# taz.de -- Erdoğan allein zu Haus | |
> Ortstermin Die Autorin Ciğdem Akyol stellt im Berliner Brecht-Haus ihrer | |
> Biografie des türkischen Präsidenten vor. Bitter, aber wahr: Es ist das | |
> Buch der Stunde | |
Bild: Bestimmt die derzeitige Nachrichtenlage: Recep Tayyip Erdoğan | |
aus Berlin Nina Monecke | |
Jeder Stuhl ist belegt, Altersdurchschnitt Mitte 50. Selbst auf die schmale | |
Wendeltreppe in der hinteren Ecke des Berliner Brecht-Hauses hat sich ein | |
älteres Ehepaar gezwängt. Während die ehemalige taz-Redakteurin Ciğdem | |
Akyol, die mittlerweile als freie Autorin in Istanbul arbeitet, ihre | |
Biografie über den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan vorstellt, | |
blickt sie in gespannte Gesichter. | |
Im Raum ist es still, kaum jemand tuschelt. Auf Akyols Geschichten wird mit | |
betroffenen Blicken und Kopfschütteln reagiert. Das Bild von Erdoğan | |
scheint klar: ein Diktator, bestenfalls ein machtgeiler Irrer. | |
Türkeistämmige ZuhörerInnen sitzen, soweit das überhaupt ersichtlich ist, | |
nicht im Publikum. | |
Es hat einen bitteren Beigeschmack an diesem Abend von dem „Buch der | |
Stunde“ zu sprechen. Fast zeitgleich ruft Erdoğan in der Türkei den | |
Ausnahmezustand aus. Die zierliche Akyol wirkt müde, lächelt aber auch dann | |
noch, als die Leiterin des Brecht-Hauses, Ursula Vogel, ihren Vornamen | |
nicht aussprechen kann. Das Vorlesen des Buchauszugs überlässt Akyol dem | |
Moderator Ingo Arend – auch er ist Journalist und taz-Autor. Ihre Stimme | |
ist angeschlagen. Die letzten Tage habe sie durchgearbeitet, erklärt sie. | |
Akyol berichtet, wie sie am vergangenen Freitag in Istanbul auf dem Heimweg | |
war, als sie die donnernden Flugzeuge über dem Himmel der Stadt hörte. | |
Gedacht habe sie sich dabei nichts. Erst als sie die sieben verpassten | |
Anrufe der Mutter aus Deutschland auf dem Telefon entdeckte, sei sie | |
irritiert gewesen. Was genau passierte, sei „im Land der Gerüchte“ lange | |
unklar gewesen. Dann eine SMS der Regierung: „Gehen Sie auf die Straße. | |
Verteidigen Sie die Demokratie.“ | |
In ihrem Buch, das im Herder-Verlag erschienen ist, rollt Akyol Erdoğans | |
Herkunft auf: geboren im Istanbuler Hafenviertel Kasımpaşa, das jüngste von | |
fünf Kindern, die Familie arm und konservativ. Kurzum: ein „schwarzer Türke | |
der Unterschicht“. Bis heute benutze er dieses Bild, um sich selbst zu | |
inszenieren, sagt Akyol, um sich von den „weißen Türken“, den Kemalisten, | |
abzugrenzen. Das Gespräch hangelt sich an Legenden entlang. Verlässliche | |
Informationen über Erdoğan sind rar. Akyols Buch ist die erste | |
deutschsprachige Biografie. Auf Türkisch existieren entweder Hasstiraden | |
oder Heiligsprechungen. | |
Wenn Akyol über Erdoğan spricht, tut sie das mit sanfter Stimme und ohne | |
Zynismus. Wird sie deutlich, schiebt sie ein „mit Verlaub“ ein. Offen | |
kritisch wolle in der Türkei kaum noch jemand über Erdoğan reden. „Ein Satz | |
kann schon ernsthafte Konsequenzen haben. Wir sprechen hier über | |
Gefängnis“, sagt sie. Einige im Publikum nicken wieder heftig – als ließe | |
sich diese Drohkulisse wirklich begreifen. | |
Ob Erdoğan eine islamistische Agenda habe, fragt Arend, spielt dabei auf | |
dessen Spitznamen „Koran-Nachtigall“ aus Kindertagen an, den Akyol zitiert, | |
weil der Präsident „so schön aus dem heiligen Buch deklamieren konnte“. E… | |
Islamist sei er nicht, meint die Autorin. Diesmal nickt niemand im | |
Publikum. Erdoğan wolle nicht die Scharia einführen, sondern Rache. Rache | |
am Militär, den Kemalisten, an denen, die ihn früher gedemütigt haben. Dazu | |
gehören Fethullah Gülen, das geistige Oberhaupt der religiösen | |
Gülen-Bewegung und frühere Weggefährte Erdoğans, dem der türkische | |
Präsident nun die Schuld am Putsch zuweist – sowie auch Angela Merkel. | |
Akyol erzählt von einer Pressekonferenz für ausländische Journalisten mit | |
einem AKP-Politiker zur Causa Böhmermann, die sie besucht hatte. Erdoğan | |
habe über das Schmähgedicht gelacht und soll gesagt haben: „Jetzt habe ich | |
Merkel.“ Die Bundeskanzlerin habe ihn jahrelang mit einer strategischen | |
Partnerschaft hingehalten. Nun konnte er sie vorführen. | |
Akyol betont, dass Erdoğan nicht für alle Türken stehe. Sie appelliert an | |
die Anwesenden, nicht die menschlichen Schicksale hinter den Tausenden | |
Entlassungen und Festnahmen zu vergessen. | |
Bei manchen Zuhörern bleibt jedoch ganz anderes hängen. „Hast du gehört? | |
Der Vater war Seemann. Erdoğan war allein mit seiner Mutter“, sagt eine | |
Frau auf dem Heimweg zu ihrem Mann. „Dem fehlte eine Vaterfigur.“ Sie | |
klingt fast mitleidig dabei. | |
22 Jul 2016 | |
## AUTOREN | |
Nina Monecke | |
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