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# taz.de -- Finale der Major League Baseball: Ziege Murphy endlich gerächt
> Erstmals seit 1945 stehen die Chicago Cubs im Meisterschaftsfinale. Am
> Dienstag treffen sie auf einen anderen sympathischen Verlierer.
Bild: Aus dem Häuschen: Fans feiern vor dem Wrigley Field
Noch einmal muss sie erzählt werden, die Geschichte von der Ziege. Sie ist
alt, die Geschichte, und sie ist oft erzählt worden, viel zu oft. Gerade
aber wird sie in Chicago so oft und so leidenschaftlich erzählt wie
vielleicht noch nie zuvor. Andererseits aber hoffen sie dort, in Chicago,
dass sie nun ein letztes, ein allerletztes Mal erzählt wird, die Geschichte
von Murphy, der Ziege.
Sie geht ungefähr so: Im Jahr 1945 stehen die Chicaco Cubs in den World
Series, ein Kneipenbesitzer möchte mit seiner Ziege namens Murphy ins
Stadion, andere Zuschauer beschweren sich über den Gestank, Murphy wird der
Zutritt verwehrt, der Wirt sprach einen Fluch aus: „Nie wieder werden die
Cubs was gewinnen!“ Tatsächlich verlieren die Cubs die Endspielserie und
erreichen sie auch nie wieder. 71 Jahre lang. Der letzte Gewinn der World
Series liegt sogar noch länger zurück, 108 lange Jahre.
Nun aber ist er gebrochen, der Fluch der Ziege. Mit einem 5:0-Sieg im
sechsten Spiel der Halbfinalserie gegen die Los Angeles Dodgers erreichten
die Cubs die World Series. Am Dienstag müssen sie zum ersten Spiel bei den
Cleveland Indians antreten. Aber erst einmal wurde gefeiert: Die Sektsause
in der Umkleidekabine fiel noch ekstatischer als gewöhnlich aus, auf den
Rängen flossen Tränen, und in den Straßen von Chicago feierten die Fans die
ganze Nacht einen Erfolg, an den viele nicht mehr geglaubt hatten. „Ich
stand da draußen auf dem Feld“, sagte später Trainer Joe Maddon, „und ich
musste an sie alle denken, an die Fans, an deren Eltern, an deren
Großeltern und an deren Urgroßeltern.“
An all jene Generationen also, die ihren Cubs tapfer beim Verlieren
zugesehen hatten. 11.309 Spiele haben die Cubs gebraucht, um mal wieder die
Endspiele zu erreichen, 1.275 Profis haben in dieser Zeit für den Klub
gespielt. Nur zum Vergleich: Die New York Yankees standen seit 1945 ganze
26 Mal in den World Series. Währenddessen hatten es sich die Cubs und ihre
Anhänger in der Erfolglosigkeit durchaus wohlig eingerichtet. Die Fans im
vor 102 Jahren eröffneten Wrigley Field feierten ihre „Loveable Losers“
auch bei Niederlagen.
## Zauberer, Pantomimen und Strampelanzüge
Erst der seit fünf Jahren amtierende Sportdirektor Theo Epstein änderte
diese Kultur. Epstein holte Maddon, der mit unkonventionellen Methoden die
Last der Vergangenheit von seinen Spielern nahm. Maddon holt Zauberer und
Pantomimen zur Auflockerung des Trainings, lässt sein junges Team schon mal
in bunten Strampelanzügen zu Auswärtsspielen reisen und stellt Profis gern
mal auf Positionen auf, die sie nie zuvor gespielt haben.
Der Held des entscheidenden Spieles war Kyle Hendricks. Der Pitcher war
prädestiniert dafür, sich nicht beeinflussen zu lassen von der nervösen
Vorfreude, die in Chicago herrschte. Der 26-Jährige gilt als extrem
stoischer Vertreter seines Fachs: Egal, ob er verliert oder gewinnt, gut
wirft oder schlecht, nie verzieht er eine Miene.
Dermaßen geschäftsmäßig bewältigte er auch die bislang größte Aufgabe
seiner Karriere: Während er einen Dodger nach dem anderen mit leeren Händen
zurück auf die Bank schickte, während das altehrwürdige Stadion vibrierte
vor Nervosität, während sich Fans und Promis auf den Rängen auf die Nägel
bissen, sah Kendricks so teilnahmslos aus der Wäsche, als würde er Farbe
beim Trocknen zusehen. Nach dem Spiel war er auch so ziemlich der Einzige,
der seine Fassung behielt. „Wir sind noch nicht durch, wir haben noch
Arbeit vor uns“, vermeldete er mit der Emphase eines Buchhalters.
Gegen die Indians sind die Cubs nun klare Favoriten. Doch auch die Indians
können Geschichte schreiben: Zuletzt gewann man 1948 die World Series, nur
die Cubs warten noch länger auf den Titel. Aber niemand hatte damit
gerechnet, dass Cleveland überhaupt so weit kommt, und der bisherige
Durchmarsch in den Playoffs ist angesichts einer katastrophalen
Verletzungsmisere erst recht eine Sensation. Die Indians haben also nicht
wirklich etwas zu verlieren.
Im Gegensatz zu den Chicago Cubs. In jedem Spiel, in jedem Inning, bei
jedem Pitch und jedem Schlag steht auch diese monströse Vergangenheit mit
auf dem Feld, all die unglücklichen Niederlagen, die verpassten Chancen,
die tragischen und die peinlichen Zwischenfälle, die Jahrzehnte sportlicher
Mittelmäßigkeit und natürlich auch Murphy, die Ziege.
25 Oct 2016
## AUTOREN
Thomas Winkler
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