# taz.de -- Humanismus in der Zukunft | |
> Säkulare Wende Vor 500 Jahren erschien der Roman „Vom besten Zustand des | |
> Staates und der neuen Insel Utopia“ im flämischen Leuven. Zum Jubiläum | |
> finden im dortigen Museum M und in der Unibibliothek Ausstellungen statt | |
Bild: Jan Gossaert, „A Young Princess with Armillary Sphere“, um 1530, The … | |
von Klaus Englert | |
In der frühen Neuzeit war Utopia eine Insel, auf die sich zahlreiche | |
Wunschfantasien richteten. Ambrosius Holbein stellte 1518 einen Holzschnitt | |
her, der im Hintergrund die bewohnte Trauminsel zeigt, mit blühenden | |
Handelsbeziehungen zur Außenwelt. Auffällig ist besonders der Vordergrund. | |
Hier steht der Reisende Raphael Hythlodaeus und zeigt seinem | |
Gesprächspartner Thomas Morus stolz die von ihm entdeckte Insel. Natürlich | |
ist die Szene pure Fiktion. Hythlodaeus, der den Amerika-Entdecker Amerigo | |
Vespucci auf seiner berühmten Schiffsreise begleitet haben soll, ist eine | |
Fantasiegestalt. Nur der Schriftsteller Thomas Morus, der den Roman schrieb | |
und die gleichnamige Insel erfand, ist real. | |
## Gelehrter und Humanist | |
Das weltbekannte Werk mit dem vollständigen Titel „Vom besten Zustand des | |
Staates und der neuen Insel Utopia“ erschien vor 500 Jahren in der | |
flämischen Universitätsstadt Leuven. Sein Verfasser war der englische | |
Gelehrte, Humanist und Politiker Thomas Morus, der 1515 als Gesandter ins | |
wirtschaftlich, wissenschaftlich und künstlerisch florierende Flandern | |
reiste. Dort kam er in Kontakt mit den Renaissance-Humanisten Erasmus von | |
Rotterdam, dem Antwerpener Pieter Gillis und dem Spanier Juan Luis Vives. | |
Auch der Flandern-Reisende Albrecht Dürer, der Augsburger Hans Holbein, | |
dessen Bruder Ambrosius und nicht zuletzt der aus Leuven stammende Quentin | |
Massys standen den Humanistenkreisen nahe. Nachdem Erasmus sein Buch | |
„Moriae encomium“ („Lob der Torheit“) in Morus’ Londoner Haus geschri… | |
hatte, verfasste und publizierte der Freund den Roman „Utopia“ (beide | |
Bücher wurden von Hans Holbein illustriert) im fernen Flandern, da er hier | |
vor den Nachstellungen der Krone sicher war. Denn „Utopia“ war zweifellos | |
eine verschlüsselte Kritik an der Monarchie unter Heinrich VIII. Der darin | |
beschriebene Idealstaat, der Privateigentum und Geld abschaffte und eine | |
auf egalitären Grundsätzen basierende Gemeinschaft bildete, war nicht nur | |
geografisch weit entfernt von der korrupten Willkürherrschaft der | |
englischen Monarchie, deren anfänglich humanistisches Antlitz alsbald | |
infolge der Machtgelüste Heinrichs VIII. verdrängt wurde. | |
Die derzeit in Leuvens Museum M und der Universitätsbibliothek gezeigten | |
Jubiläums-Ausstellungen offenbaren nicht allein die Gelehrtenfreundschaften | |
in der Frührenaissance, sie veranschaulichen auch die Fantasien vom | |
besseren Leben, die auf die Neue Welt projiziert wurden. Vespuccis | |
Reisebriefe über den neu entdeckten Kontinent beflügelten die | |
Vorstellungskraft seiner Zeitgenossen. Johannes Stradanus und Philips Galle | |
fertigten 1590 eine Grafik an, die zeigt, wie der mit Emblemen der | |
Herrschaft ausgestattete Vespucci nach der Landung auf dem neuen Kontinent | |
die allegorische Figur der nackten America trifft, während im Hintergrund | |
die Feuer der Eingeborenen lodern. Auch Thomas Morus las die Zeugnisse des | |
italienischen Seefahrers und ließ in „Utopia“ Hinweise auf Vespuccis | |
Expedition einfließen. Allerdings gibt es zwischen Morus’ „Utopia“ und d… | |
zeitgenössischen Darstellungen der Neuen Welt gravierende Unterschiede: Der | |
Autor stellte sich das Leben auf der vor dem Kontinent gelegenen Insel | |
nicht als barbarisch, sondern als erstaunlich zivilisiert vor. Morus | |
übertrug dabei seine Kenntnisse aus der Lektüre griechischer, | |
mittelalterlicher und neuzeitlicher Texte, die er in die Darstellung der | |
Lebensweise der Utopier einfließen ließ. | |
## Präzise Kartografie | |
Als Morus „Utopia“ 1515 in Leuven verfasste, lag die erste Weltkarte mit | |
einer Darstellung Amerikas gerade acht Jahre zurück. Martin Waldseemüllers | |
„Mapa Mundi“ von 1507 fehlt zwar in der Ausstellung, dafür wird deutlich, | |
wie sich die Faszinationskraft der Neuen Welt in immer präziseren | |
Weltkarten niederschlug. Während im späten 15. Jahrhundert die Karten | |
Nordafrikas noch mit Monstern reich illustriert waren und die Imagination | |
anregten, war Pierre Desceliers’ Kartografie der bislang bekannten vier | |
Kontinente (1550) schon erstaunlich präzise. Obgleich Thomas Morus | |
Augustinus’ „Civitas Dei“ kannte, entwickelte er in „Utopia“ genaue | |
Vorstellungen von der Lebensform in den 54 Städten des Inselreichs: | |
Gleiches Recht für alle, monogame Ehe, gemeinschaftlicher Besitz, | |
Sechsstundentag und verbesserte Krankenversorgung bilden Grundpfeiler der | |
Gesellschaftsordnung. Zudem sollten alle zehn Jahre die Wohnhäuser | |
ausgelost werden. Schließlich wurde in Utopia die Armut beseitigt; jeder | |
könne dort, so Morus, „ohne Sorge fröhlich und ruhig leben.“ „Utopia“… | |
erste weltliche Utopie, erste Idealstadt der Renaissance. Allerdings | |
knüpft sie noch an den kirchlichen Stadtvorstellungen des Mittelalters an, | |
vornehmlich am Ideal des Himmlischen Jerusalem, in dem Scholastiker das | |
Urbild harmonischer Maßverhältnisse erblickten. Entsprechend wollte der | |
spätere englische Lordkanzler auch mit dem chaotischen Stadtbild des | |
Mittelalters aufräumen. Seit Erscheinen von Thomas Morus’ Roman gilt: Der | |
soziale und räumliche Bezug auf eine verbesserte Lebenssituation sollte zum | |
Wesensmerkmal der Utopie werden. Utopia läutete also eine säkulare Wende | |
ein. Das Andere – der Bezug auf einen anderen Ort, einen anderen Topos, | |
eine andere Gesellschaft – wurde von nun an bestimmend für das utopische | |
Denken. | |
Später, in den sozialrevolutionären Utopien des 19. Jahrhunderts, wird | |
dieser Ort allerdings in die Zukunft verlagert. Karl Kautsky beschrieb 1926 | |
den englischen Juristen als Vordenker einer zukünftigen kommunistischen | |
Gesellschaft. Und Karl Marx, der Morus’ „Utopia“ gutkannte, sprach vom | |
„Reich der Freiheit“, in dem die Menschen, endlich von den kapitalistischen | |
Produktionszwängen befreit, ihre Anlagen und Bedürfnisse allseits ausbilden | |
könnten. Bis ins 20. Jahrhundert hinein waren neomarxistische Philosophen | |
überzeugt, die Entwicklung der Technik würde die menschliche Lebenswelt | |
und die Beziehungen zwischen den Menschen verbessern. Erst heute sehen wir, | |
dass dieser Glaube an die Funktion von Technik im Dienste einer gerechteren | |
Gesellschaft ein Irrglaube war. Die digitalen Techniken haben alles | |
Utopische in sich aufgesogen, bis das Bedürfnis danach zum Anachronismus | |
wurde. | |
## Tausend Egos | |
Das Navigieren in digitalen Welten hat sich der Koordinaten des Raums – | |
griechisch: des topos – entledigt. Aber auch des Gesellschaftlichen. | |
Deshalb ist die Rede von den „sozialen Medien“ purer Euphemismus. Und so | |
lautet auch das von Konzernzentralen im Silicon Valley gestreute Mantra | |
„Selbstoptimierung“. Woraus allerdings resultiert, dass tausend „Freunde�… | |
nichts weiter sind als tausend „Egos“, die niemals zu einer sozialen | |
Gemeinschaft finden werden. Wenngleich die „sozialen“ Medien nicht davon | |
ablassen, genau dies den Nutzern zu suggerieren. Wie bei der inflationären | |
Produktion von Selfies werfen diese Medien uns das eigene Bild zurück, in | |
das wir selbstverliebt starren. | |
Die Utopie befreit sich zusehends vom Sozialen und wandert ins Technische | |
ab. Konsequenterweise spricht man dort nicht von Utopien, sondern von | |
Revolutionen. Tatsächlich werden „Revolutionen“, Schritte in neue digitale | |
Welten, in immer kürzeren Zeitspannen ausgerufen. Morgen schon wird, obwohl | |
man sich gerade ans alte gewöhnt hat, das allerneueste iPhone als das | |
technische Nonplusultra verkündet. Konsumentenerwartungen scheinen sich auf | |
quasi religiöse Phänomene zu richten. | |
Der Sozialphilosoph Ernst Bloch bemerkte einmal: „Der Fortschrittsbegriff | |
ist einer der teuersten und wichtigsten.“ Allerdings bedeute er nichts ohne | |
„gesellschaftlichen Auftrag“ und „Zielinhalt“. Fortschritt in Blochs Si… | |
war noch utopisch und zukunftweisend. Dieses Begriffsverständnis ist | |
mittlerweile völlig ausgedünnt. In den digitalen Medien erscheint | |
Fortschritt allein als grenzenloses Surfen durch schwerelose Clouds. Es ist | |
ein Fortschritt ohne Ort, ohne Gesellschaft und ohne sozial vermittelte | |
Zukunft. | |
Bis 17. Januar: M – Museum Leuven: „Auf der Suche nach Utopia“; „The Fu… | |
is More. 500 Years Utopia“, Universitätsbibliothek Leuven. | |
Jan van der Stock: „In Search of Utopia. Art and Science in the Era of | |
Thomas Morus“. Amsterdam University Press 2016, 416 Seiten, 59,95 Euro | |
22 Nov 2016 | |
## AUTOREN | |
Klaus Englert | |
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