# taz.de -- „Integration gibt es irgendwie nicht“ | |
> Flüchtlingshilfe Karin Grafe engagiert sich bei Help a Refugee. Dort hat | |
> sie viel über uns gelernt | |
Bild: Karin Grafe | |
von Gabriele Goettle | |
Karin Grafe, grad. Informatikerin u. Landschaftsplanerin. Aufgewachsen in | |
Wiesenbrück/Westf., wo sie auch ihren Mann kennenlernte. Abitur in Münster. | |
Sie wollte Mathematik studieren, was aber durch d. Tod d. Vaters vereitelt | |
wurde. Sie lernte stattdessen 1970 im Deutschen Rechenzentrum Darmstadt | |
Programmiererin, was ursprünglich „mathematisch-technische Assistentin“ | |
hieß. Danach Arbeit als Programmiererin in Berlin. Leben in der | |
Wohngemeinschaft. 1974 Geburt d. Tochter. 1976 kauft d. WG einen großen | |
Vierkanthof in Niedersachsen. Gemeinsame Sanierung in Eigenarbeit. 1979 | |
Einzug zu siebt, darunter drei Architekten u. eine Lehrerin. Karin fand | |
Arbeit als Programmiererin bei einer nahe gelegenen Baufirma. Ihr Mann hat | |
bald nach d. Einzug einen schweren Motorradunfall u. ist seitdem | |
querschnittgelähmt. Später machte er, trotz Rollstuhl u. Behinderung, ein | |
Jura-Studium in Bremen. Auch Karin Grafe absolvierte noch mal ein Studium, | |
von 1991 bis 1998 studierte sie in Hannover Landschaftsplanung u. arbeitete | |
hernach bis zur Berentung als Selbstständige im zweiten Beruf. 2005 | |
beschließt d. Mehrheit der WG, aus Altersgründen nach Bremen | |
zurückzukehren. Sie finden ein geeignetes Haus. Nach aufwendiger | |
Modernisierung u. d. Schaffung von sieben Wohneinheiten für insgesamt 12 | |
Personen ziehen sie ein. Zusammen mit einigen Neuen. 2009 wird d. | |
Vierkanthof verkauft. Die Gemeinsamkeiten d. Hausgemeinschaft, die nun | |
keine Gemeinschaftswaschküche usw. mehr hat, bestehen im Wesentlichen aus | |
einem offenes Frühstück an den Sonntagen, aus Absprachen über | |
Hausangelegenheiten u. einer gemeinsamen Reise pro Jahr. Karin suchte im | |
Ruhestand nach einer sinnvollen Beschäftigung u. beschloss, sich d. Hilfe | |
für Flüchtlinge zu widmen. Karin wurde 1951 in Wiesenbrück/Westf. geboren, | |
ihre Mutter war Schneiderin, d. Vater Bauingenieur. Sie ist verheiratet und | |
hat eine Tochter. | |
Karin Grafe holt mich am Bahnhof ab mit dem Auto. Wir fahren durch eine | |
sympathisch wirkende Stadt, vorbei an den typischen Altbremer Reihenhäusern | |
aus dem 19. und 20 Jahrhundert, mit ihren schönen Fassaden in verschiedenen | |
Farbtönen. Alles ist kleiner, enger und lebenslustiger als in Berlin. Sie | |
wohnt etwas außerhalb, in der östlichen Vorstadt. Das Haus hat einen | |
bepflanzten Innenhof mit Sitzplatz und ein großes Garagengebäude. Es ist | |
außen und innen bis zur Sterilität modernisiert. Die Wohnung jedoch ist | |
gemütlich, hell und geschickt zugeschnitten auch auf die Bedürfnisse eines | |
Rollstuhlfahrers. | |
Sie hat ein kleines Frühstück und Tee vorbereitet. Durch die offene | |
Balkontür kann man hinuntersehen auf die Straße und auf einen kleinen | |
Platz. Ich bitte sie, uns zu erzählen, wie sie zur Flüchtlingshilfe kam und | |
was sie für Erfahrungen macht. | |
„Es war ja die Situation, dass man täglich hörte, wie viele Flüchtlinge | |
herumirren und nach Deutschland kommen, auch nach Bremen kommen, und dass | |
Hilfe gebraucht wird von der Zivilgesellschaft. Ich dachte, da möchte ich | |
mich einbringen. Aber ich wollte nicht Kleiderkammer oder so was machen, | |
und da gab mir ein Nachbar den Tipp, ich soll doch mal zu dem Verein Help a | |
Refugee gehen. Das ist ein gemeinnütziger Verein und ist – ganz wichtig – | |
Anfang 2015 von einer Deutschen und einem Syrer gegründet worden. Er ist | |
gewachsen im Laufe der Zeit, es gibt immer noch, wie zu Beginn, am | |
Mittwochnachmittag ‚Meet a local‘, Begegnung zwischen Deutschen und | |
Flüchtlingen, man spricht über Probleme, erfährt, wobei man helfen kann, | |
und man lernt sich kennen. Sie glauben gar nicht, was da immer los ist. Die | |
Räume übrigens stellt uns eine katholische Gemeinde kostenlos zur | |
Verfügung. Es ist immer brechend voll. Leider zu 99 Prozent mit Männern. | |
Inzwischen haben wir aber Veranstaltungen, zu denen nur Frauen kommen | |
dürfen, ‚Ladies Circle‘, der ist sehr beliebt. Als ich das erste Mal | |
einfach hin ging zu einer Vereinssitzung, da wurde ich sehr freundlich | |
empfangen. In großer Runde saß man zusammen, jeder hat ein bisschen was | |
erzählt. Das war total interessant, aber nach der Sitzung saß ich da und | |
habe mich gefragt, ja, was mache ich denn jetzt? Und der Mann neben mir | |
sagte: ‚Hier, ich habe was für dich.‘ Er gab mir einen Bogen, da konnten | |
die Flüchtlinge sich dazu äußern, weshalb sie da sind und über die Gründe | |
ihrer Flucht. | |
## Mein erster Flüchtling | |
Mein ‚erster Flüchtling‘ war ein junger Mann, der aus dem Heim raus wollte | |
in eine Wohnung. Ich bin ins Heim gefahren – habe da zum ersten Mal so ein | |
Heim gesehen – habe ihn kennengelernt, und wir verstanden uns auf Anhieb. | |
Wir haben heute noch einen tollen Kontakt. Er ist Syrer, 23, alleine hier. | |
Wir haben stante pede eine Wohnung für ihn gefunden, in der er auch immer | |
noch lebt. Dann habe ich die Behördengänge und bürokratischen Sachen mit | |
ihm gemeinsam gemacht. Bin mit zum Sozialamt gegangen usw. Das war alles | |
sehr schwierig, denn er war in so einem Übergang vom Sozialamt zum | |
Jobcenter, beide waren zuständig, aber ein Amt schob es aufs andere. Wir | |
mussten also x-mal hin und her, immer fehlten Unterlagen, Ooch! Da war ich | |
irgendwann so weit, dass ich gebebt habe vor Wut – Sie merken, ich stocke | |
noch jetzt –, er wurde ständig aufs jeweils andere Amt verwiesen. Die reden | |
gar nicht miteinander! Das war meine erste Behördenerfahrung. Ich war noch | |
nie beim Sozialamt, noch nie beim Jobcenter. Und ich war geschockt. Also | |
wir sind richtig morgens hin, Marke ziehen, stundenlanges Warten in langen | |
Schlangen. Manchmal ist man auch gar nicht vorgelassen worden, zum Beispiel | |
in diesem Sozial-Centrum – so heißt das in Bremen. Wir mussten aber von | |
denen dringend ein Schreiben haben, damit das Jobcenter aktiv wird. Man gab | |
uns die Auskunft, das Schreiben sei in der Post. Gut. Wir warteten, aber | |
der Vermieter, eine Wohnungsbaugesellschaft, wollte nicht mehr warten. Es | |
war Eile geboten, sonst würde vielleicht die Wohnung anderweitig vergeben. | |
Deshalb brauchten wir dringend dieses Schreiben zur Übernahme der | |
Mietkosten. Die Zeit lief ab und man hat uns dauernd nur vertröstet. Es kam | |
aber nichts mit der Post. Wir sind also wieder hin. Alles überfüllt, | |
langsames Vorrücken in der Schlange bis zu einem kleinen Counter, da saß | |
ein Beamter, der hörte sich das Begehr an. Wie bei Kafka! Ich versuchte ihm | |
die Lage zu erklären, sagte, es kam kein Schreiben mit der Post. Er wollte | |
uns wegschicken, wir sollten eben abwarten, bis es kommt. Da wurde ich dann | |
– ganz gegen meine Art – doch etwas ungehalten und bin zum ersten Mal in | |
meinem Leben wirklich richtig standhaft geblieben vor diesem Menschen. Ich | |
sagte: ‚Ich gehe hier nicht weg ohne dieses Schreiben! Wenn es abgeschickt | |
wurde, dann gibt es ja eine Kopie und ich möchte jetzt eine Kopie dieser | |
Kopie, sonst ist die Wohnung weg!‘ Und tatsächlich, ein Wunder geschah, der | |
Mann erhob sich, verschwand im langen Flur und kam nach einer Weile zurück | |
mit dem kopierten Schreiben. Und das Witzige war, er gab mir sogar die | |
Hand. Ich bin noch ein paar Mal da gewesen, er war immer sehr freundlich. | |
Jedenfalls bekamen wir die Wohnung. | |
Der junge Mann ist mir verbunden geblieben. Wenn es Probleme gibt, dann | |
helfe ich. Und dann war schnell klar, er wollte studieren. Und für das | |
Studium braucht er einen C1-Level, und das Jobcenter zahlt aber nur B1, das | |
ist der sogenannte Integrationskurs, um Leute in Arbeit vermitteln zu | |
können. Danach ist normalerweise Schluss. Er kriegte das nicht bezahlt, | |
einen Sprachkurs für sein Studium. Leute mit weitergehenden | |
Bildungsinteressen werden unverständlicherweise kaum gefördert. Aber wir | |
haben dann doch Unterstützung gefunden durch die Otto Benecke Stiftung.“ | |
(Seit 50 Jahren ermöglichen die Garantiefondszuwendungen des Bundes der | |
Stiftung, akademisch orientierten Zuwanderern – früher waren das | |
DDR-Flüchtlinge und Spätaussiedler – bei der Aufnahme eines Studiums | |
finanziell zu helfen. Anm. G. G.)„Die haben ihm dann die Intensivkurse B2 | |
und C1 finanziert. Und momentan sind wir gerade wieder intensiv miteinander | |
in Kontakt, weil die Uni Bremen ein Programm beschlossen hat, bei dem 90 | |
Flüchtlinge aufgenommen werden. Daran soll er teilnehmen. | |
## Sieben auf kleinstem Raum | |
Ich wollte Ihnen auch noch von einer Familie erzählen: Eines Tages, an | |
einem Mittwoch, war ein junger Syrer mit seinem Vater im Verein. Er | |
erzählte, dass seine Familie am Vortag angereist sei, und er bat uns, ihnen | |
eine Wohnung zu suchen. So lange würden sie bei ihm wohnen. Es stellte sich | |
heraus, dass dann sieben Personen auf kleinstem Raum leben müssten, was ja | |
nun wirklich nicht geht. Ich bin am nächsten Tag mit ihm und der ganzen | |
Familie zum BAMF.“ (Bundesamt f. Migration u. Flüchtlinge, Anm. G. G.) | |
„Also das war ein schockierendes Erlebnis. Chaos, alles völlig überfüllt, | |
die Menschen haben stundenlang warten müssen, ohne Stühle, ohne Getränke, | |
ohne alles! Ich war so fertig, ich hab mich einfach auf den Fußboden | |
gesetzt. Es war mir peinlich, denn was ist das Warten gegen die Flucht zu | |
Fuß über so weite Strecken, bei Hitze und Kälte, so wie diese Familie? Sie | |
waren lange unterwegs, mit einem kranken Kind. Kommen aus einer Kleinstadt | |
nahe Aleppo. Ihr jüngster Sohn erlitt eine schwere Kopfverletzung, als er | |
von einem nicht mehr vorhandenen Balkon gefallen war. Seit dem hatte er | |
epileptische Anfälle und war auf seine Medizin angewiesen. Die war der | |
Familie ausgegangen und sie brauchten das Medikament ganz dringend. Wir | |
haben vor diesem Arztzimmer gewartet, zusammen 8 Personen. Vor der Tür | |
dieses Arztzimmers war eine Traube junger Männer und immer wenn die Tür | |
aufging, wollten sie außerhalb der Reihenfolge alle miteinander hinein. Das | |
war dann die zweite Situation, wo ich dachte, ich muss mich jetzt hier | |
durchsetzen! Als dann wieder die Tür aufging, habe ich laut gesagt: ‚So, | |
jetzt ich!‘, habe mich durchgedrängt und habe der Ärztin zugerufen: ‚Wir | |
haben hier ein krankes Kind, wir können nicht länger warten!‘ Es hat dann | |
auch geklappt. Die sehr nette Ärztin hat den Ernst der Lage erkannt, eine | |
Überweisung ausgeschrieben zu einer Arztpraxis, wo wir die Medizin bekommen | |
würden. Sie selbst konnte keine Medikamente ausgeben. Wir waren dann in | |
einer tollen Kinderarztpraxis, wo alles ganz unbürokratisch ablief. Sie | |
waren ja ganz frisch da, hatten keinen Krankenschein, nichts. Der Arzt hat | |
das Kind gleich für die kommende Woche zur Untersuchung bestellt und sich | |
ums Bezahlen erst mal gar nicht gekümmert. Das fand ich so toll! Dann | |
fuhren wir zusammen zu dem Übergangswohnheim, in das die Familie | |
eingewiesen worden war vom Bundesamt. Als ich das gesehen habe, hab ich | |
erst mal geheult. Das ist eine Fabrikhalle am Stadtrand von Bremen. Es | |
wurden provisorisch so halbhohe abgeteilte Bereiche geschaffen, als | |
Sichtschutz. Oben war alles frei. Da ist ein permanenter Lärmpegel, die | |
Kinder in ihrem Bewegungsdrang fuhren vor den ‚Wohnzellen‘ Rollschuh, | |
spielten Fußball. Der kleine Junge hat auf diesen Lärm ganz erschrocken | |
reagiert, was dann ja epileptische Anfälle auslöst. Aber sie mussten erst | |
mal bleiben. Die Familie ist dann zum Glück nach Zeven verlegt worden, das | |
ist 40 Kilometer von Bremen entfernt, eine Jugendherberge mitten im Wald, | |
die man für Flüchtlinge bereitgestellt hat. Wir haben weiterhin versucht, | |
eine Wohnung zu finden, damit die Familie wieder nach Bremen kann. Und | |
tatsächlich fanden wir eine, angeboten von einem Kinderheim, die diese | |
Wohnung mal als Gästewohnung benutzt hatte. Sie haben die Miete so | |
angepasst, dass sie übernommen wurde vom Amt. Dort leben sie nun zu sechst, | |
die Kinder, 7, 13, 18, 22, und die Eltern. Und im Zusammenhang mit dieser | |
Familie ist übrigens Jutta mit eingestiegen – WG-Mitbewohnerin der ersten | |
Stunde und Lehrerin –, sie beschloss, Deutschunterricht zu geben. Das fand | |
ich unheimlich toll! | |
Es gibt Höhen und Tiefen bei dieser Arbeit. Ich hatte ein ruhiges und | |
geordnetes Leben und bin plötzlich mit Schicksalen konfrontiert worden, die | |
mich stark beschäftigen. Ich musste manchmal feststellen, dass ich | |
eigentlich gar nicht darauf vorbereitet war, auf den Umgang mit solchen | |
traumatisierten Menschen. Manchmal denke ich, ich stoße an meine Grenzen. | |
Wenn der Kontakt enger und intensiver wird, dann höre ich – besonders von | |
den jungen Männern – immer wieder: Sie sind wie eine Mutter für mich. Man | |
wird zum Rettungsanker. Aber irgendwie kann ich diese hohen Erwartungen gar | |
nicht erfüllen. Mir fehlt alles dazu … Ja, vielleicht auch der Wille! Es | |
gibt ja Menschen, die professionell mit traumatisierten Menschen zu tun | |
haben, die gelernt haben, das zu trennen. Nach Hause zu gehen und trotzdem | |
das Leben zu leben. Und nicht abends im Bett zu liegen und an nichts | |
anderes mehr denken zu können als an dieses Drama. Ich kann das | |
‚Abschalten‘ einfach nicht. Aber ich realisiere, dass ich – im Gegensatz … | |
ihnen – jederzeit zurückgehen kann in mein sicheres Leben, in meinen Luxus, | |
in mein eigenes Bett. Abgesehen davon, habe ich auch keine finanziellen | |
Probleme, habe eine wohlbehütete Familie. Das so deutlich zu spüren, ist | |
auch ein Ergebnis dieser Erfahrungen. Eigentlich ist das, was ich tun kann | |
und tue, nur eine kleine Hilfe, ein Behilflichsein dabei, die Hürden im | |
Behördendschungel etwas leichter zu überwinden. Das wollte ich nur mal | |
nebenbei erwähnen. | |
## Doch nicht Araber? | |
Wieder zum Verein: Weil wir im Verein immer mehr Mitglieder und Flüchtlinge | |
wurden, beschlossen wir, Arbeitsgruppen zu bilden, arbeitsteilig zu | |
arbeiten. Ich war von vornherein in der Arbeitsgruppe | |
‚Wohnungsvermittlung‘, wir waren anfangs nur Frauen, es war ein sehr | |
freundschaftliches und solidarisches Klima. Und man stieß natürlich bei der | |
Wohnungssuche auf die üblichen Vorurteile auch bei den Vermietern: ‚Äh, | |
sind die etwa dunkel? Doch nicht Araber? Dann nicht.‘ Bis hin zu Sätzen | |
wie: ‚Ich will nur anständige Leute im Haus haben!‘ Aber einige private | |
Vermieter gab es, die vermieteten auch an Flüchtlinge. Ich habe eigentlich | |
schöne Erfolge gehabt, bis zum Herbst des letzten Jahres. Dann wurde es | |
immer schwieriger und schwieriger, weil die kleinen und preiswerten | |
Wohnungen alle weg waren. Der Markt war leer! Und die | |
Wohnungsbaugesellschaften, die haben irgendwann gesagt, sie vermieten nicht | |
mehr direkt an Flüchtlinge, sondern geben nur noch Kontingente an die | |
Übergangswohnheime. Es hatte Unmut gegeben, weil viele Deutsche gesagt | |
haben, auch sie suchen eine bezahlbare Wohnung! Die Konkurrenten um diese | |
Wohnungen liegen ja alle – sagen wir mal – so im Hartz-IV- Bereich. Andere | |
müssen sich damit ja gar nicht auseinandersetzen. Dieser Markt ist sehr | |
begrenzt. Mit dem totalen Mangel an Wohnungen entfiel unsere Aufgabe. Es | |
kamen auch weniger Flüchtlinge. Voriges Jahr gab es noch eine richtige | |
Flüchtlingseuphorie, aber die ist ziemlich geschwunden. Die Politik hat | |
dafür gesorgt, dass die Flüchtlingsströme zu uns abgewürgt wurden, | |
gruseligerweise. Das ist das ganz große Versagen von Europa. | |
Wir haben am 16. Februar unsere Arbeitsgruppe aufgelöst und uns was anderes | |
überlegt. Das steckt noch in den Anfängen und soll ‚Ausbildung und | |
Berufsfindung‘ sein. Man muss sich klar machen, dass die Situation der | |
Flüchtlinge, die noch nicht anerkannt sind, ausgesprochen belastend ist. | |
Eine der Familien beispielsweise, sie ist im Dezember vorigen Jahres | |
gekommen, hatte einen Termin beim Bundesamt. Was noch lange nicht heißt, | |
dass sie nun ihre Papieren haben, erst müssen noch Fingerabdrücke genommen | |
werden und alles Mögliche. Und immer dazwischen lange Wartezeiten, in denen | |
nichts passiert. Sie bekommen Geld für ihren Lebensunterhalt, haben eine | |
AOK-Karte. Gut, das Leben kann stattfinden, aber was immer so mit dem | |
Stichwort ‚Integration‘ propagiert wird, das gibt es irgendwie gar nicht! | |
Der Staat lässt zum Beispiel die Schulpflicht erst greifen, wenn die | |
Papiere da sind, und das kann dauern. Diese Familie, die war fast fünf | |
Jahre unterwegs, sie haben schlimme Kriegserfahrungen und eine richtig | |
harte Flucht hinter sich. Die Fluchtzeit fehlt den Kindern in ihrer | |
Schulbiografie, die älteren haben keinen Abschluss, kein Garnichts. Jutta, | |
die Lehrerin, ist jetzt sehr aktiv geworden, hat es geschafft, einen | |
Schulplatz zu bekommen für die Kinder. Normalerweise würden die zu Hause | |
sitzen. Vorgestern waren Jutta und ich bei der Familie, die Mutter klagt | |
über starke Rückenschmerzen. Sie hat mir vorgemacht, wie sie ihr Kind die | |
ganze Zeit getragen hat auf dem Landweg. Nun muss sie unbedingt zum Arzt. | |
Das ist die nächste Aktion. Und der Vater ist auch nicht gesund, hat | |
Blutdruckprobleme, beide Eltern sind um die fünfzig. Wir haben jetzt auch | |
einen Antrag auf einen Integrationskurs für die Eltern gestellt. Sie haben | |
inzwischen wenigstens vom Bundesamt die sogenannte Aufenthaltsgestattung, | |
das ist ein Papierausweis mit Passfoto, der gilt aber immer nur für drei | |
Monate. Letztens hat das mal eine Frau in der Arbeitsagentur auf den Punkt | |
gebracht, sie sagte: ‚Plastik alles gut! Papier noch nicht alles gut!‘ Wir | |
hoffen, dass es dann spätestens nach den Sommerferien losgeht für die | |
Eltern. | |
Die Menschen, die ich kennengelernt habe, haben alle Schlimmes, sehr | |
Schlimmes hinter sich. Die wären alle liebend gerne zu Hause geblieben, | |
wenn der Krieg und die Zerstörungen sie nicht vertrieben hätten aus ihrer | |
Heimat. Viele kommen aus einem ehemals sehr behüteten Leben, gerade bei den | |
Syrern. Dennoch nehmen sie alle Strapazen auf sich. Da sind Leute mit dem | |
Schiff nach Lampedusa gefahren. Die ersten, die ich kennenlernte, sind alle | |
noch auf diesem Weg gekommen. Es gab welche, die wurden dreimal | |
zurückgeschickt und haben sich immer wieder auf den Weg gemacht, mit | |
dreifachem Risiko und es wurde dreimal so teuer. Insofern gehe ich übrigens | |
davon aus, dass die ärmeren Syrer alle noch dort sind in den zerstörten | |
Städten oder in den riesigen Wüsten-Zeltlagern in Jordanien. Alle, die hier | |
sind, müssen irgendwie ein bisschen Vermögen haben, das vielleicht von der | |
gesamten Verwandtschaft aufgebracht wurde. Ich weiß es nicht. Jedenfalls | |
ist bei den Flüchtlingen ihr gesamtes Leben durcheinandergekommen, ihre | |
Familien sind zerrissen und ihre Zukunft ist ungewiss. Bei einigen geht es | |
aber aufwärts. Ich habe unlängst einen total netten Mann wiedergetroffen, | |
er sagte, ich kriege jetzt einen weiterführenden Deutschkurs und ab morgen | |
arbeite ich als Briefträger! Er muss früh aufstehen, aber er war ganz | |
glücklich. Ab September macht er den weiterführenden Deutschkurs, denn er | |
war Lehrer und möchte gerne wieder als Lehrer arbeiten. Der Mann hat zwei | |
Schwestern und einen Bruder, eine Schwester ist in Ägypten gelandet, die | |
andere in der Türkei und der Bruder ist im Libanon. Oft ist die ganze | |
Familie so verstreut. | |
Es ist überall von Integration die Rede. Aber was meinen wir eigentlich mit | |
Integration? Gut, Sprache lernen ist notwendig, und die Männer, die ja | |
arabische Prinzen sind in ihrem Selbstverständnis, müssen ihr Frauenbild, | |
das sie von klein auf mit sich herumtragen, rigoros ändern. Wir Frauen | |
haben hier mühsam gekämpft dafür, dass wir da sind, wo wir sind. Um keinen | |
Preis der Welt möchten wir wieder zurück. Das ist für mich die absolute | |
Deadline! Ich erzählte Ihnen eben von dem jungen Mann, der als Briefträger | |
arbeitet. Es ging auch darum, dass seine Frau einen Integrationskurs machen | |
soll, und er sagte ganz entsetzt: ‚Nein, das geht nicht! Sie kann nicht | |
alleine durch die Stadt fahren, das ist unmöglich!‘ Dagegen ist erst mal | |
schwer anzukommen und zu argumentieren. Die Frage ist aber auch, wie sehen | |
wir uns gegenseitig? Manchmal, wenn ich an schönen, sonnigen Tagen hier so | |
durchs Viertel spaziere, alle leicht bekleidet, dann versuche ich das mal | |
mit den Augen eines orientalischen Mannes zu sehen … Manchmal, wenn ich ein | |
T-Shirt anhabe, ertappe ich mich dabei, wie ich im Spiegel schaue, ob man | |
vielleicht die Brustwarzen sieht. Dann zieh ich noch was drüber. Ist das | |
jetzt Respekt vor der anderen Kultur oder bereits ein Zurückweichen in die | |
alten Muster? Wie auch immer, es ist meine Entscheidung. Jede Frau muss | |
sich aber unbedingt selbst frei entscheiden können! | |
## Briefe vom Amt | |
Zur Integration würde auch sehr beitragen, wenn die Bürokratie sich mal | |
Gedanken macht. Ich muss oft helfen, wenn irgendwelche unverständlichen | |
Briefe ankommen vom Amt – oft sind die sogar für mich unverständlich. Das | |
ist doch ein Unding, dass selbst die eigene Bevölkerung mit dem | |
Ämterbürokratismus und den Formularen nicht klarkommt. Wenn man drei Seiten | |
gelesen hat, dann denkt man: Ja, worum geht es hier denn eigentlich? Also | |
noch mal von vorne, ganz langsam! Das kann ein Antrag sein zur ‚Beihilfe | |
nach dem Asylbewerberleistungsgesetz‘, oder ein Formular der | |
Gebühreneinzugszentrale. Man fragt sich erst mal, wozu sollen die das | |
überhaupt alles ausfüllen? Sie werden ohnehin befreit von den Gebühren, | |
sollen aber einen vierseitigen Befreiungsantrag stellen! Ohne | |
Deutschkenntnisse! Und ich muss ihnen die Notwendigkeit und den Sinn der | |
Mülltrennung erklären. Man sagt: ‚Box for paper, box for plastic, box for | |
metal, box for glass, and here, the rest.‘ Die Reaktion ist meist ein | |
vollkommen leerer Blick. Dabei ist besonders wichtig, dass sie auch das mit | |
dem Restmüll verstehen, denn der ist richtig teuer. Es gibt inzwischen hier | |
in Bremen, in einer großen Siedlung – in der vor allem Sozialwohnungen sind | |
– solche Chips für die Bewohner. Nur damit können sie die Mülltonnen öffn… | |
und dabei wird elektronisch registriert, wie viele Tüten man reinwirft. Man | |
darf genau 60 Tüten im Jahr einwerfen, egal, wie groß die sind! Ab dem 61. | |
Mal gibt es dann eine extra Rechnung. Das ist schwer zu erklären, dass sie, | |
wenn sie immer kleine Tüten einwerfen, null Komma nix ihr Kontingent | |
erschöpft haben und dann mehr bezahlen müssen. | |
Ich mache das übrigens nicht zum ersten Mal, ‚Flüchtlingshilfe‘. Wir, | |
unsere Land-WG, hatten damals Anfang der 90er Jahre, als der | |
Jugoslawienkrieg tobte, eine bosnische Frau mit zwei Kindern aufgenommen, | |
elf Monate und zweieinhalb Jahre alt. Deutschland hatte sein Kontingent von | |
5.000 Flüchtlingen bereits erfüllt und nahm keine Flüchtlinge mehr auf. Wir | |
mussten für sie privat einstehen, mussten eine Erklärung unterschreiben, | |
dass wir für alle Kosten aufkommen! Wir haben uns entschlossen und | |
blitzartig unser Backhaus umgebaut, damit sie ihr eigenes Reich haben. Die | |
Verständigung lief zuerst mühsam über etwas Französisch, wurde aber | |
zunehmend besser. Das ältere Kind hat anfangs nie den Mund aufgemacht, | |
konnte aber plötzlich deutsche Worte. Die Kinder waren dann in der | |
Kindergruppe und der Dorfschule. Sie waren fast vier Jahre bei uns. Der | |
Ehemann war in Sarajevo zurückgeblieben, leitete ein Elektrizitätswerk. Als | |
der Krieg zu Ende war, ist die Mutter 1995 mit ihren Kindern rasch | |
zurückgekehrt – was vonseiten der Politik ja so gewollt war. 1996 waren wir | |
dort zu Besuch. Sarajevo war eine zerstörte Stadt, in den Brücken waren so | |
große Löcher drin, da hätte Franz mit seinem ganzen Rollstuhl leicht | |
hindurch gepasst. Gruselig! Und es war eine Stadt, in der es kaum intakte | |
Wohnungen gab, keine Arbeit, kein Rentensystem, keine funktionierende | |
Krankenversicherung. Nichts war mehr übrig, von dem guten Miteinander, das | |
es einstmals in Sarajevo gegeben hatte. Leider hat sich dann auch noch | |
herausgestellt, dass der Mann inzwischen eine andere Frau hatte und mit ihr | |
ein Kind. Unsere bosnische Freundin hat sich scheiden lassen, wurde krank, | |
sehr krank, bekam auch noch einen Schlaganfall und wurde dadurch noch mal | |
total aus ihrem Leben gerissen. Wir haben bis heute immer noch Kontakt. | |
Das sind so meine Erfahrungen. Ich habe viel gelernt, auch über uns!“ | |
27 Jun 2016 | |
## AUTOREN | |
Gabriele Goettle | |
## ARTIKEL ZUM THEMA |