# taz.de -- Die Wahrheit: Kratzen am Sack Reis | |
> Es sollte eine gute Tat des Inders um die Ecke sein. Der man sich liebend | |
> gern anschließen wollte. Nur wie lassen sich fünf Kilo Reis | |
> weiterverschenken? | |
Einen Sack Reis verschenkt man nicht alle Tage. Dazu muss man erst mal | |
einen haben, logisch. Der Inder um die Ecke überließ mir neulich einen beim | |
Abschied. Ich hätte ja eine große Familie, und fünf Kilo Reis seien | |
schneller weg, als man im ersten Moment glauben mag. Außerdem sei der Sack | |
ja schon angebrochen. Er hätte ihn gern portionsweise an seine Gäste | |
verkauft, denen sei er aber zu „amerikanisch“, erklärte der indische | |
Chefkoch, er halte beim Kochen nicht zusammen, sondern werde körnig. Die | |
Gäste wollten aber, dass der Reis klebt. | |
Ich bedankte mich, schleppte den Sack nach Hause und stellte ihn in die | |
Vorratskammer. Nach dem ersten Probekochen erntete ich am familiären | |
Esstisch nur lange Gesichter: Der Reis falle nicht nur „amerikanisch“ aus, | |
er schmecke auch irgendwie „komisch“. Ich sperrte den Sack wieder in die | |
Vorratskammer und machte mir Gedanken zur Überflussgesellschaft. | |
Die Wochen vergingen. Vom Fenster aus beobachtete ich schon den ganzen | |
Morgen einen Pflasterer, wie er der zertretenen Fläche vor unserer | |
Hoftreppe neuen Halt und neue Form verlieh. Ich mag Pflasterarbeiten. | |
Pflasterarbeiten berühren in mir die Sehnsucht nach Struktur. Der | |
Pflasterer unten war praktisch ein Bruder im Geiste. Ich war fasziniert von | |
seiner ruhigen, systematischen Vorgehensweise, von dem Muster, was nach und | |
nach entstand. | |
Da ich den Mann nur von oben aus der Vogelperspektive sehen konnte, hatte | |
ich keinen Anhaltspunkt, um seine Herkunft einzuordnen. Da er, um die | |
verlegten Pflastersteine zu verfugen, einen Eimer Sand vom nah gelegenen | |
Spielplatz stibitzte, unterstellte ich ihm eine ausgeprägte, in einer | |
Mangelwirtschaft geschulte Improvisationsgabe. Ich rechnete fest mit einem | |
Menschen osteuropäischen Hintergrunds. Er würde sich bestimmt über einen | |
Sack Reis freuen, er und seine wahrscheinlich zahlreiche Verwandtschaft. | |
Beflügelt durch die Gelegenheit, Gutes zu tun, trug ich den Reissack | |
hinunter. Als ich dem Pflasterer Aug in Aug gegenüberstand und ihn wegen | |
seiner Pflasterkunst ansprach, stellte sich heraus, dass es sich um einen | |
stinknormalen Berliner handelte, der mir in gesetzten Worten sein Handwerk | |
erklärte. Währenddessen stand ich daneben und nestelte nervös an meinem | |
Sack . . . also dem mit dem Reisinhalt. | |
Wie beiläufig fragte ich den fleißigen Pflasterer: „Mögen sie Reis?“, und | |
deutete dabei mit einer linkischen Bewegung auf den Sack an meiner Seite. | |
Der Mann stutzte für einen Moment. Das hatte er wohl nicht erwartet. Er | |
lachte verlegen, schüttelte den Kopf und sagte: „Nee, nee, wir sind alles | |
keine großen Reisesser.“ | |
Vor Scham hätte ich im frisch verlegten Pflaster versinken können. Ich | |
versuchte von mir und meinem unsinnigen Ansinnen etwas abzulenken, indem | |
ich seine Pflasterarbeit in höchsten Tönen lobte und ihm alles erdenklich | |
Gute wünschte, bevor ich mich schließlich eilig verabschiedete. Es hätte | |
nicht viel gefehlt, und der Sack wäre dabei umgekippt. | |
24 Jan 2017 | |
## AUTOREN | |
Wolfgang Köglmeier | |
## TAGS | |
Reis | |
Geschenke | |
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