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# taz.de -- Der Seelsorger
> EHRENAMT Helmut Schön war Bürokaufmann und leitete Personalabteilungen.
> Über einen Betriebsseelsorger kam er zur Sozialarbeit. Heute betreut und
> hilft er in Ulm geflüchteten Menschen – und stößt auf Hindernisse
Bild: Helmut Schön
von Gabriele Goettle
Helmut Schön, Bürokaufmann Personalwesen, Notfallseelsorger. In
Frankfurt/Main geboren und aufgewachsen. Hauptschulabschluss gemacht, mit
15 eine dreijährige Bürokaufmannslehre absolviert, mit 20 geheiratet.
Gearbeitet u. a. bei Neckermann und in anderen bekannten Unternehmen. 1979
Umzug ins Allgäu, dort Arbeit als Personalchef in einem Laborbetrieb. 1981
Umzug nach Ulm und Arbeit als Personalleiter bei einer Mannesmann-Tochter.
Nach sechs Jahren beruflich unzufrieden, deshalb Entscheidung für die
Sozialarbeit. Psychologische, sozialpädagogische Zusatzausbildungen und
Schulungen gemacht sowie ehrenamtliche Arbeit für den Sozialverband. Arbeit
als Notfallhelfer und in der Flüchtlingsarbeit. Nebenher Busführerschein
und Reiseleiterdiplom absolviert, zum Gelderwerb in dem Beruf gearbeitet.
2002 Erkrankung und Frühverrentung als Schwerbehinderter. Im Juli 2016
wurde er in Ulm für sein soziales Engagement mit dem Dentler-Ring
ausgezeichnet.
Helmut Schön wurde 1947 als Sohn eines Bahnbeamten geboren, seine Mutter
war Stepperin für Schuhe.
Herr Schön bewohnt, gemeinsam mit seiner Frau, eine sympathisch
eingerichtete Neubauwohnung in Ulm-Wiblingen. Bücher, Bilder und das
Mobiliar, alles wirkt unaufdringlich und strahlt Harmonie aus. Frau Schön
bringt uns Tee und zieht sich dann diskret ins Nebenzimmer zurück. Herr
Schön ist ein gutes Beispiel dafür, wie sich ehrenamtliche Helfer
hingebungsvoll all jenen Aufgaben widmen, die eigentlich zu den sozialen
Pflichten eines Staates gehörten. Dass es vielerorts noch sozial und
menschlich zugeht, verdankt sich fast ausschließlich bürgerlichem
Engagement. Ich frage Herrn Schön, wie er eigentlich auf die Idee kam,
Notfallhelfer zu werden. Er blickt mich direkt an, schweigt einen Moment
und sagt dann:
„Da muss ich ein bisschen zurückgehen. Während meiner Zeit als
Personalleiter habe ich den damaligen Betriebsseelsorger Werner Baur
kennen. Mein erster Gedanke war: Was will denn der Pfaffe im Betrieb? Es
reicht doch, dass wir unsere Gewerkschaft haben! Im Laufe der Zeit lernte
ich ihn aber sehr zu schätzen, besonders in seiner unbestechlichen Art, das
Richtige zu tun. Er hat sich viel mit Arbeitslosen beschäftigt, hat auch
Fernfahrer-Seelsorge gemacht. Jedenfalls hat er mich dazu motiviert, die
Personalleitung aufzugeben und in die Sozialarbeit zu gehen. Einerseits
habe ich mich anfangs als einziger Protestant innerhalb der katholischen
Kirche in Ulm, im Verein Körperbehinderte und ihre Freunde, um Behinderte
gekümmert. Zugleich habe ich mit Baur zusammen eine Ausbildung zum
Suchttherapeuten gemacht. In den Großbetrieben wurden Mitarbeiter zu
freiwilligen Helfern ausgebildet. Vor allem, was Alkoholprobleme in
Betrieben betrifft, aber auch bei der Polizei, denn berufsgruppenmäßig ist
die Polizei unter den ersten zehn Plätzen zu finden, zusammen mit Lehrern
und katholischen Pfarrern. In diesem Zusammenhang habe ich dann fast
durchgehend gearbeitet.
## Der Ehemannliegt tot im Bett
Der besagte Werner Baur – mit dem ich inzwischen 35 Jahre lang befreundet
bin, er ist jetzt 75 – hat 1999 in Ulm die Notfallhilfe gegründet. Das war
überfällig geworden, weil man bei großen Schadenslagen wie dem ICE-Unfall
von Enschede 1998 gesehen hat, was passiert, wenn man keine
Notfallseelsorge hat. Viele von den jungen Rettungskräften, Sanitätern usw.
haben sich in den Folgejahren suizidiert. Das wurde nie veröffentlicht.
Die Notfallhilfe entwickelte sich gut. Zunächst waren es nur kirchliche
Leute, Pfarrer, Diakone. In der Anfangsphase gab’s keine Ausbildung, dann
kamen auch Freie hinzu – und eine dreijährige Ausbildung. Ich habe die 2006
gemacht, da war die Notfallhilfe schon etabliert, damals waren es 24
Mitarbeiter, heute sind es 43. Alle ehrenamtlich. Anfangs ist man mit
erfahrenen Notfallhelfern mitgegangen. Da ich der einzige Rentner im
Notfallteam war, kam ich schnell zu vielen Einsätzen, denn ich hatte ja
Zeit. Ich habe nebenher noch Zusatzausbildungen gemacht, als leitender
Notfallseelsorger und als Leiter der psychosozialen Notfallversorgung.
In den Medien werden immer die großen, dramatischen Fälle dargestellt, aber
in unserem Alltag als Notfallhelfer haben wir es meist mit eher
unspektakulären Fällen zu tun. Normale häusliche Einsätze: Der Ehemann
liegt morgens mit 86 tot im Bett, die Ehefrau ist unter Schock und allein.
Da werden wir dann gerufen. Über die Feuerwehrleitstelle. So ähnlich sind
mehr als 70 Prozent der Einsätze.
Mein erster Einsatz war allerdings ein bisschen anders – da war ich erst
zwei Tage Mitarbeiter. Während einer Dienstbesprechung kam der Alarm, es
ging um eine Betreuung nach Kindstötung. Eine 17-jährige türkischstämmige
Frau hatte ihr Neugeborenes acht Stunden nach der Geburt erdrosselt. Die
Frau wurde verhaftet, und wir haben die Familie betreut. Wir haben an der
Wohnungstür die Schuhe ausgezogen, das ist so der Brauch. Wir haben ihn
respektiert, während zuvor die ganze Zeit Polizei und Kripo mit Schuhen
durch die Wohnung gegangen sind. Hatten sie Angst, in Socken lächerlich zu
wirken?
Die Familie jedenfalls hatte nichts dazu gesagt. Sie sind gläubige Muslime,
sehr liebevolle Menschen. Die Familie hatte keinen Druck ausgeübt auf die
Tochter. Es ist eine moderne Familie, die Frauen tragen kein Kopftuch,
trotzdem war das passiert. Wir haben uns dann mit allen hingesetzt und
vorsichtig über das Problem gesprochen. Da werden alle einbezogen, in dem
Fall auch die Geschwister und die Großeltern. Die vor allem!
Es kommt nicht selten vor, dass wir bei muslimischen Familien gemeinsam mit
dem Imam die Familien betreuen. Im Islam gibt es das Wort Seelsorge nicht,
der Imam kümmert sich um die Familie. Er gibt ihr Halt, zusammen mit den
herbeigeeilten Verwandten. Falls welche kommen, denn auch hier nähern sich
Türkischstämmige unserem Kleinfamilienmodell an und damit der Vereinsamung.
Ich habe festgestellt, dass wir im Jahr so 20 bis 30 Einsätze bei
muslimischen Familien haben, etwa zehn Prozent. Da lernt man die Familien
und die Verhaltensweisen kennen.
Auch was den Umgang mit dem Tod betrifft: Im Islam ist der Totenkult anders
als bei uns Christen. Ein totes Kind ist beim Urvater Abraham und wacht
über seine Eltern. Der tote Mensch ist sofort bei Gott. Normalerweise soll
nicht viel Zeit verstreichen bis zur Beerdigung. Wir haben eine große
Moschee in Ulm, die auch ein eigenes Bestattungsinstitut hat. Da können die
rituellen Waschungen und Salbungen vorgenommen werden. Danach gibt es ein
Totengebet, und dann wird bestattet. Wir haben hier in Ulm ja einen eigenen
muslimischen Friedhof und bei uns in Baden-Württemberg – das ist wichtig –
dürfen Muslime, ihrer Tradition entsprechend, lediglich in ein schlichtes
weißes Tuch gewickelt und ausgerichtet nach Mekka bestattet werden.
Anderswo sind noch der Sarg und Liegeordnung vorgeschrieben.
Ich kann kurz erzählen, wie das normale Procedere bei der Notfallseelsorge
ist. Wenn sie die Todesnachricht erhalten haben, bleiben wir erst mal bei
den Angehörigen, manchmal sechs bis acht Stunden, je nachdem, wie es die
Situation erfordert. In erster Linie sind wir da. Einfach nur da.
## Der gute Opa mit den weißen Haaren
So unterschiedlich, wie die Menschen nun mal sind, so unterschiedlich
reagieren sie auch. Am typischsten ist es, dass sie höflich sind. Die
zweite Reaktion ist, dass sie weinen, eine dritte, dass sie zur Salzsäule
erstarren. Also es gibt in der Anfangsphase, unmittelbar nach dem Ereignis,
keinen Bedarf an Trost. Die Leute trauern da noch nicht. In dieser Phase
gibt es nur Stumpfheit oder unerträgliche Schmerzen. Dann kommen Wut,
Trauer und Verzweiflung auf, und ab da können wir mit der Trauerarbeit
beginnen. Ich habe den Vorteil, rein optisch, als ‚dicker, alter Mann‘
wahrgenommen zu werden, Typ ‚guter Opa mit weißen Haaren‘. Das wirkt
vertrauensbildend. Diesen Vorteil nutze ich natürlich aus. Es funktioniert
auch gegenüber Männern. Es gab einen 86-jährigen Landwirt, dessen Sohn im
Alter von 60 Jahren umgekommen ist. Ich habe ihn umarmt beim Abschied, erst
da fing er an zu weinen. Der ‚dicke Alte‘ hat ihn zum Weinen gebracht.
Tränen sind wichtig, sie lösen den Schmerz.
Neben den häuslichen Todesfällen haben wir auch viel mit Suiziden zu tun –
unerwarteterweise oft im Frühjahr. Die Depressiven bringen sich im Frühjahr
um. Alles wird schön, alles blüht auf, nur ich nicht! Wir haben im Frühjahr
oft 20 bis 30 Suizide. Es sind übrigens mehr Männer als Frauen, die sich
umbringen. Bei Menschen über 60 sind es 96 Prozent Männer und nur 4 Prozent
Frauen. Die Gründe bei den Männern sind auch andere: Frühverrentung,
Krankheiten, Tod der Frau. Impotenz ist auch ein häufiger Grund. Die Männer
übrigens bevorzugen den sogenannten harten Suizid. Runterspringen, sich zu
Hause erhängen oder im Wald, sich erschießen, mit dem Auto irgendwo gegen
rasen. Ich habe auch schon Fälle erlebt, die hatten eine Schlinge um den
Hals geknüpft und sich zuvor in den Kopf geschossen. Die wollten also eine
doppelte Sicherheit. Frauen hingegen bevorzugen meist den leichten Suizid,
mit Tabletten und Alkohol, in den letzten Jahren kam immer häufiger auch
Selbstmord mithilfe von Kohlenmonoxyd auf. Das heißt, ins Bad einschließen,
alles abkleben und den Einmalgrill anmachen, den es im Supermarkt gibt.
Nach ein paar Atemzügen ist man bewusstlos. Aber auch Suizide mit
Pulsadern-Aufschneiden gibt es bei Frauen. Aber man kann, glaube ich,
sagen, dass, zumindest in der Region Ulm, viele Frauen sehr stabil in ihrem
Glauben stehen, was ja ein gewisser Schutz ist.
## Tod aufden Gleisen
Und was immer wieder vorkommt, ist ‚Person vor Zug‘. Das heißt, dass
Menschen – darunter auch Frauen, meist zwischen 30 und 40 Jahre alt,
während bei den Männern alle Altersgruppen von 18 bis 80 vertreten sind –
sich vor einen Zug stellen. Eine häufige und sichere Todesart. Sie werfen
sich nicht vor den Zug, sie legen sich nicht vor den Zug, das war früher
mal. Heute stellen sie sich mit ausgebreiteten Armen und geschlossenen
Augen auf die Gleise. So erwarten sie den Zug. Das ist furchtbar und
wahnsinnig belastend für den Lokführer, der es ja kommen sieht, aber außer
einer Notbremsung nichts mehr tun kann. Er muss nach einem solchen Erlebnis
betreut werden. Auch die verstörten Fahrgäste. Und natürlich müssen die
Angehörigen des Suizidanten oder der Suizidantin betreut werden, auch sie
sind ja total unter Schock. Sehr schwer ist es für die Kameraden von der
Feuerwehr. Man kann sich in etwa vorstellen, dass ein Mensch, der von einem
ICE mit Tempo 200 erfasst wird, hinterher nur noch aus zerfetzten Teilen
besteht, die auf und neben dem Gleisbett verteilt liegen. Die Strecke wird
dann abgegangen und auch die Anhaftungen am Zug selbst müssen beseitigt
werden. Danach benötigen auch diese Feuerwehrleute dringend Betreuung.
Wir hier in Ulm haben übrigens eine Spezialausbildung für den Umgang mit
traumatisierten Einsatzkräften, hauptsächlich handelt es sich dabei um
Feuerwehrleute und Rettungssanitäter.
Je schlimmer die Gesellschaft – die digitale Gesellschaft – wird, umso
einsamer werden die Menschen. Und umso mehr müssen wir auch mit dem Suizid
rechnen. Den größten Anteil aber haben immer noch psychische Probleme,
Krankheiten, familiäre Probleme. Und auch ökonomische Katastrophen, die die
Leute treffen, spielen eine Rolle. In allen Gesellschaftsschichten. Wir
hatten hier in Ulm einen berühmten Fall. Ich darf darüber reden, denn es
stand in allen Zeitungen: Im Januar 2009 hat sich Adolf Merckle auf die
Schienen gestellt und vom Regionalexpress überfahren lassen. Er war Chef
des großen Generika-Unternehmens Ratiopharm hier in Ulm. Mit einem
geschätzten Vermögen von 9,2 Milliarden Dollar war er der fünftreichste
Mann Deutschlands – bis er sich dann (…) an der Börse verspekulierte hatte.
Bei diesem Todesfall war auch ich involviert. Die Todesnachricht zu
überbringen ist zwar Hoheitsaufgabe der Polizei, aber in Ulm nimmt die
Polizei uns als Begleiter mit. Immer ein bis zwei Notfallhelfer in
Dienstjacke stehen an der Haustür, wenn geklingelt wird.
## Selbstmörder und diechristliche Beerdigung
Im Falle von ‚Person vor Zug‘ ist es manchmal etwas schwierig, man hat
vielleicht Papiere gefunden, vielleicht einen Abschiedsbrief, vielleicht
hat der Suizidant neben dem Gleis etwas abgelegt. Vielleicht hat er gar
nichts hinterlassen. Die Angehörigen stellen uns Fragen, die man so nicht
beantworten kann. Sie möchten wissen: Wie sah er denn aus? Ich sage dann
immer, ich habe ihn nicht mehr gesehen. Manchmal, wenn das Gesicht noch
vorhanden ist, kann der Leichenbestatter einiges machen, um den Angehörigen
einen Abschied zu ermöglichen. Aber meist ist das nicht möglich. Gut ist
jedenfalls, dass die katholische Kirche inzwischen auch Selbstmördern eine
christliche Beerdigung zugesteht, früher hatten sie nach dem
römisch-katholischen Kirchenrecht keinen Anspruch auf ein kirchliches
Begräbnis. Wir werden natürlich auch im Falle von Verkehrsunfällen gerufen,
bei Unfällen mit Toten. Da kümmern wir uns auch um die Angehörigen. Ebenso
werden wir bei Tötungsdelikten gerufen.
Nun zu einer anderen Thematik, zu den sogenannten Flüchtlingen – ich mag
den Begriff eigentlich nicht, die sind keine ‚-linge‘, sondern Individuen,
die Schlimmes durchgemacht haben und vor Not und Krieg zu uns geflohen
sind. Jedenfalls hatte ich 2011 die Idee, muslimische Helfer in unser Team
aufzunehmen, als Notfallbegleiter. Ich hatte die volle Unterstützung aller
Träger. Wir haben schnell elf Leute gefunden, heute sind es 14. Alle
ausgebildete Notfallbegleiter. Und ich habe ‚Geschwister‘ gefunden, denn im
Islam spricht man sich als Bruder und Schwester an. Ich bin integriert, bin
oft in der Moschee, bin auch nach dem Ramadan beim Fastenbrechen
eingeladen. Männer begrüßen mich mit dem Bruderkuss, was eine Ehre für mich
ist.
Im Jahr 2015, als dann der Strom der Leute aus den arabischen Ländern kam,
insbesondere aus Syrien, da fragte mich unser stellvertretender
Feuerwehrkommandant, ob ich nicht in unserem Kreis noch Leute kenne, die
dolmetschen könnten. Wir brauchten vor allem Arabisch, es sprechen ja 28
Länder diese eine Sprache, während es mit den vielen afrikanischen
Dialekten sehr viel schwieriger ist, Dolmetscher zu finden. Ich habe mich
mit meinem ‚Bruder‘ Nihad Smajic von der bosnischen Moschee beraten.
Innerhalb kürzester Zeit hatten wir ein Team von 24 Leuten mit mehreren
Sprachen zusammen, überwiegend aus dem muslimischen Hochschulbund. Das war
die Geburtsstunde des ‚Ulmer Modells‘, etwas, das es in ganz Deutschland so
nicht gab.
Im August bekam ich einen Anruf: Morgen, Donnerstag, kommen eintausend
Flüchtlinge nach Ulm und werden in der Messe einquartiert, könnt ihr
dolmetschen? Um 14 Uhr waren dann 50 freiwillige Dolmetscher in den
Messehallen, darunter eine junge Frau mit Schleier namens Kevser Demir,
eine Studentin. Wir haben ein Dreierteam gebildet, mit Nihac Smajic, Kevser
Demir und mir jeweils als Koordinator. Wir hatten orangefarbene Jacken mit
der Aufschrift ‚Dolmetscher‘an und haben uns zur Begrüßung aufgestellt. A…
die Busse dann kamen und die Menschen ausgestiegen sind, Frauen mit
Kindern, junge Männer, ältere Männer, da haben Soldaten der Bundeswehr
Wasser verteilt. Vor allem viele der Kinder sind sofort vor Schreck in
Schockstarre verfallen, als sie Soldaten in Tarnuniformen gesehen haben.
Sie dachten wohl, es geht jetzt weiter wie zu Hause. Aber die Soldaten
haben gelächelt und geholfen beim Gepäck. Es kamen vor allem Syrer, aber
auch Afghanen, Albaner und Menschen aus dem nördlichen Irak. Wir haben dann
Geschenke und Süßigkeiten übergeben, und da alle in ihrer eigenen Sprache
angesprochen wurden von unseren Dolmetschern, haben sich Furcht und
Misstrauen schnell gelegt. Ohne Stress und Gebrüll wurden die angekommenen
Menschen zu ihren Schlafplätzen geleitet und zur Untersuchung in die
Ärztezelte, die vom Bundeswehrkrankenhaus betrieben wurden.
## Nur ein paar Sachen und ein Rucksack
Wir haben Tag und Nacht mit Dolmetschern zur Verfügung gestanden. Vor allem
die weiblichen Dolmetscher sind unentwegt durch die drei Hallen gegangen,
haben Fragen beantwortet, Fluchtgeschichten angehört. Von Überfällen und
Vergewaltigungen war viel die Rede, von Müttern und Vätern, die ihre
kleinen Kinder oft 20 bis 30 Kilometer getragen haben, oft 10 bis 14
Stunden lang. Nachts haben sie auf dem Boden geschlafen, in Dreck und
Kälte, sie haben sich mit Blättern ein Nest gemacht. Viele waren
Stadtbewohner aus Aleppo, Menschen aus allen Schichten, darunter viele
gebildete Leute, die alle solche Strapazen nicht gewöhnt waren. Die hatten
nichts, gar nichts, ein paar Sachen in einem Rucksack, in einer
Plastiktasche. Jetzt, wo sie etwas zur Ruhe kamen, brachen ihre
Krankheiten, ihre Schmerzen, ihre Trauer aus, und da war es gut, wenn sie
sich in ihrer Sprache austauschen konnten mit unseren Leuten.
Man hat uns aber auch behindert in unserer Arbeit, muss ich sagen, und zwar
vonseiten des Regierungspräsidiums Tübingen. Das Regierungspräsidium
Tübingen deckt ganz Baden-Württemberg in Verwaltungsfragen ab, auch was die
Flüchtlinge angeht. Der Verein Menschlichkeit e. V. Ulm hatte für mehr als
tausend Menschen Kleidung und Schuhe gesammelt. Die Container standen in
einer der Messehallen, aber wir durften die Sachen nicht verteilen. Das
Regierungspräsidium Tübingen hatte es verboten – angeblich, weil die
Ausgabe zu Streit und Missgunst führen würde. Also aus Angst davor, dass
zwei sich um eine Jacke streiten könnten, kriegt lieber keiner von beiden
eine Jacke.
Das haben wir nicht verstanden, zumal die Leute die Sachen brauchten. Ich
habe dort Männer und Frauen gesehen, die hatten unter ihren Schuhen keine
Sohlen mehr. Wir hatten Unmengen von Schuhen in allen Größen, aber wir
durften sie nicht weitergeben. Wir sahen sehr viele muslimische Frauen, die
lange Röcke, lange Kleider, Kopftücher trugen, die Kleidung war auf der
Flucht zerrissen, verschmutzt. Wir haben mit eigenem Geld und einer
Sammlung Kleidung besorgt und – trotz des Verbots – diese Frauen damit
versorgt. Es wurden auch Dinge besorgt, die eine Frau im Alltag braucht, an
die man so gar nicht denkt. Man hatte bei der Ankunft in München vergessen,
Hygienebinden zu beschaffen. Noch am Abend wurden sie in Ulm von uns
besorgt, es mussten Binden sein, Tampons gehen nicht. Die Frauen hatten auf
dem oft langen Fluchtweg, keinerlei Monatsschutz für ihre Periode, haben
sich Blätter von den Bäumen gerissen. Sie waren sehr erleichtert. Da hat
Kevser Demir viel organisiert und bewirkt, sie hat zudem einige Hunderte
Kopftücher beschafft. Gebetsteppiche wurden gespendet. Wir haben – auch
ohne zu fragen – einen Gebetsraum eingerichtet. Der musste aber auf
Anordnung des Regierungspräsidiums Tübingen wieder geschlossen werden, also
übergaben wir die Gebetsteppiche an die Leute, damit sie in ihren
Schlafräumen beten konnten.
Wie sehr wir uns auch bemüht haben, den Menschen das Leben etwas zu
erleichtern, die Bürokratie – insbesondere in Gestalt des
Regierungspräsidiums Tübingen – ist immer wieder dazwischengetreten. Aber
auch Organisationschaos und Schikane machten sich breit. Nach einer Woche
wurden die Menschen weiter transportiert. Den ‚Nachschub‘ hat man dann in
Freilassing, in München und an anderen Orten um 9 Uhr morgens wie Vieh in
einem Gehege aufgestellt, immer 50, so viel, wie in einen Bus reingehen.
Von 9 bis 20 Uhr hat man die Leute so stehen lassen, auch Kinder, auch
Alte, ohne Essen, ohne ausreichend Trinken, obwohl genügend Busse vorhanden
waren – bis zu hundert Busse waren da, wie wir von den Fahrern später
erfuhren – die Leute durften aber nicht einsteigen. Uns wurde gesagt, die
Busse kämen um 15 Uhr, sie kamen aber erst um 22 Uhr. Eine Begründung haben
wir nie erhalten. Und Sie müssen sich vorstellen, es war ein Riesenteam von
70 bis 80 Leuten da, Fachärzte, Rettungsdienst, Krankenschwestern,
Dolmetscher. Man hat hoch bezahlte Ärzte stundenlang warten lassen, die
Ehrenamtlichen, alle! Behördenwillkür hat wahnsinnige Folgen.
Man hat zum Beispiel in München eine Gruppe von 50 Leuten in einen ICE nach
Mannheim gesetzt. Sie sollten nach Ulm, durften aber in Ulm nicht
aussteigen, sie mussten bis Mannheim fahren und wurden von dort aus mit dem
Bus nach Ulm transportiert.
Leider gab es dann einen Eklat mit dem Regierungspräsidium Tübingen, ich
wurde vorgeladen – Details spare ich mal aus –, jedenfalls war das
Ergebnis, dass wir mit unserem Dolmetscherteam aus der Notfallseelsorge
ausgegliedert wurden. Man hat uns rausgeschmissen, hat uns von jetzt auf
gleich das Büro entzogen. Offizielle Begründung war, wir seien zu teuer,
also die kleine Aufwandsentschädigung, die die Ehrenamtlichen erhalten, die
sei zu hoch. Auch dürfe ein Dolmetscher nicht mehr als drei Stunden am Tag
da sein, wurde angeordnet, die Leitung eingeschlossen. Das entsprach in der
Konsequenz einem nicht ausgesprochenen Hausverbot. Vernünftige Begründungen
gab es keine. Stattdessen hat man fünf Hauptamtliche eingestellt, die
dolmetschen und die Hausverwaltung machen sollen – und drei Sozialarbeiter.
Außerdem, so sagte man, seien kaum noch Flüchtlinge da. Was nicht stimmte.
In der Hindenburg-Kaserne hatte man gerade 500 Betten aufgebaut.
## Weihnachtsfeier im Flüchtlingsheim
Unser Team blieb aber trotzdem bestehen, nicht mehr in der Kaserne, aber in
den Krankenhäusern, wo ja auch immer großer Bedarf ist an Übersetzern. Wir
haben einen Spendenaufruf für Frauenkleidung gemacht in den Gemeinden, und
am nächsten Tag waren die Spenden da. Das ist auch Islam! Wir haben
weiterhin neu ankommende muslimische Frauen mit Kleidung ausgestattet sowie
mit kleinen Gebetsteppichen. Verteilt haben wir die Sachen halt vor der
Kaserne.
Was mich gefreut hat, ist die große Unterstützung durch die Ulmer Politik,
des Oberbürgermeisters, der Landtagsabgeordneten. Leider haben die beiden
Kirchen uns nicht mehr unterstützt, sie wollten anscheinend nicht
hineingezogen werden in den Konflikt, sodass wir dann schließlich auch aus
der Notfallseelsorge ausgegliedert worden sind. Und das alles nur deshalb,
weil ich darauf bestanden habe, im Flüchtlingsheim eine Weihnachtsfeier und
Bescherung für die Kinder zu organisieren. Das ist in den meisten
Bundesländern kein Problem, die Heime unter Ulmer Verwaltung hatten dies
auch, Nikolaus und Imam. Selbst bei gläubigen Türken kommt heute ‚Papa
Noël‘, man feiert Weihnachten und Zuckerfest, der Nikolaus kommt sogar in
die Moschee. Das ist ganz selbstverständlich. Das Regierungspräsidium
Tübingen jedoch hielt ein Verbot für angemessen. Das hat alles ins Rollen
gebracht.
Momentan allerdings haben wir das gesamte Dolmetscherteam auf null
zurückgefahren, einfach auch, weil immer weniger Flüchtlinge kamen. Es wird
ja so getan, als wäre das Problem am Abebben oder nicht mehr vorhanden. Wir
sehen aber täglich die Nachrichten und Bilder, wie es aussieht am
Mittelmeer, vor allem mit Flüchtlingen aus den Maghreb-Staaten – die ja als
‚sichere Herkunftsländer‘ deklariert werden sollen. Wie es aussieht in
Griechenland, in Italien, in Calais. Man wird mit aller Gewalt versuchen,
das Problem draußen zu halten.
Aber das wird nicht gelingen auf Dauer. Das kann man nicht machen, mit
bedrohten und traumatisierten Menschen, sie abzuweisen und schutzlos einem
ungewissen Schicksal auszusetzen.“
29 Aug 2016
## AUTOREN
Gabriele Goettle
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