# taz.de -- Gutachten Berliner Straßenkinder wurden einst bei Pädophilen unte… | |
Bild: Helmut Kentler, Pädagogisches Zentrum, 1971 | |
von Nina Apin und Robert Pausch | |
Westberlin, Ende der Sechzigerjahre. An der Gedächtniskirche und rund um | |
den Bahnhof Zoo leben rund 1.000 Straßenkinder, die aus Heimen ausgerissen | |
sind. Sie sind ein sichtbares Symbol für das Versagen der städtischen | |
Sozialfürsorge. Der Druck auf den Senat wächst, Alternativen zum Heim sind | |
gefragt. Ein Vorschlag kommt aus dem Pädagogischen Zentrum, einer | |
renommierten Bildungseinrichtung. Dessen Abteilungsleiter Helmut Kentler | |
ist ein Star der linken Pädagogenszene. 1969 schlägt er vor, einige der | |
Jungen, die sich am Bahnhof Zoo prostituieren, bei vorbestraften Pädophilen | |
unterzubringen. Die Männer, so Kentlers These, würden sich schon deshalb | |
liebevoll um die Kinder kümmern, weil sie sexuell an ihnen interessiert | |
seien. | |
Allein die Idee würde heute für Empörung sorgen. Doch in Berlin folgte die | |
SPD-geführte Jugend- und Sozialverwaltung Kentlers Rat und richtete drei | |
entsprechende Pflegestellen für 13- bis 15-Jährige ein: Missbrauch mit | |
staatlichem Siegel. Über einen Fall schrieb Kentler elf Jahre später in der | |
Zeitschrift konkret.sexualität: „Mir war klar, dass die drei Männer vor | |
allem deshalb so viel für ‚ihren‘ Jungen taten, weil sie mit ihm ein | |
sexuelles Verhältnis hatten.“ | |
Unter dem Titel „Der Versuch“ machte die taz 2013 den Missbrauch öffentlich | |
und forderte von den Berliner Behörden Aufklärung. 2015 wurde bekannt, dass | |
der Senat noch in den Neunzigern eine pädophilenfreundliche Politik | |
betrieb: Wie die Morgenpost berichtete, förderte die Senatsverwaltung für | |
Jugend die Vernetzung der schwul-lesbischen Szene durch eine „Adressliste | |
zur schwulen, lesbischen und pädophilen Emanzipation“; unter den gelisteten | |
Organisationen waren Lobbygruppen der organisierten Pädophilenbewegung. | |
Die Berliner Senatsverwaltung für Jugend und Bildung hat nun das Göttinger | |
Institut für Demokratieforschung mit der Aufarbeitung beauftragt. Das knapp | |
200 Seiten starke Gutachten der Politikwissenschaftlerin Teresa Nentwig – | |
„Die Unterstützung pädosexueller bzw. päderastischer Interessen durch die | |
Berliner Senatsverwaltung“ – wurde am Freitag der Öffentlichkeit | |
vorgestellt. Der taz lag es vorab vor. | |
Wer genau wann das Projekt bewilligte und wer in der Behörde davon wusste, | |
bleibt darin unklar. Die Politikwissenschaftlerin verweist auf die | |
schlechte Quellenlage und die Sprachlosigkeit vieler Zeitzeugen. Sie | |
identifizierte aber vier Mitarbeiterinnen, über deren Tisch der Vorgang | |
gegangen sein könnte, darunter die SPD-Jugendsenatorin Ilse Reichel-Koß, | |
die, wie Kentler, dem Arbeitskreis Neue Erziehung (ANE) angehörte. Auch | |
ihre Mitarbeiterin Erna Johansen, ebenfalls beim ANE aktiv, könnte das | |
Projekt abgesegnet haben. Beide sind verstorben, die zwei anderen infrage | |
kommenden Mitarbeiterinnen geben an, sich nicht zu erinnern. | |
## Im Ton „zu subjektiv“ | |
1988, rund 20 Jahre nach dem Beginn des Modellversuchs, beauftragte die | |
JustizsenatorinCornelia Schmalz-Jacobsen (FDP) Kentler mit einem Gutachten: | |
„Homosexuelle als Betreuungs- und Erziehungspersonen unter besonderer | |
Berücksichtigung des Pflegekindschaftsverhältnisses“. Kentler bezeichnete | |
sein „Experiment“ der Jahre 1969 bis 1973 darin als „vollen Erfolg“. | |
„Sekundärschwachsinnige“ Analphabeten hätten sich durch die Fürsorge der | |
Pädosexuellen zu selbständigen Persönlichkeiten entwickelt, die ein | |
„ordentliches, unauffälliges Leben“ führten. Er plädierte für sexualisi… | |
Erziehungsverhältnisse. | |
Justizsenatorin Schmalz-Jacobsen hatte gegen das Gutachten damals lediglich | |
einzuwenden, dass der Ton „zu subjektiv“ sei. Auch im Referat der | |
Senatsverwaltung für gleichgeschlechtliche Lebensweisen wurde es positiv | |
aufgenommen, schreibt Nentwig nun. 1989 erschien Kentlers Plädoyer für | |
pädophile Fürsorgebeziehungen unter dem Titel „Leihväter“ bei Rowohlt. A… | |
Beispiel für besonders fruchtbare und liebevolle Verhältnisse führte er | |
erneut sein Gutachten an – nur waren die Kinder in dieser Version deutlich | |
älter. Nentwig weist nach, dass er wiederholt Quellen zurechtbog, damit sie | |
sein politisches Anliegen – die Entkriminalisierung der Pädophilie – | |
stützten. Kentler habe sich als Wissenschaftler disqualifiziert . | |
Dass noch 1988 in der Senatsverwaltung kaum inhaltliche Kritik an Kentlers | |
Gutachten laut wurde, ist bemerkenswert. Ende der Achtzigerjahre war die | |
Vorstellung, dass es einvernehmlichen Sex zwischen Kindern und Erwachsenen | |
gebe, wissenschaftlich widerlegt. Doch in Westberlin, dem toten Winkel der | |
Republik, hielt sich die Deutung, Pädophilie sei ein „Verbrechen ohne | |
Opfer“, offenbar länger. | |
Nentwigs Studie belegt das: Bis Mitte der Neunzigerjahre, als sich die | |
meisten Schwulenorganisationen längst aus der solidarischen Allianz mit | |
Pädophilen verabschiedet hatten, finanzierte die Senatsverwaltung für | |
Familie und Jugend eine „Adressliste zur schwulen, lesbischen und | |
pädophilen Emanzipation“. Darauf fanden sich auch die Anschriften | |
pädophiler Lobbygruppen wie der AG Pädophilie NRW. Aus dem Referat für | |
gleichgeschlechtliche Lebensweisen flossen auch Finanzhilfen für den | |
Bundesverband Homosexualität (BVH), einen Verein, der die Legalisierung | |
sexueller Beziehungen zwischen Kindern und Erwachsenen forderte. | |
taz-Recherchen in den BVH-Archiven zeigen, dass das finanzielle Engagement | |
des Senats noch ausdauernder war: 1993 und 1994 flossen je mindestens | |
10.000 Euro Landesmittel an den BVH. Zumindest mittelbar förderte die | |
Berliner Politik über Jahre ein Netzwerk pädosexueller Lobbyisten und | |
Täter. | |
Die „AG Pädo“, unter dem Dach des BVH organisiert, war die strategische | |
Schaltstelle der pädosexuellen Aktivisten. Wie gründlich diese die grüne | |
Partei und das Kreuzberger Alternativmilieu unterwandert hatten, hatte | |
bereits ein Vorgängergutachten des Göttinger Instituts für die Grünen | |
belegt. In einer Einladung zur Mitgliederversammlung im November 1991, die | |
der taz vorliegt, heißt es, dass sich unter anderem der „Karst-Kreis“ mit | |
15 Leuten angekündigt habe – ein stadtbekannter Missbrauchszirkel um den | |
mehrfach vorbestraften Grünen-Politiker Fred Karst, der in Kreuzberg einen | |
„Keller für Schlüsselkinder“ betrieb. Auch der sogenannte „Gräfe-Kreis… | |
den pädophilen Altkader Dieter Ullmann sollte mit 30 Aktivisten eintreffen. | |
Die Aktivitäten der „AG Pädo“ waren der Polizei bekannt: Die Abteilung | |
Sexualdelikte sprengte eine ihrer Versammlungen in einer Großrazzia. Die | |
Senatsverwaltung hätte wissen können, welche Struktur von den Finanzhilfen | |
profitierte. | |
Nentwig deutet an, dass es noch viele Querverbindungen zu untersuchen gebe, | |
etwa zwischen Kentler und Gerold Becker, Leiter der Odenwaldschule. Sie | |
appelliert an Weggefährten und ehemalige Pflegesöhne Kentlers, ihr | |
Schweigen zu brechen. Dem Senat von heute rät sie, einen Ansprechpartner | |
für Betroffene zu benennen und einen Hilfsfonds einzurichten. | |
3 Dec 2016 | |
## AUTOREN | |
Nina Apin | |
Robert Pausch | |
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