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# taz.de -- Das Krokodil als Ballerina
> Theater Das Kollektiv „Voll:Milch“ listet auf der Bühne die Monster
> unserer Zeit auf, spielt mit Erwartungen und zeigt ein Sammelsurium der
> Furcht. Wem trotzdem das Kinn gen Brust sinkt, wird mit Glitzervideos
> geweckt
Bild: Im Ganzkörperanzug aus Glitzerschuppen: Die Darsteller des Kollektivs �…
von Kornelius Friz
Ängste gibt es viele. Die Angst, etwas zu verpassen. Die Angst vor Neuem.
Die Angst vor dem Alter. Die Angst vor „Monstern, die die Zeit gebiert.“
Die Angst vor Dieben. Die Angst, eine falsche Entscheidung zu treffen. Die
Angst vor Überfremdung. Die Angst vor der Abschiebung. Die Angst des
Torwarts beim Elfmeter. Die Angst vor dem Tod. Angst ist ein in der
Vernunft begründetes Gefühl, das uns vor Gefahr warnt, zunächst also ein
durchaus sinniges Grundgefühl. Vor „Monster Erlöser“ von der freien
Theatergruppe „Voll:Milch“ müssen die Zuschauer allerdings keine Angst
haben. Mit dem zweiten Teil ihres Monsterzyklus, der vergangenen Donnerstag
Premiere feierte, zeigt das Performancekollektiv eine Auszeit von der
Furcht.
Auch Monster gibt es viele. Ekaterina Trachsel rattert gleich zu Beginn des
Stücks eine nicht enden wollende Liste herunter, ganz ähnlich der
Aufzählung zu Beginn dieses Textes. Sie sitzt auf der nackten Theaterbühne
im Pavillon Hannover. In aller Ruhe erstellt sie eine Enzyklopädie von
ungeahnten Monstergattungen, „die in uns schlummern, Monster, die in
anderen schlummern. Monster, die unter, hinter oder auf
Einrichtungsgegenständen leben“. Jede Sehne ist gespannt, jede Silbe
liebevoll gesprochen und offen für Bedeutungen, mit denen das Publikum die
Monster anfüllt.
Schon hier wird deutlich, dass die Schlichtheit programmatisch ist. Sowohl
der dramaturgische, als auch der ästhetische Aufbau sind von Auslassungen
geprägt. Zugleich geht der über eineinhalb Stunden dauernden Inszenierung
die schematische Klarheit ab, die die Reduktion auf das Wenigste zum
Minimalismus, also zur Reduktion auf das Wesentliche, erhoben hätte.
In der mit Abstand besten Szene reiben sich Birk Schindler und Sebastian
Rest in winzigen Lichtfenstern die Schuppen von den Armen, Füßen und Köpfen
bis es rieselt wie in einer Schneekugel. Dass die Performenden ansonsten
immer allein auf der Bühne sind, scheint weniger inszenatorische
Notwendigkeit zu sein, denn vielmehr aus der Not geboren: Die Wohnorte der
Darstellenden sind mittlerweile über ganz Deutschland verteilt. Es wäre
eine Unterstellung, dass dieser Umstand die Produktion geprägt hätte. Und
doch entsteht der Eindruck, dass Voll:Milch nicht ausreichend Zeit zum
Proben aufwenden konnten.
Ein ästhetischer Wandel zu vorangegangenen Produktionen ist jedenfalls
augenfällig. Mit dem Stück „Refugee Homecare: Flüchtige Heimatpflege“ hat
das Kollektiv 2015 eine große Öffentlichkeit erreicht. Der Erfolg der
Performance, bei dem Voll:Milch mit vier sudanesischen Experten des Alltags
zusammenarbeitete, lässt sich sicher auch in seiner Gegenwärtigkeit
begründen.
Grundlegend war aber auch ihre aufwendige und durchdachte Ästhetik. Seit
diesem Jahr bekommt die freie Theatergruppe eine auf drei Jahre angelegte
Konzeptionsförderung des niedersächsischen Ministeriums für Wissenschaft
und Kultur. Die Gruppe, die sich am Hildesheimer Institut für Medien,
Theater und populäre Kultur gefunden hat, versteht sich als „politisches
Kollektiv, das eine Aussage, eine klare Erzählung, transportieren will“.
Klare Erzählungen sind kein elementares Werkzeug des postdramatischen
Theaters. Auch bei Voll:Milch sind die Erzählungen weniger eindeutig, als
sie behaupten. Dies war bislang jedoch ein Qualitätsmerkmal: Die erste
Monster-Produktion „terreur“ war differenziert ausgearbeitet und vor allem
relevant. Nun aber gerät die Vieldeutigkeit zur Beliebigkeit. Diesmal wird
kein konkretes Monster unserer Gegenwart gezeichnet.
Bei „terreur“ war das anders. Mit einer Menge Sprengstoff hat Voll:Milch
ein Cabaret der Furcht entworfen, das sich dem Terror widmet. Unterhaltsam
und effekthascherisch einerseits, zugleich aber feinsinnig und
aufklärerisch machten Paula Löffler, Stephan Mahn, Sebastian Rest, Birk
Schindler und Ekaterina Trachsel deutlich, warum die Gefahren und Ängste
dieser Tage nicht einfach zu begreifen und zu bekämpfen sind.
Für die dritte und letzte Monster-Performance wollen die fünf
Gründungsmitglieder wieder mit ExpertInnen des Alltags zusammenarbeiten.
Mit unfreiwilligen RepräsentantInnen von Armut soll eine Parade der
Bettelnden entstehen.
Die TheatermacherInnen lösen sich von bewährten Inszenierungsstrategien.
Doch mit der geringen Dichte an Aktion in „Monster Erlöser“, mag sie noch
so sehr intendiert sein, tut sich Voll:Milch keinen Gefallen. Wer sich bei
der Auflistung von Monstern oder beim stilisierten Schieben eines Beamers
dabei ertappt, dass das eigene Kinn langsam gen Brust sinkt, darf sich
später über beruhigende Glitzervideos freuen.
Der Ganzkörperanzug aus Glitzerschuppen, in dem Stephan Mahn die Ballerina
gibt, wird an drei Wände projiziert, sodass der Eindruck entsteht, die
Bühne atme. Diese Visuals sind ein Höhepunkt der Inszenierung. Aber der
Elefant im Raum ist ein anderer: Der Erlöser selbst, als der Sebastian Rest
sich bezeichnet. Nach dieser recht plump vorgetragenen Provokation ziehen
sich zahllose Verweise auf Jesus Christus und andere ErlöserInnenfiguren
aus der Popkultur durch die Inszenierung. Wobei sich die Texte einer
eindeutigen Kirchen- oder Religionskritik jedoch entziehen. So bleibt der
Titel „Monster Erlöser“ in der Luft hängen.
Leider entziehen sich die Texte und Handlungen auch jedem dramaturgischen
Zusammenhang. Hier werden die Hymnen von BRD und DDR eingespielt, dort wird
in aller Gemächlichkeit ein Schlagzeug aufgebaut. Irgendwann brüllt jemand
Whitney Houstons Titelzeile „And I will always love you“.
Wie das Liebeslied, ist auch „Monster Erlöser“ ein nicht eingelöstes
Versprechen. Viel zu spät fällt es dem Betrachter auf, dass mit seinen
Erwartungen gespielt wird, dass diese immer wieder nonchalant unterlaufen
und damit zum Kern der Inszenierung werden.
Das Schlagzeug wird quasi unbespielt wieder eingepackt und das Lied, das
Birk Schindler mehrmals in Aussicht stellt, singt er nie. Selbst nach der
Verbeugung der Darstellenden ist nicht klar, ob die Inszenierung vorbei ist
– und vor allem inwiefern auch diese Irritation inszeniert ist.
„Monster Erlöser“: 2. und 4. November, Burgtheater Domäne Marienburg,
Domänenstraße, Hildesheim. Infos: www.vollmilch.me
2 Nov 2016
## AUTOREN
Kornelius Luther
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