# taz.de -- Der Fall Harry Wörz: Almosen für ein kaputtes Leben | |
> Es war einer der größten Justizirrtümer der jüngeren Geschichte. Die | |
> Ignoranz der Behörden hinterlässt einen Trümmerhaufen. | |
Bild: Etappe eines jahrelangen Kampfes: Harry Wörz (links) 2006 im Landgericht… | |
Stuttgart taz | Es ist das Ende eines 20 Jahre dauernden Kampfes um | |
Gerechtigkeit. Das Land Baden-Württemberg hat sich am Montag mit Harry | |
Wörz, dem Opfer eines jahrzehntelangen Justizdramas, auf eine Entschädigung | |
von 450.000 Euro geeinigt. Damit hat nun endgültig einer der | |
spektakulärsten Justizirrtümer in der Bundesrepublik ein Ende – und | |
hinterlässt nur Opfer. | |
Harry Wörz ist nach viereinhalb Jahren Haft und vier Gerichtsverfahren ein | |
gebrochener Mann und mit 50 Jahren arbeitsunfähig. Seine damalige Frau ist | |
schwerstbehindert, auf Pflege und einen Rollstuhl angewiesen. Der | |
gemeinsame Sohn wuchs bei den Großeltern auf und ist inzwischen volljährig, | |
hat aber den Kontakt zu seinem Vater abgebrochen. | |
Auch dem Vertrauen in die Arbeit von Polizeibehörden wurde mit dem Fall | |
Harry Wörz großer Schaden zugefügt. Durch schwere Ermittlungsfehler und zu | |
frühe Festlegung auf einen vermeintlichen Täter wurde nicht nur ein | |
Unschuldiger zum Justizopfer, die Schlamperei der Polizei verhinderte auch, | |
dass der wirkliche Täter ermittelt werden konnte. Außerdem zeigt die Affäre | |
Harry Wörz, wie schwer es dem Rechtssystem fällt, seine Fehler zu | |
revidieren. | |
Im Januar 1998 befand das Landgericht Mannheim den Installateur Harry Wörz | |
für schuldig, im Jahr davor seine von ihm getrennt lebende Frau mit einem | |
Tuch fast erdrosselt zu haben. Die junge Polizeibeamtin hat den Mordversuch | |
schwerverletzt überlebt. Sie ist seitdem spastisch gelähmt und kann sich | |
zur Tat nicht mehr äußern. | |
## Zum Geständnis gedrängt | |
Der damals zweijährige Sohn der beiden hat die Tat wohl gesehen, aber keine | |
Erinnerung daran. Noch in derselben Nacht wird Wörz als Verdächtiger | |
festgenommen, legt ein Geständnis ab, das er später widerruft. | |
Polizeibeamte hätten ihn dazu gedrängt, sagt er. Das Landgericht Mannheim | |
verurteilt ihn dennoch wegen versuchten Mordes zu 11 Jahren Haft. | |
Wörz beteuert seine Unschuld, Freunde unterstützen ihn öffentlich, er | |
beginnt im Gefängnis mit dem Aktenstudium. Erst ein Zivilverfahren wegen | |
Schadenersatz, das Wörz’ ehemalige Schwiegereltern gegen ihn anstrengen, | |
bringt die Wende. Dem Zivilrichter fällt beim Aktenstudium die schlampige | |
Ermittlungsarbeit der Pforzheimer Polizei auf. Da werden mehrdeutige | |
DNA-Spuren am Tatort leichtfertig Wörz zugeordnet, und das fehlende Motiv | |
wird außer Acht gelassen. Es könne nicht zweifelsfrei festgestellt werden, | |
dass Harry Wörz der Täter sei, heißt es im Urteil des Karlsruher | |
Zivilgerichts. | |
Nach viereinhalb Jahren Haft wird Wörz nun vorläufig aus dem Gefängnis | |
entlassen. Der Schuldspruch wird überprüft, das Landgericht Mannheim wehrt | |
sich aber gegen ein Wiederaufnahmeverfahren, das Wörz’ Anwalt schließlich | |
vor dem Oberlandesgericht durchsetzt. Der neue Prozess endet 2005 mit einem | |
Freispruch, wird jedoch wegen Rechtsfehlern vom Bundesgerichtshof kassiert. | |
Erst 2010 wird Harry Wörz endgültig freigesprochen. | |
Die späte Korrektur des Justizirrtums lässt jedoch viele Fragen offen. Wer | |
tatsächlich versuchte, die Ex-Frau von Harry Wörz zu töten, bleibt bis | |
heute ungeklärt. Die Verantwortung dafür tragen die Staatsanwaltschaft und | |
die Polizei vor Ort. Das Opfer, sein Vater sowie ein weiterer Verdächtiger, | |
der damalige Geliebte des Opfers, sie alle sind Polizeibeamte auf dem | |
Revier in Pforzheim. Trotzdem ermittelten die Pforzheimer Beamten selbst | |
statt die Ermittlungen an eine unbefangene Behörde abzugeben. | |
## „Wie eine Herde Elefanten“ | |
Die Richter machen den Ermittlern bei Wörz’ Freispruch schwere Vorwürfe. | |
„Wie eine Herde Elefanten“ seien die Polizisten durch den Tatort | |
getrampelt, hieß es. Entlastende Zeugenaussagen seien in versteckten | |
Aktenordnern „versenkt“ worden, gegen den zweiten Verdächtigen habe man | |
nicht angemessen ermittelt. | |
Es bleibt der Eindruck, dass die Pforzheimer Polizisten einen Kollegen | |
nicht zum Hauptverdächtigen machen wollten und sich stattdessen auf den | |
einzigen Nichtpolizisten im Fall konzentrierten. Nach Wörz’ Freispruch | |
ermittelt die Staatsanwaltschaft noch einmal gegen den zweiten | |
Verdächtigen, der aber für die Tatnacht von seiner Ehefrau ein Alibi | |
erhält. 2013 werden die Ermittlungen ergebnislos eingestellt. | |
Der Freispruch 2010 ist zwar eine Genugtuung, aber alles andere als ein | |
Triumph für Harry Wörz. Er lebt heute mit seiner neuen Familie | |
zurückgezogen nahe Pforzheim. Seine Geschichte wurde zu einem Fernsehfilm | |
verarbeitet. In Interviews erlebt man einen blassen, schmalen Mann, der | |
darum ringt, sein Leben wieder in den Griff zu bekommen. Der gelernte | |
Installateur hat eine Ausbildung zum Bauzeichner gemacht, kann aber wegen | |
der psychischen Belastung durch das Verfahren im Berufsleben nicht mehr Fuß | |
fassen. Dazu kommen finanzielle Probleme. Anwalts- und Gerichtskosten über | |
all die Jahre belaufen sich auf Zehntausende Euro. | |
## Ein weiteres Mal vor Gericht | |
Selbst der damalige Justizminister des Landes bedauert Wörz öffentlich. | |
Doch bei den Verhandlungen zeigt sich das Land beklemmend hartherzig. Die | |
Staatskasse will nicht mehr als 112.000 Euro Entschädigung für die 1.667 | |
Tage erlittene Haft bezahlen. Zudem werden Kosten für Kost und Logis im | |
Gefängnis und Steuern abgezogen. Es bleiben ihm gerade einmal 25 Euro pro | |
Hafttag. Wörz zieht also ein weiteres Mal vor Gericht, streitet für eine | |
lebenslange Rente und muss wieder Demütigungen über sich ergehen lassen. | |
Die Bürokraten zweifeln etwa an, dass er je eine Chance gehabt hätte, in | |
seinem neuen Beruf zu arbeiten. Sie wollen der Entschädigungssumme das | |
geringere Gehalt, das er vor seiner Festnahme als Installateur erhalten | |
hat, zugrunde legen. Wörz tut, was er in all den Jahren gelernt hat. Er | |
arbeitet sich durch Akten, von denen er sagt: „Sie sind mein Schutzschild.“ | |
Zieht man in Betracht, was dieser Mann erlitten hat, ist die Summe, die | |
Wörz nun als Entschädigung akzeptiert, nicht viel Geld. Aber welche Summe | |
wäre schon angemessen für jemanden, der mit allem Recht von sich sagt: „Die | |
haben mein Leben kaputt gemacht“? | |
10 Jan 2017 | |
## AUTOREN | |
Benno Stieber | |
## TAGS | |
Baden-Württemberg | |
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