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# taz.de -- Vertieft in die Geschichte
> Literatur Der Text, ein unbekannter Freund. In Berlin startet der Ableger
> des britischen Projekts „The Reader“, das auf Vorlesen und gemeinsames
> Zuhören setzt, in zwei Bibliotheken
Es ist ruhig an diesem Mittwochvormittag in der Amerika-Gedenkbibliothek.
Rentner lesen in Sesseln Zeitung, andere sind mit ihren Laptops beschäftigt
oder sitzen über Büchern. An einem der Holztische aber gibt es etwas zu
hören. Sechs Menschen lauschen Stefanie Leimsner. Langsam liest sie aus
einer mitgebrachten Kurzgeschichte vor.
Als sie nach der zweiten Seite eine Pause macht, blicken alle auf. „Also
eine Portion Rassismus ist da schon dabei“, sagt eine Teilnehmerin und
deutet auf eine Formulierung im ersten Absatz. Kolonialismus,
gesellschaftliche Entfremdung und Vergänglichkeit thematisiert die
Kurzgeschichte, in die eben noch alle vertieft waren. „Die Geschichte“ von
Nadine Gordimer handelt von einem Papagei, der über die Jahrzehnte in einem
Restaurant an der Küste lebt.
Stefanie Leismer ist die Literaturvermittlerin, die dieses gemeinsame Lesen
leitet. In den kurzen Lesepausen sprechen alle über ihre spontanen
Eindrücke. „Der Papagei erinnert mich an meine Kindheit“, beginnt ein
Teilnehmer zu erzählen. Schon nach kurzem Austausch wird deutlich: Shared
Reading, wie die Veranstaltung nach einem englischen Vorbild heißt,
funktioniert nicht nach einem festen Schema, nach Regeln und auch ohne
besondere Affinität zur Literatur. Später wartet noch Lyrik, „Die
gestundete Zeit“ von Ingeborg Bachmann, auf die Gruppe.
Eine Erzählung, danach ein Gedicht: Das sind die festen Bestandteile der
regelmäßigen Veranstaltung. Der Lesekreis kennt die Texte zuvor nicht. Für
die TeilnehmerInnen ist es jedes Mal eine Überraschung.
Man erinnert sich, lacht, philosophiert und tauscht Gedanken aus. Die
Stimmung ist gemeinschaftlich, offen und unangestrengt. Hier wird gemeinsam
gelesen – nicht mehr, aber auch nicht weniger. Jeder kann teilnehmen,
spontan und kostenfrei.
Dass Shared Reading seit kurzem zwei Mal wöchentlich in der Zentral- und
Landesbibliothek Berlin stattfinden kann, ist Thomas Böhm, Autor und
ehemals Leiter des Internationalen Literaturfestes in Berlin, und dem
Verlagsmenschen Carsten Sommerfeldt zu verdanken. Die Berliner Lesungen
sind der Startschuss für ein großes Projekt, den deutscher Ableger von The
Reader: Diese Organisation stammt aus Liverpool. The Reader organisiert
seit etwa 15 Jahren Lesegruppen in Bibliotheken, Gemeindezentren,
Kindergärten und sogar in Gefängnissen. Und das in ganz England. 300
ehrenamtliche und etwa halb so viele festangestellte Mitarbeiter zählt das
britische Projekt bisher. Ziel ist es, Menschen mit unterschiedlichsten
Beziehungen zur Literatur zu verbinden.
Von dem simplen, aber wirkungsvollen Konzept waren die beiden sofort
überzeugt. „Gleich nachdem wir aus Liverpool zurückkamen, wollten wir die
Idee des gemeinsamen Lesens nach Deutschland bringen“, sagt Carsten
Sommerfeldt.
Drei Tage dauert der Kurs, in dem die „Facilitators“ ihre Ausbildung
absolvieren. „Für mich ist das schönste Erlebnis immer wieder, wie man sich
wertfrei und völlig individuell der Literatur nähern kann. Viele erleben
hier eine große geistige Freiheit“, sagt Stefanie Leimsner. Ein weiteres
Pilotprojekt soll ab dem neuen Jahr regelmäßig in Frankfurt am Main
stattfinden.
Eine Session dauert insgesamt 90 Minuten. Im Bibliotheksraum ist es danach
wieder still geworden. „Jeder, der hier teilnimmt, spürt, dass viel
Potenzial in Shared Reading steckt“, ergänzt Thomas Böhm zum Abschluss.
Ein Ziel haben die beiden Initiatoren in jedem Fall schon erreicht: Ein
wenig mehr literarisches Leben haben sie in die Berliner Bibliothekswelt
gebracht.
Verena Krippner
Jeden Montag um 18.30 Uhr in der Berliner Stadtbibliothek, Breite Str.
30-36, jeden Mittwoch um 11 Uhr in der AGB
5 Oct 2016
## AUTOREN
Verena Krippner
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