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# taz.de -- HDP-Abgeordneter über Massaker: „Die Welt soll von Cizre erfahre…
> Während der Ausgangssperren im kurdischen Cizre berichtete er über
> Twitter. Ein Gespräch mit dem HDP-Abgeordneten Faysal Sarıyıldız.
Bild: Was geschah in der kurdischen Stadt Cizre? Faysal Sarıyıldız war Zeuge.
## taz.gazete: Herr Sarıyıldız, wieso haben Sie die Türkei verlassen?
Faysal Sarıyıldız: Im Auftrag meiner Partei kam ich im Mai vergangenen
Jahres nach Europa, um von den Menschenrechtsverletzungen und
Kriegsverbrechen zu berichten, die ich in der Türkei beobachtet habe. Ich
hatte nicht vor, lange zu bleiben. Allerdings wurde nach meiner Ausreise
ein Haftbefehl gegen mich erlassen, woraufhin mir parteiintern empfohlen
wurde, im Ausland zu bleiben. Derzeit arbeite ich an einem Bericht über die
Geschehnisse in Cizre, die ich den Vereinten Nationen (UN) vorlegen möchte.
## Können Sie Ihre Arbeit nicht in der Türkei fortsetzen?
Nein. Für den gegen mich erlassenen Haftbefehl gibt es keine gesetzliche
Grundlage, außer die Absicht, meine Arbeit an diesem Bericht zu verhindern.
## Welche Erwartungen hatten Sie, bevor Sie nach Europa kamen?
Ich war stark traumatisiert. Die ganze Welt sollte von den Gräueltaten
erfahren, die ich beobachtet habe. Ich war wütend.
## Warum wütend?
An mir haftet der Gestank von verbrannten Menschen. Während der zweiten
Ausgangssperre in Cizre, die von Dezember 2015 bis März 2016 ging, wurden
143 Menschen bei lebendigem Leib verbrannt. Obwohl wir den Aufenthaltsort
dieser Menschen an internationale Stellen wie die Vereinten Nationen, den
Europarat oder die Europäische Union weitergegeben haben, konnte dieser
Vorfall nicht verhindert werden. Deshalb bin ich wütend.
## Die Massaker in Cizre werden trotz der Berichte zahlreicher
Menschenrechtsvereine von der türkischen Regierung abgestritten. Worauf
stützt sich dieses Leugnen?
Ich denke, es stützt sich an die passive Haltung der Vereinten Nationen.
Erst als sie der Überzeugung waren, dass Erdoğan sich auch für sie zu einer
Bedrohung entwickelt, veröffentlichten sie eine verspätete Erklärung. In
dieser äußern sie, es würden glaubwürdige Berichte vorliegen, wonach mehr
als 100 Menschen verbrannt wurden. Sie forderten die Untersuchung und
Aufklärung der Menschenrechtsverletzungen, allerdings wurde diese Forderung
von der türkischen Regierung ignoriert.
In gewisser Weise ist dies ein Schuldeingeständnis. Ich denke, dass sich
Europa und andere Weltmächte in Bezug auf die Türkei irren. Die Menschen
zeigen sich besorgt wegen der Millionen Menschen, die nach Europa flüchten
und glauben, diese seien ein Sicherheitsrisiko. Dabei ist Europa nicht
bereit für eine außer Kontrolle geratene Terrororganisation wie den
sogenannten “Islamischen Staat“ (IS). Die Lösung liegt darin, Erdoğans
Erpressungen nicht stillschweigend hinzunehmen, sondern Sanktionen
auszusprechen.
## Von welcher Art Sanktionen sprechen Sie?
Die UN und USA müssen alle ihnen zur Verfügung stehende Mittel nutzen,
damit die Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen in Kurdistan
aufgeklärt und die Schuldigen verurteilt werden.
## Es gibt Zeugen, die behaupten, dass sich unter den Polizisten, die zum
Einsatz nach Cizre geschickt wurden, IS-Sympathisanten, sogar Anhänger
befanden. Wie schätzen Sie das ein?
Die Ideologie des IS und die Argumente, auf die die AKP-Regierung
zurückgreift, sind ähnlich. Polizisten und Soldaten, die als Söldner
angeheuert werden, beginnen ihre Einsätze mit dem kollektiven Ausruf
“Allahu ekber“ (zu deutsch: “Gott ist groß“, Anm.d.Red.), den sie auch…
Häuserfassaden schmieren. Hinter diesen Aktionen steckt eine
dschihadistische Motivation. Das Verbrennen unserer Leute bei lebendigem
Leib haben wir auch beim sogenannten IS erlebt, der türkische Soldaten auf
diese Weise ermordet hat.
## Wie einflussreich ist die HDP noch, deren Vorsitzende und zahlreiche
Abgeordnete verhaftet wurden?
Derzeit befinden sich fast 95 Prozent unserer Parteimitglieder in Haft,
viele mussten das Land verlassen. Alle übrigen geraten nun auch ins Visier.
Auch diejenigen, die zum Beispiel versuchten, Einrichtungen wieder
aufzubauen, die bei den Ausgangssperren zerstört wurden, sitzen nun in
Untersuchungshaft. Unser Einflussbereich ist inzwischen deutlich begrenzt.
## Glauben Sie, dass eine Regierung, die verhindert, dass eine Partei wie
die HDP politisch agiert, die PKK stärkt?
Ich glaube, diese Folgerung ist so nicht richtig. Ja, ein großer Teil
unserer Basiswählerschaft sympathisiert gleichzeitig mit der PKK,
allerdings sind wir eine andere Organisation und wir führen unsere
Auseinandersetzung mit legalen Mitteln der Politik.
## Glauben Sie an die Wiederaufnahme der Friedensverhandlungen?
Ich bin zwar nicht mehr so optimistisch wie früher, allerdings glaube ich,
dass wir gar keine andere Wahl haben, als die Friedensverhandlungen wieder
aufzunehmen. Aus Angst vor den Konsequenzen seiner Verbrechen stellt
Erdoğan seine Herrschaft über die Friedensverhandlungen.
## Am 17. Dezember 2016 wurden in vielen Städten der Türkei dutzende
Einrichtungen der HDP angegriffen, nachdem die kurdische Miliz TAK sich zu
dem Anschlag auf das Beşiktaş-Stadium in Istanbul bekannt hat. Wie erklären
Sie sich das?
Der Zorn, der sich gegen die HDP richtet, zeigt, wie hilflos und
manipulierbar die Menschen sind. Die Türkei ist ein Vielvölkerstaat, aber
ihr Fundament ist auf Rassismus und dem sunnitischem Islam aufgebaut. Mit
seiner Märtyrer-Rhetorik und den Todesverherrlichungen hält Erdoğan
Feindbilder aufrecht und schafft es in diesen Tagen, die Massen zu
mobilisieren.
## Ist allein die AKP-Regierung verantwortlich dafür, dass der HDP
vorgeworfen wird, sich “nicht ausreichend von der PKK distanziert“ zu
haben?
Viele Menschen glauben nicht mehr an die Möglichkeit demokratischer
Politik, da selbst Abgeordnete im Gefängnis landen. Sie denken, gegen ein
System, von dem Repressionen und Gewalt ausgehen, könne man nur noch mit
Waffengewalt vorgehen. Das Ausmaß der Repressionen wird aber in der
Öffentlichkeit nicht so sehr thematisiert wie die Anschuldigungen gegen die
HDP.
## Sind die Anschuldigungen also nicht berechtigt?
Nein, sind sie nicht. Die HDP ist eine Partei, die sich stets gegen den
bewaffneten Kampf ausgesprochen hat und so wird es auch in Zukunft sein.
Kurden beteiligen sich seit nahezu 30 Jahren demokratisch an politischen
Prozessen im Parlament, doch sie werden seit den neunziger Jahren immer
wieder mit demselben Vorwurf konfrontiert.
## Gibt es auch Fehler, die die HDP in der Vergangenheit begangen hat?
Wir hätten nach den Wahlen am [1][7. Juni 2015] der AKP nicht den Platz
überlassen dürfen und ihnen somit die Gelegenheit geben, diesen Krieg zu
ermöglichen. Wir hätten härter arbeiten und vehementer ihr Vorgehen
anprangern müssen. Darüber hinaus denke ich, dass wir die Wut der Menschen
auf das gewalttätige Vorgehen der AKP nicht genügend kanalisieren konnten.
## Einige deutsche Bundestagsabgeordnete haben ein Programm zur Solidarität
mit in der Türkei verfolgten und verhafteten Abgeordneten ins Leben
gerufen. Gab es konkrete Maßnahmen im Rahmen dieses Programms?
Ja, die gab es. Schon vor den Verhaftungen haben sich Parteikollegen aus
Deutschland, insbesondere aus dem linken Spektrum, mit uns in Verbindung
gesetzt. Nach der Verhaftung unseres Parteivorsitzenden Selahattin Demirtaş
und anderer Abgeordneter sind einige Delegationen in die Türkei gereist,
jedoch wurden sie daran gehindert, die Verhafteten im Gefängnis zu
besuchen. Kollegen der Parteien Die Grünen, Die Linke und der SPD haben
angekündigt, an den Gerichtsverhandlungen teilzunehmen.
## Die CHP (Republikanische Volkspartei) sollte in das Programm
miteinbezogen werden, allerdings zeigten einige Mitglieder Zurückhaltung,
als sie erfuhren, dass die HDP involviert ist. Glauben Sie, dass die CHP
nicht realisiert, dass nach der HDP auch sie von den Repressionen betroffen
sein könnten?
Die CHP und deren Vorsitzender Kemal Kılıçdaroğlu sind mitverantwortlich
für das momentane Chaos. Sie haben die Aufhebung der Immunität unserer
Abgeordneten und damit die aktuelle Situation ermöglicht. Was nicht
bedeutet, dass alle CHP-Abgeordneten diesen Prozess befürworten. Einige
Parteikollegen erklärten, dass die Entscheidung zur Aufhebung der Immunität
ohne eine Absprache mit ihnen fiel.
## Nach Ihrer Ernennung zum Ehrenbürger durch Frankreich wurden Sie durch
regierungsnahe Kreise stark angefeindet. Sind solche Angriffe noch
erschöpfend für jemanden, der versucht, Widerstand zu leisten?
Verleumdungen sind für jeden Menschen eine schwere Herausforderung.
Allerdings stützt sich die Verlautbarungspolitik von regierungsnahen
Kreisen auf Lügen. In Anbetracht der Schwere ihrer Kriegsverbrechen fallen
solche Verbalattacken nicht besonders ins Gewicht. Daher schenkt unser Volk
solch infamen Anschuldigungen keine Beachtung.
## Fühlen Sie sich in Deutschland sicher?
Nein. Es gab bereits Drohungen gegen unsere hiesigen Einrichtungen und wir
wissen, dass die Türkei hunderte Geheimdienstagenten hierher schickt.
Allerdings kann ich nach allem, was ich erlebt habe, nicht an mich oder
meine persönlichen Ängste denken. Egal, was passiert, ich werde nicht
aufhören, der Welt die Wahrheit zu berichten.
19 Jan 2017
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## AUTOREN
Sibel Schick
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