# taz.de -- Der Seelsorger | |
> EHRENAMT Helmut Schön war Bürokaufmann und leitete Personalabteilungen. | |
> Über einen Betriebsseelsorger kam er zur Sozialarbeit. Heute betreut und | |
> hilft er in Ulm geflüchteten Menschen – und stößt auf Hindernisse | |
Bild: Helmut Schön | |
von Gabriele Goettle | |
Helmut Schön, Bürokaufmann Personalwesen, Notfallseelsorger. In | |
Frankfurt/Main geboren und aufgewachsen. Hauptschulabschluss gemacht, mit | |
15 eine dreijährige Bürokaufmannslehre absolviert, mit 20 geheiratet. | |
Gearbeitet u. a. bei Neckermann und in anderen bekannten Unternehmen. 1979 | |
Umzug ins Allgäu, dort Arbeit als Personalchef in einem Laborbetrieb. 1981 | |
Umzug nach Ulm und Arbeit als Personalleiter bei einer Mannesmann-Tochter. | |
Nach sechs Jahren beruflich unzufrieden, deshalb Entscheidung für die | |
Sozialarbeit. Psychologische, sozialpädagogische Zusatzausbildungen und | |
Schulungen gemacht sowie ehrenamtliche Arbeit für den Sozialverband. Arbeit | |
als Notfallhelfer und in der Flüchtlingsarbeit. Nebenher Busführerschein | |
und Reiseleiterdiplom absolviert, zum Gelderwerb in dem Beruf gearbeitet. | |
2002 Erkrankung und Frühverrentung als Schwerbehinderter. Im Juli 2016 | |
wurde er in Ulm für sein soziales Engagement mit dem Dentler-Ring | |
ausgezeichnet. | |
Helmut Schön wurde 1947 als Sohn eines Bahnbeamten geboren, seine Mutter | |
war Stepperin für Schuhe. | |
Herr Schön bewohnt, gemeinsam mit seiner Frau, eine sympathisch | |
eingerichtete Neubauwohnung in Ulm-Wiblingen. Bücher, Bilder und das | |
Mobiliar, alles wirkt unaufdringlich und strahlt Harmonie aus. Frau Schön | |
bringt uns Tee und zieht sich dann diskret ins Nebenzimmer zurück. Herr | |
Schön ist ein gutes Beispiel dafür, wie sich ehrenamtliche Helfer | |
hingebungsvoll all jenen Aufgaben widmen, die eigentlich zu den sozialen | |
Pflichten eines Staates gehörten. Dass es vielerorts noch sozial und | |
menschlich zugeht, verdankt sich fast ausschließlich bürgerlichem | |
Engagement. Ich frage Herrn Schön, wie er eigentlich auf die Idee kam, | |
Notfallhelfer zu werden. Er blickt mich direkt an, schweigt einen Moment | |
und sagt dann: | |
„Da muss ich ein bisschen zurückgehen. Während meiner Zeit als | |
Personalleiter habe ich den damaligen Betriebsseelsorger Werner Baur | |
kennen. Mein erster Gedanke war: Was will denn der Pfaffe im Betrieb? Es | |
reicht doch, dass wir unsere Gewerkschaft haben! Im Laufe der Zeit lernte | |
ich ihn aber sehr zu schätzen, besonders in seiner unbestechlichen Art, das | |
Richtige zu tun. Er hat sich viel mit Arbeitslosen beschäftigt, hat auch | |
Fernfahrer-Seelsorge gemacht. Jedenfalls hat er mich dazu motiviert, die | |
Personalleitung aufzugeben und in die Sozialarbeit zu gehen. Einerseits | |
habe ich mich anfangs als einziger Protestant innerhalb der katholischen | |
Kirche in Ulm, im Verein Körperbehinderte und ihre Freunde, um Behinderte | |
gekümmert. Zugleich habe ich mit Baur zusammen eine Ausbildung zum | |
Suchttherapeuten gemacht. In den Großbetrieben wurden Mitarbeiter zu | |
freiwilligen Helfern ausgebildet. Vor allem, was Alkoholprobleme in | |
Betrieben betrifft, aber auch bei der Polizei, denn berufsgruppenmäßig ist | |
die Polizei unter den ersten zehn Plätzen zu finden, zusammen mit Lehrern | |
und katholischen Pfarrern. In diesem Zusammenhang habe ich dann fast | |
durchgehend gearbeitet. | |
## Der Ehemannliegt tot im Bett | |
Der besagte Werner Baur – mit dem ich inzwischen 35 Jahre lang befreundet | |
bin, er ist jetzt 75 – hat 1999 in Ulm die Notfallhilfe gegründet. Das war | |
überfällig geworden, weil man bei großen Schadenslagen wie dem ICE-Unfall | |
von Enschede 1998 gesehen hat, was passiert, wenn man keine | |
Notfallseelsorge hat. Viele von den jungen Rettungskräften, Sanitätern usw. | |
haben sich in den Folgejahren suizidiert. Das wurde nie veröffentlicht. | |
Die Notfallhilfe entwickelte sich gut. Zunächst waren es nur kirchliche | |
Leute, Pfarrer, Diakone. In der Anfangsphase gab’s keine Ausbildung, dann | |
kamen auch Freie hinzu – und eine dreijährige Ausbildung. Ich habe die 2006 | |
gemacht, da war die Notfallhilfe schon etabliert, damals waren es 24 | |
Mitarbeiter, heute sind es 43. Alle ehrenamtlich. Anfangs ist man mit | |
erfahrenen Notfallhelfern mitgegangen. Da ich der einzige Rentner im | |
Notfallteam war, kam ich schnell zu vielen Einsätzen, denn ich hatte ja | |
Zeit. Ich habe nebenher noch Zusatzausbildungen gemacht, als leitender | |
Notfallseelsorger und als Leiter der psychosozialen Notfallversorgung. | |
In den Medien werden immer die großen, dramatischen Fälle dargestellt, aber | |
in unserem Alltag als Notfallhelfer haben wir es meist mit eher | |
unspektakulären Fällen zu tun. Normale häusliche Einsätze: Der Ehemann | |
liegt morgens mit 86 tot im Bett, die Ehefrau ist unter Schock und allein. | |
Da werden wir dann gerufen. Über die Feuerwehrleitstelle. So ähnlich sind | |
mehr als 70 Prozent der Einsätze. | |
Mein erster Einsatz war allerdings ein bisschen anders – da war ich erst | |
zwei Tage Mitarbeiter. Während einer Dienstbesprechung kam der Alarm, es | |
ging um eine Betreuung nach Kindstötung. Eine 17-jährige türkischstämmige | |
Frau hatte ihr Neugeborenes acht Stunden nach der Geburt erdrosselt. Die | |
Frau wurde verhaftet, und wir haben die Familie betreut. Wir haben an der | |
Wohnungstür die Schuhe ausgezogen, das ist so der Brauch. Wir haben ihn | |
respektiert, während zuvor die ganze Zeit Polizei und Kripo mit Schuhen | |
durch die Wohnung gegangen sind. Hatten sie Angst, in Socken lächerlich zu | |
wirken? | |
Die Familie jedenfalls hatte nichts dazu gesagt. Sie sind gläubige Muslime, | |
sehr liebevolle Menschen. Die Familie hatte keinen Druck ausgeübt auf die | |
Tochter. Es ist eine moderne Familie, die Frauen tragen kein Kopftuch, | |
trotzdem war das passiert. Wir haben uns dann mit allen hingesetzt und | |
vorsichtig über das Problem gesprochen. Da werden alle einbezogen, in dem | |
Fall auch die Geschwister und die Großeltern. Die vor allem! | |
Es kommt nicht selten vor, dass wir bei muslimischen Familien gemeinsam mit | |
dem Imam die Familien betreuen. Im Islam gibt es das Wort Seelsorge nicht, | |
der Imam kümmert sich um die Familie. Er gibt ihr Halt, zusammen mit den | |
herbeigeeilten Verwandten. Falls welche kommen, denn auch hier nähern sich | |
Türkischstämmige unserem Kleinfamilienmodell an und damit der Vereinsamung. | |
Ich habe festgestellt, dass wir im Jahr so 20 bis 30 Einsätze bei | |
muslimischen Familien haben, etwa zehn Prozent. Da lernt man die Familien | |
und die Verhaltensweisen kennen. | |
Auch was den Umgang mit dem Tod betrifft: Im Islam ist der Totenkult anders | |
als bei uns Christen. Ein totes Kind ist beim Urvater Abraham und wacht | |
über seine Eltern. Der tote Mensch ist sofort bei Gott. Normalerweise soll | |
nicht viel Zeit verstreichen bis zur Beerdigung. Wir haben eine große | |
Moschee in Ulm, die auch ein eigenes Bestattungsinstitut hat. Da können die | |
rituellen Waschungen und Salbungen vorgenommen werden. Danach gibt es ein | |
Totengebet, und dann wird bestattet. Wir haben hier in Ulm ja einen eigenen | |
muslimischen Friedhof und bei uns in Baden-Württemberg – das ist wichtig – | |
dürfen Muslime, ihrer Tradition entsprechend, lediglich in ein schlichtes | |
weißes Tuch gewickelt und ausgerichtet nach Mekka bestattet werden. | |
Anderswo sind noch der Sarg und Liegeordnung vorgeschrieben. | |
Ich kann kurz erzählen, wie das normale Procedere bei der Notfallseelsorge | |
ist. Wenn sie die Todesnachricht erhalten haben, bleiben wir erst mal bei | |
den Angehörigen, manchmal sechs bis acht Stunden, je nachdem, wie es die | |
Situation erfordert. In erster Linie sind wir da. Einfach nur da. | |
## Der gute Opa mit den weißen Haaren | |
So unterschiedlich, wie die Menschen nun mal sind, so unterschiedlich | |
reagieren sie auch. Am typischsten ist es, dass sie höflich sind. Die | |
zweite Reaktion ist, dass sie weinen, eine dritte, dass sie zur Salzsäule | |
erstarren. Also es gibt in der Anfangsphase, unmittelbar nach dem Ereignis, | |
keinen Bedarf an Trost. Die Leute trauern da noch nicht. In dieser Phase | |
gibt es nur Stumpfheit oder unerträgliche Schmerzen. Dann kommen Wut, | |
Trauer und Verzweiflung auf, und ab da können wir mit der Trauerarbeit | |
beginnen. Ich habe den Vorteil, rein optisch, als ‚dicker, alter Mann‘ | |
wahrgenommen zu werden, Typ ‚guter Opa mit weißen Haaren‘. Das wirkt | |
vertrauensbildend. Diesen Vorteil nutze ich natürlich aus. Es funktioniert | |
auch gegenüber Männern. Es gab einen 86-jährigen Landwirt, dessen Sohn im | |
Alter von 60 Jahren umgekommen ist. Ich habe ihn umarmt beim Abschied, erst | |
da fing er an zu weinen. Der ‚dicke Alte‘ hat ihn zum Weinen gebracht. | |
Tränen sind wichtig, sie lösen den Schmerz. | |
Neben den häuslichen Todesfällen haben wir auch viel mit Suiziden zu tun – | |
unerwarteterweise oft im Frühjahr. Die Depressiven bringen sich im Frühjahr | |
um. Alles wird schön, alles blüht auf, nur ich nicht! Wir haben im Frühjahr | |
oft 20 bis 30 Suizide. Es sind übrigens mehr Männer als Frauen, die sich | |
umbringen. Bei Menschen über 60 sind es 96 Prozent Männer und nur 4 Prozent | |
Frauen. Die Gründe bei den Männern sind auch andere: Frühverrentung, | |
Krankheiten, Tod der Frau. Impotenz ist auch ein häufiger Grund. Die Männer | |
übrigens bevorzugen den sogenannten harten Suizid. Runterspringen, sich zu | |
Hause erhängen oder im Wald, sich erschießen, mit dem Auto irgendwo gegen | |
rasen. Ich habe auch schon Fälle erlebt, die hatten eine Schlinge um den | |
Hals geknüpft und sich zuvor in den Kopf geschossen. Die wollten also eine | |
doppelte Sicherheit. Frauen hingegen bevorzugen meist den leichten Suizid, | |
mit Tabletten und Alkohol, in den letzten Jahren kam immer häufiger auch | |
Selbstmord mithilfe von Kohlenmonoxyd auf. Das heißt, ins Bad einschließen, | |
alles abkleben und den Einmalgrill anmachen, den es im Supermarkt gibt. | |
Nach ein paar Atemzügen ist man bewusstlos. Aber auch Suizide mit | |
Pulsadern-Aufschneiden gibt es bei Frauen. Aber man kann, glaube ich, | |
sagen, dass, zumindest in der Region Ulm, viele Frauen sehr stabil in ihrem | |
Glauben stehen, was ja ein gewisser Schutz ist. | |
## Tod aufden Gleisen | |
Und was immer wieder vorkommt, ist ‚Person vor Zug‘. Das heißt, dass | |
Menschen – darunter auch Frauen, meist zwischen 30 und 40 Jahre alt, | |
während bei den Männern alle Altersgruppen von 18 bis 80 vertreten sind – | |
sich vor einen Zug stellen. Eine häufige und sichere Todesart. Sie werfen | |
sich nicht vor den Zug, sie legen sich nicht vor den Zug, das war früher | |
mal. Heute stellen sie sich mit ausgebreiteten Armen und geschlossenen | |
Augen auf die Gleise. So erwarten sie den Zug. Das ist furchtbar und | |
wahnsinnig belastend für den Lokführer, der es ja kommen sieht, aber außer | |
einer Notbremsung nichts mehr tun kann. Er muss nach einem solchen Erlebnis | |
betreut werden. Auch die verstörten Fahrgäste. Und natürlich müssen die | |
Angehörigen des Suizidanten oder der Suizidantin betreut werden, auch sie | |
sind ja total unter Schock. Sehr schwer ist es für die Kameraden von der | |
Feuerwehr. Man kann sich in etwa vorstellen, dass ein Mensch, der von einem | |
ICE mit Tempo 200 erfasst wird, hinterher nur noch aus zerfetzten Teilen | |
besteht, die auf und neben dem Gleisbett verteilt liegen. Die Strecke wird | |
dann abgegangen und auch die Anhaftungen am Zug selbst müssen beseitigt | |
werden. Danach benötigen auch diese Feuerwehrleute dringend Betreuung. | |
Wir hier in Ulm haben übrigens eine Spezialausbildung für den Umgang mit | |
traumatisierten Einsatzkräften, hauptsächlich handelt es sich dabei um | |
Feuerwehrleute und Rettungssanitäter. | |
Je schlimmer die Gesellschaft – die digitale Gesellschaft – wird, umso | |
einsamer werden die Menschen. Und umso mehr müssen wir auch mit dem Suizid | |
rechnen. Den größten Anteil aber haben immer noch psychische Probleme, | |
Krankheiten, familiäre Probleme. Und auch ökonomische Katastrophen, die die | |
Leute treffen, spielen eine Rolle. In allen Gesellschaftsschichten. Wir | |
hatten hier in Ulm einen berühmten Fall. Ich darf darüber reden, denn es | |
stand in allen Zeitungen: Im Januar 2009 hat sich Adolf Merckle auf die | |
Schienen gestellt und vom Regionalexpress überfahren lassen. Er war Chef | |
des großen Generika-Unternehmens Ratiopharm hier in Ulm. Mit einem | |
geschätzten Vermögen von 9,2 Milliarden Dollar war er der fünftreichste | |
Mann Deutschlands – bis er sich dann (…) an der Börse verspekulierte hatte. | |
Bei diesem Todesfall war auch ich involviert. Die Todesnachricht zu | |
überbringen ist zwar Hoheitsaufgabe der Polizei, aber in Ulm nimmt die | |
Polizei uns als Begleiter mit. Immer ein bis zwei Notfallhelfer in | |
Dienstjacke stehen an der Haustür, wenn geklingelt wird. | |
## Selbstmörder und diechristliche Beerdigung | |
Im Falle von ‚Person vor Zug‘ ist es manchmal etwas schwierig, man hat | |
vielleicht Papiere gefunden, vielleicht einen Abschiedsbrief, vielleicht | |
hat der Suizidant neben dem Gleis etwas abgelegt. Vielleicht hat er gar | |
nichts hinterlassen. Die Angehörigen stellen uns Fragen, die man so nicht | |
beantworten kann. Sie möchten wissen: Wie sah er denn aus? Ich sage dann | |
immer, ich habe ihn nicht mehr gesehen. Manchmal, wenn das Gesicht noch | |
vorhanden ist, kann der Leichenbestatter einiges machen, um den Angehörigen | |
einen Abschied zu ermöglichen. Aber meist ist das nicht möglich. Gut ist | |
jedenfalls, dass die katholische Kirche inzwischen auch Selbstmördern eine | |
christliche Beerdigung zugesteht, früher hatten sie nach dem | |
römisch-katholischen Kirchenrecht keinen Anspruch auf ein kirchliches | |
Begräbnis. Wir werden natürlich auch im Falle von Verkehrsunfällen gerufen, | |
bei Unfällen mit Toten. Da kümmern wir uns auch um die Angehörigen. Ebenso | |
werden wir bei Tötungsdelikten gerufen. | |
Nun zu einer anderen Thematik, zu den sogenannten Flüchtlingen – ich mag | |
den Begriff eigentlich nicht, die sind keine ‚-linge‘, sondern Individuen, | |
die Schlimmes durchgemacht haben und vor Not und Krieg zu uns geflohen | |
sind. Jedenfalls hatte ich 2011 die Idee, muslimische Helfer in unser Team | |
aufzunehmen, als Notfallbegleiter. Ich hatte die volle Unterstützung aller | |
Träger. Wir haben schnell elf Leute gefunden, heute sind es 14. Alle | |
ausgebildete Notfallbegleiter. Und ich habe ‚Geschwister‘ gefunden, denn im | |
Islam spricht man sich als Bruder und Schwester an. Ich bin integriert, bin | |
oft in der Moschee, bin auch nach dem Ramadan beim Fastenbrechen | |
eingeladen. Männer begrüßen mich mit dem Bruderkuss, was eine Ehre für mich | |
ist. | |
Im Jahr 2015, als dann der Strom der Leute aus den arabischen Ländern kam, | |
insbesondere aus Syrien, da fragte mich unser stellvertretender | |
Feuerwehrkommandant, ob ich nicht in unserem Kreis noch Leute kenne, die | |
dolmetschen könnten. Wir brauchten vor allem Arabisch, es sprechen ja 28 | |
Länder diese eine Sprache, während es mit den vielen afrikanischen | |
Dialekten sehr viel schwieriger ist, Dolmetscher zu finden. Ich habe mich | |
mit meinem ‚Bruder‘ Nihad Smajic von der bosnischen Moschee beraten. | |
Innerhalb kürzester Zeit hatten wir ein Team von 24 Leuten mit mehreren | |
Sprachen zusammen, überwiegend aus dem muslimischen Hochschulbund. Das war | |
die Geburtsstunde des ‚Ulmer Modells‘, etwas, das es in ganz Deutschland so | |
nicht gab. | |
Im August bekam ich einen Anruf: Morgen, Donnerstag, kommen eintausend | |
Flüchtlinge nach Ulm und werden in der Messe einquartiert, könnt ihr | |
dolmetschen? Um 14 Uhr waren dann 50 freiwillige Dolmetscher in den | |
Messehallen, darunter eine junge Frau mit Schleier namens Kevser Demir, | |
eine Studentin. Wir haben ein Dreierteam gebildet, mit Nihac Smajic, Kevser | |
Demir und mir jeweils als Koordinator. Wir hatten orangefarbene Jacken mit | |
der Aufschrift ‚Dolmetscher‘an und haben uns zur Begrüßung aufgestellt. A… | |
die Busse dann kamen und die Menschen ausgestiegen sind, Frauen mit | |
Kindern, junge Männer, ältere Männer, da haben Soldaten der Bundeswehr | |
Wasser verteilt. Vor allem viele der Kinder sind sofort vor Schreck in | |
Schockstarre verfallen, als sie Soldaten in Tarnuniformen gesehen haben. | |
Sie dachten wohl, es geht jetzt weiter wie zu Hause. Aber die Soldaten | |
haben gelächelt und geholfen beim Gepäck. Es kamen vor allem Syrer, aber | |
auch Afghanen, Albaner und Menschen aus dem nördlichen Irak. Wir haben dann | |
Geschenke und Süßigkeiten übergeben, und da alle in ihrer eigenen Sprache | |
angesprochen wurden von unseren Dolmetschern, haben sich Furcht und | |
Misstrauen schnell gelegt. Ohne Stress und Gebrüll wurden die angekommenen | |
Menschen zu ihren Schlafplätzen geleitet und zur Untersuchung in die | |
Ärztezelte, die vom Bundeswehrkrankenhaus betrieben wurden. | |
## Nur ein paar Sachen und ein Rucksack | |
Wir haben Tag und Nacht mit Dolmetschern zur Verfügung gestanden. Vor allem | |
die weiblichen Dolmetscher sind unentwegt durch die drei Hallen gegangen, | |
haben Fragen beantwortet, Fluchtgeschichten angehört. Von Überfällen und | |
Vergewaltigungen war viel die Rede, von Müttern und Vätern, die ihre | |
kleinen Kinder oft 20 bis 30 Kilometer getragen haben, oft 10 bis 14 | |
Stunden lang. Nachts haben sie auf dem Boden geschlafen, in Dreck und | |
Kälte, sie haben sich mit Blättern ein Nest gemacht. Viele waren | |
Stadtbewohner aus Aleppo, Menschen aus allen Schichten, darunter viele | |
gebildete Leute, die alle solche Strapazen nicht gewöhnt waren. Die hatten | |
nichts, gar nichts, ein paar Sachen in einem Rucksack, in einer | |
Plastiktasche. Jetzt, wo sie etwas zur Ruhe kamen, brachen ihre | |
Krankheiten, ihre Schmerzen, ihre Trauer aus, und da war es gut, wenn sie | |
sich in ihrer Sprache austauschen konnten mit unseren Leuten. | |
Man hat uns aber auch behindert in unserer Arbeit, muss ich sagen, und zwar | |
vonseiten des Regierungspräsidiums Tübingen. Das Regierungspräsidium | |
Tübingen deckt ganz Baden-Württemberg in Verwaltungsfragen ab, auch was die | |
Flüchtlinge angeht. Der Verein Menschlichkeit e. V. Ulm hatte für mehr als | |
tausend Menschen Kleidung und Schuhe gesammelt. Die Container standen in | |
einer der Messehallen, aber wir durften die Sachen nicht verteilen. Das | |
Regierungspräsidium Tübingen hatte es verboten – angeblich, weil die | |
Ausgabe zu Streit und Missgunst führen würde. Also aus Angst davor, dass | |
zwei sich um eine Jacke streiten könnten, kriegt lieber keiner von beiden | |
eine Jacke. | |
Das haben wir nicht verstanden, zumal die Leute die Sachen brauchten. Ich | |
habe dort Männer und Frauen gesehen, die hatten unter ihren Schuhen keine | |
Sohlen mehr. Wir hatten Unmengen von Schuhen in allen Größen, aber wir | |
durften sie nicht weitergeben. Wir sahen sehr viele muslimische Frauen, die | |
lange Röcke, lange Kleider, Kopftücher trugen, die Kleidung war auf der | |
Flucht zerrissen, verschmutzt. Wir haben mit eigenem Geld und einer | |
Sammlung Kleidung besorgt und – trotz des Verbots – diese Frauen damit | |
versorgt. Es wurden auch Dinge besorgt, die eine Frau im Alltag braucht, an | |
die man so gar nicht denkt. Man hatte bei der Ankunft in München vergessen, | |
Hygienebinden zu beschaffen. Noch am Abend wurden sie in Ulm von uns | |
besorgt, es mussten Binden sein, Tampons gehen nicht. Die Frauen hatten auf | |
dem oft langen Fluchtweg, keinerlei Monatsschutz für ihre Periode, haben | |
sich Blätter von den Bäumen gerissen. Sie waren sehr erleichtert. Da hat | |
Kevser Demir viel organisiert und bewirkt, sie hat zudem einige Hunderte | |
Kopftücher beschafft. Gebetsteppiche wurden gespendet. Wir haben – auch | |
ohne zu fragen – einen Gebetsraum eingerichtet. Der musste aber auf | |
Anordnung des Regierungspräsidiums Tübingen wieder geschlossen werden, also | |
übergaben wir die Gebetsteppiche an die Leute, damit sie in ihren | |
Schlafräumen beten konnten. | |
Wie sehr wir uns auch bemüht haben, den Menschen das Leben etwas zu | |
erleichtern, die Bürokratie – insbesondere in Gestalt des | |
Regierungspräsidiums Tübingen – ist immer wieder dazwischengetreten. Aber | |
auch Organisationschaos und Schikane machten sich breit. Nach einer Woche | |
wurden die Menschen weiter transportiert. Den ‚Nachschub‘ hat man dann in | |
Freilassing, in München und an anderen Orten um 9 Uhr morgens wie Vieh in | |
einem Gehege aufgestellt, immer 50, so viel, wie in einen Bus reingehen. | |
Von 9 bis 20 Uhr hat man die Leute so stehen lassen, auch Kinder, auch | |
Alte, ohne Essen, ohne ausreichend Trinken, obwohl genügend Busse vorhanden | |
waren – bis zu hundert Busse waren da, wie wir von den Fahrern später | |
erfuhren – die Leute durften aber nicht einsteigen. Uns wurde gesagt, die | |
Busse kämen um 15 Uhr, sie kamen aber erst um 22 Uhr. Eine Begründung haben | |
wir nie erhalten. Und Sie müssen sich vorstellen, es war ein Riesenteam von | |
70 bis 80 Leuten da, Fachärzte, Rettungsdienst, Krankenschwestern, | |
Dolmetscher. Man hat hoch bezahlte Ärzte stundenlang warten lassen, die | |
Ehrenamtlichen, alle! Behördenwillkür hat wahnsinnige Folgen. | |
Man hat zum Beispiel in München eine Gruppe von 50 Leuten in einen ICE nach | |
Mannheim gesetzt. Sie sollten nach Ulm, durften aber in Ulm nicht | |
aussteigen, sie mussten bis Mannheim fahren und wurden von dort aus mit dem | |
Bus nach Ulm transportiert. | |
Leider gab es dann einen Eklat mit dem Regierungspräsidium Tübingen, ich | |
wurde vorgeladen – Details spare ich mal aus –, jedenfalls war das | |
Ergebnis, dass wir mit unserem Dolmetscherteam aus der Notfallseelsorge | |
ausgegliedert wurden. Man hat uns rausgeschmissen, hat uns von jetzt auf | |
gleich das Büro entzogen. Offizielle Begründung war, wir seien zu teuer, | |
also die kleine Aufwandsentschädigung, die die Ehrenamtlichen erhalten, die | |
sei zu hoch. Auch dürfe ein Dolmetscher nicht mehr als drei Stunden am Tag | |
da sein, wurde angeordnet, die Leitung eingeschlossen. Das entsprach in der | |
Konsequenz einem nicht ausgesprochenen Hausverbot. Vernünftige Begründungen | |
gab es keine. Stattdessen hat man fünf Hauptamtliche eingestellt, die | |
dolmetschen und die Hausverwaltung machen sollen – und drei Sozialarbeiter. | |
Außerdem, so sagte man, seien kaum noch Flüchtlinge da. Was nicht stimmte. | |
In der Hindenburg-Kaserne hatte man gerade 500 Betten aufgebaut. | |
## Weihnachtsfeier im Flüchtlingsheim | |
Unser Team blieb aber trotzdem bestehen, nicht mehr in der Kaserne, aber in | |
den Krankenhäusern, wo ja auch immer großer Bedarf ist an Übersetzern. Wir | |
haben einen Spendenaufruf für Frauenkleidung gemacht in den Gemeinden, und | |
am nächsten Tag waren die Spenden da. Das ist auch Islam! Wir haben | |
weiterhin neu ankommende muslimische Frauen mit Kleidung ausgestattet sowie | |
mit kleinen Gebetsteppichen. Verteilt haben wir die Sachen halt vor der | |
Kaserne. | |
Was mich gefreut hat, ist die große Unterstützung durch die Ulmer Politik, | |
des Oberbürgermeisters, der Landtagsabgeordneten. Leider haben die beiden | |
Kirchen uns nicht mehr unterstützt, sie wollten anscheinend nicht | |
hineingezogen werden in den Konflikt, sodass wir dann schließlich auch aus | |
der Notfallseelsorge ausgegliedert worden sind. Und das alles nur deshalb, | |
weil ich darauf bestanden habe, im Flüchtlingsheim eine Weihnachtsfeier und | |
Bescherung für die Kinder zu organisieren. Das ist in den meisten | |
Bundesländern kein Problem, die Heime unter Ulmer Verwaltung hatten dies | |
auch, Nikolaus und Imam. Selbst bei gläubigen Türken kommt heute ‚Papa | |
Noël‘, man feiert Weihnachten und Zuckerfest, der Nikolaus kommt sogar in | |
die Moschee. Das ist ganz selbstverständlich. Das Regierungspräsidium | |
Tübingen jedoch hielt ein Verbot für angemessen. Das hat alles ins Rollen | |
gebracht. | |
Momentan allerdings haben wir das gesamte Dolmetscherteam auf null | |
zurückgefahren, einfach auch, weil immer weniger Flüchtlinge kamen. Es wird | |
ja so getan, als wäre das Problem am Abebben oder nicht mehr vorhanden. Wir | |
sehen aber täglich die Nachrichten und Bilder, wie es aussieht am | |
Mittelmeer, vor allem mit Flüchtlingen aus den Maghreb-Staaten – die ja als | |
‚sichere Herkunftsländer‘ deklariert werden sollen. Wie es aussieht in | |
Griechenland, in Italien, in Calais. Man wird mit aller Gewalt versuchen, | |
das Problem draußen zu halten. | |
Aber das wird nicht gelingen auf Dauer. Das kann man nicht machen, mit | |
bedrohten und traumatisierten Menschen, sie abzuweisen und schutzlos einem | |
ungewissen Schicksal auszusetzen.“ | |
29 Aug 2016 | |
## AUTOREN | |
Gabriele Goettle | |
## ARTIKEL ZUM THEMA |