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# taz.de -- Salz Feli ist das erste Mal am Strand. Inge weiß nicht, ob es das …
Bild: Sommersandwellestrand
von Carolin Pirich
Inge läuft. Nach dem Frühstück geht sie raus, spazieren. Setzt einen Fuß
vor den anderen, die Hände hinterm Rücken, so hält sie leichter das
Gegengewicht zu ihrem Buckel, den sie Buckel nennt, obwohl ihr die junge
Ärztin einen anderen Namen auf einen Zettel geschrieben hat, der weniger
nach alter Frau klingt. Eine Zeit lang hat Inge den Zettel in ihrer
Handtasche aufbewahrt, sodass sie ihn, wenn sie daran dachte,
auseinanderfalten und sich den Namen für ihren Buckel einprägen konnte,
aber irgendwann war der Zettel und auch die Tasche weg. Letztlich hatte sie
sowieso keiner darauf angesprochen, seitdem sie hier lebt, und spazieren
geht sie am liebsten allein.
Der Sand drückt sich durch die Zehen. Sie geht in die Knie, greift mit den
Händen hinein. Sandvoll. Sie presst die Finger zueinander, als würde sie
versuchen, Fäuste zu ballen. Der Sand quillt zwischen den Fingern durch und
plumpst in Klümpchen zum Boden, wo sie wieder aufbröseln. Eine Welle leckt
am Knöchel. Sie dreht sich um, will die Welle fassen, da hat sich das
Wasser schon wieder zurückgezogen. Der Sand ist mit einem Mal so glatt.
Ganz neu. Sie patscht drauf. Der Abdruck ihrer Hand verschwindet wieder im
Boden. Sie ist eineinhalb und das erste Mal am Meer.
An diesem Vormittag scheint die Sonne, aber selbst wenn es geregnet hätte,
wäre Inge hinausgegangen. Die ersten Male hatte sie noch gewartet, dass die
Schwester kommt und ihr den Kleiderschrank aufschließt. Aber das
Mittagessen ging vorbei, der Nachmittagskaffee, das Abendbrot, und die
Schwester war noch immer nicht gekommen. Dann geht Inge eben ohne Jacke
hinaus. Mal im Seidenunterhemd, das heute junge Frauen als
Spaghettiträgerchen bezeichnen. Mal im weißen T-Shirt. Mal mit Rock, mal
mit Hose, je nachdem, was sie am Vorabend herausgelegt hat, falls die
Schwester wieder nicht kommt. Inge sagt niemandem, wie alt sie ist,
jenseits der 65 wird es wohl schon sein, nicht, sonst würde sie ja wohl
arbeiten, oder nicht?! Sie lacht, und ihr Kopf wippt.
Als die nächste Welle kommt, und es sind sanfte Wellen, verliert sie das
Gleichgewicht. Sie fällt nach hinten, der Po wird nass. Sie stößt einen
überraschten Schrei aus, Tränen oder keine Tränen? Schaut nach oben, die
Mutter daneben lächelt, alles okay. Dann also Beine ausstrecken. Der Sand
ist Samt, wenn er so nass ist. Eine nächste sanfte Welle spült an die Haut.
Umspült die Finger, die wieder in den glatten Grund greifen. Spült die
Sandkörner vom Handrücken. Sie will sich den Boden ansehen, ganz nah, das
ist Wasser, Wasser über dem Sand. Wasser. Durst. Die Hände der Mutter
fassen ihre Rippen, der Mund der Mutter am Ohr, nein, nicht trinken, kann
man nicht trinken, das ist Salzwasser, ich hol dir deine Flasche.
Salz-Wasser?
Inge kann sich daran erinnern, wie es ist am Meer. Eines der ersten Male
war der Strand bei Danzig, die Sonne hatte sich schon gesenkt und vertiefte
die Farben der Strandkörbe, der Badekleidung, der Frauenhaare. Sie stand
etwas abseits, ein Mädchen mit dünnen Armen und Beinen. Die Möwen
kreischten über dem Wasser. Sie sah sich die Menschen an, die um diese Zeit
im Sommer nicht im Schuhladen Leder nähten wie ihr Vater, nicht am Herd
standen wie ihre Mutter, um für ihre sieben Geschwister Suppe zu kochen.
Inge sollte wieder umkehren, nach Hause, der Mutter helfen, waschen,
Geschwister ins Bett bringen, Küche fegen. Das Schönste war das Abendgebet,
dann war es still. Manchmal konnte sie den Nachbarn hören, wenn er beim
Klavierspielen das Fenster offenließ. Diesmal blieb sie noch am Strand, die
Füße im Pudersand. Sie ging ins Wasser. Bis zu den Waden, den Knien, sie
hob den Rock, so hoch sie durfte, bis das Wasser an die Oberschenkel
schwappte. Vielleicht war sie elf Jahre alt, jedenfalls war es Sommer und
so still, den Krieg hörte man noch nicht.
Will nicht. Nein! Will nicht! Die Mutter hat sie auf die Beine gestellt,
nicht trinken! Sie reicht ihr die Flasche mit dem Süß-Wasser, zeigt auf die
Möwe, schau mal. Gelber Schnabel, spitz. Winzige Augen. Die Mutter wischt
ihr mit einem Handtuch das Gesicht trocken, dann die Beine, streicht den
Sand von den Wangen. Stellt sie abseits vom Wasser wieder auf den Sand. Der
ist jetzt warm und pudrig. Er klebt nicht zusammen, sondern rieselt durch
die Finger, wenn sie ihn fassen will.
Inge setzt sich auf eine Bank am Spielplatz, Blick aufs Wasser. Funkelt in
der Sonne. Ein bisschen rasten, nicht, sie hat ja seit dem Frühstück schon
einige Schritte getan. An den Ohren baumeln silberne Hänger mit je einer
Blume aus schwarzen Steinen. Auch auf dem Dekolleté liegt eine schwarze
Blume, passend zum Ohrschmuck. Den Schmuck legt Inge nur zum Schlafen ab,
in einen Samtbeutel, den sie zwischen Matratze und Bettgestell schiebt.
Wenn man vor den anderen Zimmern so ein bisschen stehen bleibt, nicht, da
hört man ja schon mal, dass was wegkommt. Vor einiger Zeit war die Enkelin
zu Besuch, Oma, kann ich mit dem Wie-heißt-der-noch bei dir schlafen? Ja,
klar kannste, wir legen eine Matratze auf den Boden, kein Problem,
Wie-heißt-der-noch ist nett, ruhig; sie hört ja auch nicht mehr so gut.
Aber sie hat schon mal mitbekommen, dass einer in ein anderes Heim
geschickt worden ist, weil Besuch einfach da blieb über Nacht, wo kommen
wir denn da hin; sie findet schon noch raus, in welchem Heim er jetzt ist,
und den Weg, den findet sie auch.
An der Stelle, an der die Welle an den Strand leckt, gelingen die Haufen
leicht. Und wenn das Wasser kommt und den Haufen unterspült, klatscht sie
mit der flachen Hand darauf. Plitsch. Der Haufen wabbelt, er fühlt sich an
wie der Schenkel der Mutter, wenn sie auf ihrem Schoß sitzt und darauf
patscht. Sie sieht auf. Überall Sand, noch mehr Sand, noch mehr Wasser, so
viel Weite, und direkt neben ihr hockt das andere Kind mit der Schaufel,
und es schaufelt ein tiefes Loch, in das Wasser rinnt.
Inges Haare sind rot, nicht feuerrot, eher wie eine Beere. Sie bindet die
Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen, der auf ihren runden Rücken fällt.
Manchmal, wenn sie in der Kneipe unten tanzte, abends, nach der Schicht,
löste sie den Pferdeschwanz, damit ihr das Haar um die Schultern fiel, und
die Chefin hat gesagt, Inge, du bringst Kundschaft in den Laden. Ihre
Arbeit war beim Werk für Sicherheitstechnik, löten, schrauben. Die Finger
waren geschickt, sie sind es immer noch, lang und zierlich, mit diesen
Fingern könnte man auch gut Klavierspielen, nicht?
Schau mal, die Hand der Mutter hält ein Stück Apfel, komm, aufwärmen, das
Handtuch riecht nach zu Hause. Die Kapuze aufgezogen, auf dem Schoß der
Mutter, der Apfel schmeckt sauer und süß, und sie ist nicht das letzte Mal
am Meer, aber das weiß sie noch nicht.
Das Werk für Sicherheitstechnik müsste hier in der Nähe liegen. Zwei Jahre
lebt Inge nun im Heim, man hat sie mit dem Auto gebracht, dabei geht sie
lieber zu Fuß, da kann sie sich besser orientieren. Den Weg zum Bahnhof
kennt sie schon, morgen wird sie sich an den Namen der Straße erinnern und
an die Haltestelle, wo das Werk liegt. Von dort aus wird sie zu ihrem alten
Haus finden, der Wohnung über der Kneipe. Inge streift die Sandalen ab,
gräbt die Zehen in den sandigen Boden auf dem Spielplatz. Die Stadt hört
sie hier nur rauschen, und wenn man die Ohren unscharf stellt, hört sie
sich an wie das Meer.
20 Aug 2016
## AUTOREN
Carolin Pirich
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