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# taz.de -- Neuer Film der Dardenne-Brüder: Verhöre im Sprechzimmer
> Für Dr. Davin ist alles eng verflochten, zu eng. In „Das unbekannte
> Mädchen“ werden die Brüder Dardenne zu zwei Sadisten.
Bild: Ein Leben in der Praxis: Adèle Haenel als Dr. Davin
So eine Ärztin wie Dr. Davin (Adèle Haenel) hätte man gern. Eine reine
Seele, der die genau richtige Mischung aus Professionalität und
Warmherzigkeit gelingt, ausgestattet mit feinen Sensoren für die Sorgen und
Nöte ihrer Patienten. Dr. Davin ist streng, wenn es um die Diagnose geht,
und weich, wenn um den Menschen. Man kann es nicht anders sagen: Diese
Allgemeinmedizinerin ist wirklich wie aus dem Bilderbuch.
Luc und Jean-Pierre Dardenne, deren zehnte Regiearbeit „Das unbekannte
Mädchen“ – „La fille inconnue“ – ist, bemühen sich in dieser Hinsic…
nicht gerade um Subtilität. Einmal wird Dr. Davin unter einem Vorwand zu
einem Hausbesuch gelockt, nur um vor Ort mit einem Lied überrascht zu
werden, dessen Zeilen ihr zu Ehren erdichtet worden sind. Die junge Ärztin
ist gerührt, geht dann aber schnell zur Tagesordnung über: „Wenn ich schon
mal hier bin, kann ich dich ja auch gleich untersuchen.“
Für Dr. Davin ist alles eng miteinander verflochten: der Beruf, das
Diagnostizieren, das Helfen. Tatsächlich lassen die Dardennes Adèle Haenel
auch nie aus dieser Rolle treten. In „Das unbekannte Mädchen“ ist kaum eine
Spur von Privatleben zu erkennen, keine Freunde, keine Familie, kein
Partner. Was man sie zu sich nehmen sieht, stammt nicht selten aus den
Händen ihrer Patienten: ein paar frische Waffeln hier, ein Kuchen da, eine
Tasse Kaffee. Selbst eine eigene Wohnung gibt es nicht, denn Jenny Davin
bezieht bald die Praxis, die sie gerade vom alten Dr. Habran (Yves Larec)
übernommen hat.
Nun ist der Film genau um diese Sorgfalt herum, die eigentlich an
Zwanghaftigkeit grenzt, gebaut. Lediglich einen einzigen Moment bewusster
Abkehr gibt es, nachdem Dr. Davin zahlreichen Menschen doch ziemlich nah
gekommen war, behaarte Rücken mit dem Stethoskop abgehört, entzündete
Wunden versorgt und Spritzen gesetzt hat. Der ist dafür aber fatal.
## Die Brüder Dardenne brauchen nur einen Moment
Auch „Das unbekannte Mädchen“ ist dem sozialrealistischen Ethos
verpflichtet, mit dem die belgischen Brüder Dardenne sehr erfolgreich sind.
Auch „Das unbekannte Mädchen“ feierte wie zuletzt „Zwei Tage, eine Nacht…
wo es um die depressive und vor einer Entlassung bangende Sandra (Marion
Cotillard) geht, Premiere im Wettbewerb von Cannes. Mit ihr hat die von
Haenel gespielte Jenny Davin die Fokussierung auf ein Ziel gemeinsam,
welche wie ein Motor die gesamte Erzählung antreibt.
Versuchte Sandra die Belegschaft auf ihre Seite zu holen, treibt Dr. Davin
die Suche nach der Identität des „unbekannten Mädchens“ an, für deren
Schicksal sie sich mitverantwortlich fühlt. Die Verbindung zu ihr wird
durch jenen einen Moment hergestellt, der unscheinbar und nebensächlich
sein könnte – wüsste man nicht, dass Luc und Jean-Pierre Dardenne genau ihn
brauchen, um ihre Musterärztin auch außerhalb ihres medizinischen Auftrags
Untersuchungen anstellen zu lassen.
## Alles greift etwas zu gut ineinander
Es ist das Summen der Klingel an der Praxistür, das sich Jenny Davin zu
ignorieren entschließt, weil die Sprechstunde seit einer Stunde vorbei ist
und man sich, wie sie ihrem Praktikanten Julien (Olivier Bonnaud) erklärt,
doch an einen gewissen Rahmen halten müsse. Aus Selbstschutz. Leider
entpuppt sich gerade dieses Nichtstun als Fehler. Denn die, die so spät
noch läutete, ist kurz darauf tot. Wahrscheinlich einem Kriminaldelikt zum
Opfer gefallen. Die Praxis hätte vielleicht ihre Rettung bedeutet.
In „Das unbekannte Mädchen“ werden Jean-Pierre und Luc Dardenne zu zwei
Sadisten. „Wäre sie tot, würden wir nicht ständig an sie denken“, sagt d…
arme Dr. Davin an einer Stelle. Sie setzen die ausgezeichnete
Diagnostikerin auf jenen Fall an, lassen zu, dass sie ihr Sprechzimmer zum
Ort von Verhören macht und im Lütticher Untergrund ermittelt. Immer dabei:
das Foto des digitalen Türspions, auf dem sie zu sehen ist, die Unbekannte.
Die Dardennes beweisen in „Das unbekannte Mädchen“ selbst einiges Geschick
bei der Pulsmessung. Dabei greift aber alles ein bisschen zu gut
ineinander, ist zu sehr konstruiert – auch das Weiche.
15 Dec 2016
## AUTOREN
Carolin Weidner
## TAGS
Film
Belgien
Cannes
Film
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