# taz.de -- Menschen eines vergangenen Systems | |
> Malerei Wir sind nur ein Sandkorn am Strand: Detailreich übersetzt die | |
> Künstlerin Inna Artemova in ihren Bildern Fotografien und Erinnerungen an | |
> eine sowjetische Kindheit in Malerei. Die Janine Bean Gallery zeigt ihre | |
> Bilder | |
Bild: Technik, Fortschritt, Zukunft: Inna Artemovas „Hide&Seek 6“ | |
Von Verena Krippner | |
Die Studenten sitzen in vier Reihen hintereinander und sehen auf die | |
skurrilen runden Gebilde vor ihnen. Die Rundungen drohen in kantige | |
Scherben zu zerbersten. Der Boden ist bereits mit blauen Kugeln übersät. | |
Braune Farben und aquarellfarbene Elemente neben pastosem Farbauftrag | |
lassen das Gemälde nostalgisch wirken. Die harmonische Farbgebung hält den | |
abstrakten Kontext zusammen. | |
Menschen im bürgerlichen Stil neben technisch-surrealen Sonderbarkeiten: | |
Nicht bloß malerisch verwendet Inna Artemova verschiedene Techniken in nur | |
einem Gemälde. Für sie ist es auch ein Leichtes, Futuristisches mit | |
sozialistischen Bildthemen in Einklang zu bringen. | |
In ihrer Kunst reflektiert die 1972 in Moskau geborene und aufgewachsene | |
Künstlerin ihre Erziehung und ihre Erinnerungen an sowjetische Strukturen. | |
Menschen, wie aus Fotografien entsprungen, konfrontiert sie mit absurden | |
technischen Geräten. Die fleißige Hausfrau mit dem Bügeleisen, Kinder beim | |
Klavierunterricht oder schreibende Studenten finden Kabel, überdimensionale | |
Fernrohre und Laser vor und Apparate auf ihren Köpfen. Technik, Tiere, | |
Momentaufnahmen: Wer genau hinsieht, erkennt noch einige Details mehr, die | |
sich geradlinig durch die derzeitige Ausstellung in der Janine Bean Gallery | |
ziehen. | |
Entschlüsseln will die Künstlerin, die seit 1998 in Berlin lebt, die | |
surrealen Elemente in ihren Werken aber nicht. „Hide&Seek“ (englisch für | |
„Versteckspiel“) versteht Inna Artemova als eine Einladung an den | |
Betrachter: „In meinen Gemälden finden sich Details, die unlogisch oder | |
geheimnisvoll wirken. Natürlich haben sie für mich eine Bedeutung, trotzdem | |
entzaubere ich sie nicht. Jeder soll darin eigene Assoziationen finden.“ | |
Damit distanziert sie sich zunächst von ihrer eigenen Kunst und überlässt | |
die Reflektion gänzlich den Rezipienten. | |
Tatsächlich zeigen ihre neusten Gemälde eine weitere Stufe ihrer ganz | |
persönlichen Selbstreflexion. Sie kam über die Gebäude zur Gesellschaft. | |
Individualität, Aufbau und Verfall: Da sie in Moskau Architektur studiert | |
hat, ist es nicht verwunderlich, dass noch bis vor einem Jahr | |
Gebäudestrukturen ihre Bildthemen dominierten. Der Mensch funktionierte in | |
ihren Arbeiten als Beiwerk. Jetzt rückt sie die Gesellschaft in den | |
Mittelpunkt. Enttäuschte Erwartungen, Krimkrise, Korruption: In Artemovas | |
Gemälde lassen sich viele gegenwärtige Zusammenhänge hinein interpretieren. | |
Mit ihren Bildinhalten will sie allerdings keine politischen Botschaften | |
transportieren. Das Persönliche und Historische steht für sie klar im | |
Vordergrund: „Vor allem bin ich Malerin. Ich bin im Sozialismus | |
aufgewachsen. Ich war dabei und es hat mich geprägt.“ | |
Das ist einer der Gründe für sie, die Vergangenheit und Zukunft mit | |
subjektiven Erfahrungen bildlich zu kombinieren. Für Inna Artemova spielt | |
außerdem die Erinnerung eine zentrale Rolle. Sie beschäftigt sich mit der | |
veränderten Wahrnehmung. Was dichten wir selbst in unsere Kindheitstage? | |
Welche Emotionen waren Wirklichkeit, welche sind Einbildung? Fotografische | |
Momentaufnahmen lassen sich dagegen nicht beeinflussen. „Jeder kann dir | |
einreden, dass ein Erlebnis besonders schön für dich gewesen ist. Aber | |
Fotografien halten den Moment unverfälscht fest.“ | |
Mit dem Familienalbum hatte es angefangen: Die sozialistischen Motive in | |
ihrer Kunst entspringen privaten und archivierten Fotografien. Sie zeigen | |
Menschen eines vergangenen Systems. Inna Artemova projiziert sie auf die | |
Leinwand und erweitert sie, nimmt sie mit in die Zukunft. „Die Menschen auf | |
den Bildern sind meine Protagonisten. Sie standen für ihre Ideale und | |
hatten ihre Vorstellungen, die heute so nicht mehr existieren.“ Die | |
Menschen, einst Teil eines Systems, sind in ihren Werken zu Elementen einer | |
Inszenierung geworden. „Ich möchte auch zeigen, dass wir uns und unser | |
Leben oft zu wichtig nehmen. Die Menschen auf den Fotos hatten ihr eigenes | |
Leben geführt, das jetzt Vergangenheit ist. Es zeigt, dass wir eben doch | |
nur ein Sandkorn am Strand sind.“ | |
Es sind Zeugnisse der Vergänglichkeit, welchen sie eine neue Bedeutung | |
gibt: Als Überreste einer vergangenen Zeit stehen sie im Gegensatz zur | |
Technik, zur Zukunft. Artemova stellt zwischen den Oppositionen eine | |
Verbindung her. Krasse Gegensätze und gefundene Gemeinsamkeiten | |
koexistieren in ihrer Zwischenwelt. Dazwischen Menschen, die in die Zukunft | |
blicken und nicht ahnen, dass sie darin nicht mehr zu finden sein werden. | |
„Hide&Seek“, Janine Bean Gallery, Torstraße 154, bis 15. Oktober | |
21 Sep 2016 | |
## AUTOREN | |
Verena Krippner | |
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