatte den Räumungstitel längst in der Hand und
war entschlossen, ihn durchzusetzen. Der ,Fall Rosemarie F.‘ hat
Schlagzeilen gemacht. Es gab eine infame Beeinflussung der öffentlichen
Meinung. Die Eigentümerin der Wohnung und mit ihr große Teile der Presse
haben sich nach Kräften bemüht, Rosemarie als Extremfall darzustellen.
Vorwürfe, Diffamierungen und Gerüchte über Konflikte im Haus wurden
ungeprüft übernommen und zum Teil genüsslich wiedergekäut.
## Pfandflaschensammeln am Gesundbrunnencenter
Da war die Rede davon, Rosemarie sei unsauber gewesen, hätte Nachbarn
belästigt und bedroht, hätte im Haus Zerstörungen angerichtet. Besonders
perfide die Bemerkung einer Journalistin im Tagesspiegel, Rosemarie habe
,täglich am Gesundbrunnencenter Flaschen gesammelt'. Was sowohl die
Tatsache ignorierte, dass das Grundsicherungsamt ihr monatelang kein Geld
überwies, als auch nahelegt, dass mit ,solchen Leuten‘ kein langes
Federlesen nötig ist. Das Motiv, Rosemarie sei kompliziert und eigensinnig
gewesen, habe sich abgeschottet und niemanden an sich herangelassen, taucht
in der Berichterstattung oft auf und dient dazu, das Problem zu
relativieren und ins Private zu verlegen, der Betroffenen die Schuld
zuzuschieben. Der Fokus richtete sich also immer wieder auf die Person
Rosemaries und ignorierte vollkommen die gesellschaftlichen Zusammenhänge.
Ein völliger Gegensatz also zu dem, was das Bündnis mit seiner Pressearbeit
bezweckt hatte.
Und nun noch mein Resümee: Wie das Beispiel Rosemaries zeigt, wird dem
Recht auf Verwertung des Eigentums Vorrang eingeräumt gegenüber der
Gesundheit und im Extremfall sogar einem Menschenleben. Zwangsräumung ist
ein existenziell bedrohlicher Eingriff, eine brutale Form der Enteignung
derjenigen, die ohnehin schon nichts haben. Um dem und den Akteuren
entgegenzutreten, braucht es eine möglichst breite, sich selbst
reflektierende Bewegung mit einem großen Spektrum an Aktionsformen. Ob das
nun Blockaden sind, Diskussionen am Rande von Gerichtsprozessen, gemeinsame
Besichtigungen von Luxuswohnungen, Briefe, Mails, Telefonate, gemeinsame
Gänge zum Jobcenter und Sozialamt, persönliche Gespräche an den
unterschiedlichsten Orten mit den verschiedenen verantwortlichen Akteuren,
Sit-ins, Flashmobs oder Wandzeitungen.“
6 Feb 2017
## AUTOREN
Gabriele Goettle
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