# taz.de -- Ich und Deutschland gegen meine Mutter | |
> Blick von außen Wie fast alle dänischen Juden ist Herbert Pundik 1943 vor | |
> den Deutschen nach Schweden geflohen. Heute lebt der Journalist in Tel | |
> Aviv. Unsere dänische Gastautorin Henriette Harris besuchte mit ihm den | |
> Jüdischen Friedhof in Weißensee | |
Bild: Grüne Ruhe: der Jüdische Friedhof in Weißensee | |
von Henriette Harris | |
Mein Freund Herbert ist in Berlin. Sein voller Namen ist Herbert Nachum | |
Pundik. Den mittleren jüdischen Namen hat er nach seiner Urgroßmutter, die | |
auf Jiddisch Nechome hieß. Er ist 1927 in Kopenhagen geboren, 1943 ist er | |
wie fast alle 7.000 dänischen Juden vor der deutschen Besatzungsmacht nach | |
Schweden geflohen. Seit 1954 lebt er in Tel Aviv. Viele Jahre war er | |
Chefredakteur der dänischen Zeitung Politiken. Von 1970 bis 1993 wohnte er | |
drei Wochen im Monat in Kopenhagen in einem Hotel neben der Zeitung und war | |
dann eine Woche bei seiner Familie in Tel Aviv. So ein Leben, 23 Jahre | |
lang. | |
Mit seiner zwei Jahre jüngeren Frau Sussi reist er immer noch um die Welt, | |
und jeden Sonntag steht Herberts wöchentlicher Kommentar über den Nahen | |
Osten in Politiken. Er schreibt nicht immer vorteilhaft über Israel. | |
Herbert ist der weiseste Mann, den ich kenne. Er hat erlebt, dass seine | |
eigene Welt vollkommen zerstört worden ist. Durch seine Arbeit in Dänemark | |
und Israel hat er alles dafür getan, dass das Vertrauen in Demokratie, | |
Rechtsstaat und Mitmenschlichkeit wiederhergestellt wurde. Wir gehen auf | |
den Jüdischen Friedhof in Weißensee, wo er, so wie ich, noch nie war. | |
Die Sonne strahlt vom blauen Himmel, als wir am Friedhof ankommen. Herbert | |
muss eine Kippa aufsetzen, was ihm nicht gefällt. Die Kippa ist schwarz. | |
Herbert sieht wie ein alter Jude aus. Direkt am Eingang ist ein runder | |
Abschnitt, umgeben von einer niedrigen Mauer. Hier steht der zentrale | |
Gedenkstein des Friedhofs. Er wurde aufgestellt von der Jüdischen Gemeinde | |
zu Berlin, „gewidmet dem Gedächtnis unserer ermordeten Brüder und | |
Schwestern“. Rund herum liegen Steine mit den Namen von den Konzentrations- | |
und Vernichtungslagern. Ich frage Herbert, was er denkt. | |
„Ich kann sehr gut ausdrücken, was ich denke, weil das kein Gedanke ist, | |
den ich mir erst heute, an diesem Ort mache, sondern immer. Hier findet | |
sich meiner Meinung nach die Begründung, warum man 1948 einen jüdischen | |
Staat gegründet hat: einen sicheren Ort für Juden zu schaffen, sodass sie | |
in der Zukunft nicht mehr riskieren müssen, was wir hier veranschaulicht | |
sehen. Man kann das Auftreten und den jetzigen Charakter dieses Staates | |
diskutieren, aber dass die Juden einen Staat bekommen haben, sodass sie | |
dahin aufbrechen können, wenn sie den Geruch in der Bäckerei nicht mehr | |
mögen – das ist für mich die Konklusion“, sagt Herbert. Das mit dem Geruch | |
sagt man auf Dänisch, wenn ein Ort einem nicht mehr gefällt. | |
Wir sind in der Abteilung I, Feld A. Die Ehrenreihe. Den Weg entlang stehen | |
Grabsteine für Schriftsteller, Maler, Gemeindevorsitzende, Professoren, | |
Talmuddozenten und Rabbiner. Die Steine sind von unterschiedlicher Größe | |
und Ausformung. Auf einigen ist die Beschriftung in goldener Fraktur | |
verblasst, auf anderen stehen Bibelzitate auf Deutsch oder Hebräisch. | |
Einige sind grün von Moos, einige mit einem Davidstern verziert. | |
Vor Hermann Munk, geboren 1839, gestorben 1912, Dr. med., Professor und | |
Mitglied der Akademie der Wissenschaften, macht Herbert halt. „Hier sieht | |
man den Umfang der Integration der Juden in die damalige Gesellschaft. Das | |
war die beste Zeit für die Juden. Nachdem sie Bürgerrechte bekommen hatten, | |
bis vor dem Ersten Weltkrieg. Da waren sie wirklich deutsch. Ihr | |
intellektuelles Niveau, ihren geistigen Habitus haben sie hier in | |
Deutschland bekommen“, sagt er. | |
Direkt gegenüber dem Grab von Professor Munk steht zwischen zwei Büschen | |
ein kleiner Stein, der nur ein Gedenkstein ist. Die Verstorbenen haben wohl | |
nie ein Grab gefunden. Neben einem Davidstern steht: „Unvergessen. Opfer | |
des NS-Regimes ermordet 1942–43“. Und dann, untereinander: „Familie Zadek. | |
Wilhelm 53 Jahre, Erna 51 Jahre, Siegfried 54 Jahre, Hulda 47 Jahre, Hanna | |
19 Jahre, Ruth 19 Jahre. Familie Schäfer. Edgar 74 Jahre, Elise 72 Jahre, | |
Martin 46 Jahre, Lotte 42 Jahre, Ilse 19 Jahre“. Außer Hanna, Hulda und | |
Ruth sind die Namen stereotypisch deutsch. | |
Wir laufen langsam, weil Herbert nicht mehr so schnell laufen kann. Sein | |
Hemd hat die Farbe des Himmels, die großen Bäume tragen herrliches Grün. | |
Die Vögel singen, und ich frage Herbert, wie deutsch seine eigene Kindheit | |
war. Seine Mutter kam aus Deutschland. | |
„Meine Mutter hat am Komplex der osteuropäischen Juden gelitten. Sie war in | |
der Ukraine geboren, aber als sie ein Jahr alt war, es war das Jahr 1905, | |
gab es dort Pogrome, und die Familie ist nach Leipzig gegangen. Später in | |
ihrem Leben fiel es ihr schwer zu sagen, dass sie aus Russland kam. Oft hat | |
sie einfach behauptet, dass sie in Deutschland geboren worden sei. Das war | |
jüdischer Snobismus“, lächelt er. Deutsche Literatur und deutsche Musik | |
waren für die Mutter das Höchste. „Ihre Muttersprache war Deutsch, ihr | |
Dänisch war perfekt. Aber als sie als alte Frau in Israel wohnte, wem hat | |
sie sich dann angeschlossen? Frauen aus Leipzig und Frankfurt. Wenn sie | |
sich getroffen haben, gab es Kaffeeklatsch, sie haben Deutsch geredet und | |
eine wunderbare Zeit gehabt“, erzählt Herbert. | |
Moses Mendelssohn, der spätere Gründer der jüdischen Emanzipation, kam im | |
Jahr 1743, da war er vierzehn Jahre alt, durch das Rosenthaler Tor am | |
heutigen Rosenthaler Platz nach Berlin. Es war das Tor für das Vieh, ein | |
anderes durfte er als Jude nicht benutzen. Alle Kinder Mendelssohns wurden | |
getauft, sagt Herbert, und deshalb habe Hitler auch die „Bruch-Juden“, also | |
die gemäß der Rassenideologie der Nazis so genannten „jüdischen Mischlinge | |
ersten (oder zweiten) Grades“ verfolgt, weil so viele in die deutsche | |
Gesellschaft verschwunden waren. „Dadurch war die Enttäuschung auch so | |
groß. Und die Tragödie“, sagt Herbert. | |
Es hat lange gedauert, bis er nach Deutschland gefahren ist. „Nach dem | |
Krieg war ich total ablehnend. Das hatte auch mit meiner Mutter zu tun, die | |
mich zum Abstandnehmen erzogen hatte. Aber dann habe ich einen Vortrag | |
unter deutschen Historikern gehalten, und das hat alles geändert, weil ich | |
unter Leuten saß, deren Kollege ich sein wollte. Und eines Tages haben sie | |
von der deutschen Botschaft angerufen. Ob ich einen deutschen Orden | |
entgegennehmen möchte? Übrigens der letzte Orden, den Richard von | |
Weizsäcker unterschrieben hat. Und ich dachte: Good Lord, was mache ich? | |
Meine Mutter war noch am Leben. Na ja, also sagte ich leichthin zu meiner | |
Mutter: Übrigens, man hat mir einen deutschen Verdienstorden angeboten. Da | |
sagte meine Mutter: Wenn du ihn entgegennimmst, dann sind wir fertig. | |
Forever.“ | |
Herbert lacht. „Jetzt gab es plötzlich ein Dreieck: Ich und Deutschland | |
gegen meine Mutter. Die selber Deutsche war. Das war ganz unüberschaubar“, | |
sagt er und rückt seine Kippa zurecht. „Dann habe ich der Botschaft gesagt: | |
Ich nehme den Orden mit Freude entgegen, aber es muss vollkommen diskret | |
sein. Niemand darf etwas wissen. Und bis zum Tage ihres Todes erfuhr meine | |
Mutter nicht, dass ich sie zugunsten Deutschlands im Stich gelassen habe“, | |
sagt er und lächelt. | |
Wir gehen an einem Grab vorbei, wo eine Vase in Form eines Fußballs steht. | |
Hier liegt ein Mann begraben, der nur 27 Jahre alt wurde, er starb 2005. | |
„‚Vili‘ ist das georgische Suffix“, bemerkt Herbert. Mit den sowjetisch… | |
Juden, die in den 1990er Jahren gekommen sind, ist das jüdische Leben | |
wieder sichtbarer geworden in Berlin. | |
„Ja, aber das ist ein jüdisches Leben, das noch sehr selbstgenügsam ist. Es | |
trägt nicht viel dazu bei, das Loch in der deutschen Kultur und in der | |
Wissenschaft wieder zu füllen. Es ist eine solide Mittelklasse, die hierher | |
gekommen ist und die Wirtschaft mit aufbaut. Aber sie füllen nicht die | |
Löcher auf, die jüdische deutsche Intellektuelle hinterlassen haben“, sagt | |
Herbert. Zur Fußball-Vase bemerkt er nur: „Wie man auf Jiddisch sagt: ‚Es | |
judelt sich, wie es sich deutscht.‘ Das bedeutet: Was die Deutschen tun, | |
tun auch die Juden.“ | |
Auf einer weißen Bank setzen wir uns. Ein Begräbnis wird auf dem Friedhof | |
vorbereitet. Leute gehen in dem Gebäudeensemble aus gelben Ziegeln ein und | |
aus. Wir setzen uns auf eine weiße Bank unter den Bäumen. | |
„Ich habe das Gefühl, hier gibt es einen Zirkelschluss. Wenn man furchtbare | |
Sachen erlebt hat, die für mich ein vollkommen integrierter Teil meines | |
Charakters geworden sind – die Erinnerung an den Holocaust, davon kann ich | |
mich nicht befreien –, und nun hier in Deutschland ist, das Leben hier | |
erlebt und auch ein bisschen über die deutsche Politik in Beziehung zu | |
Europa, den USA, zum Nahen Osten weiß, dann verspüre ich irgendwie das | |
Gefühl von einem Gleichgewicht. Die Bosheit aus den 1930er Jahren ist | |
ausgewogen worden. Zugegeben, ich spreche jetzt eine Art von | |
Pfadfindersprache und rede von guten Taten nach dem Krieg. Ich habe aber | |
das Gefühl, dass das Leben dir immer etwas Positives geben kann, wenn du | |
die Augen dafür aufschlägst.“ | |
Die Autorin lebt als Journalistin in Berlin und schreibt für dänische | |
Medien. Sie hat ein Buch über Berlin (auf Dänisch) geschrieben, aber die | |
Stadt ist für sie noch längst nicht auserzählt. In ihrer Serie „Blick von | |
außen“ schaut sie sich in loser Folge in Berlin um. | |
30 Jul 2016 | |
## AUTOREN | |
Henriette Harris | |
## ARTIKEL ZUM THEMA |