# taz.de -- Filmemacherin über ihre Straße: Balkon zur Welt | |
> Der Balkon ist ein guter Ort um zu erfassen, wie das Leben verstreicht. | |
> Und irgendwann kommt der Herbst. | |
Bild: Was die da machen? Blick vom Balkon | |
Jedes Jahr neu versuche ich über die Pflanzen auf dem Balkon einen | |
Zeitrafferfilm zu drehen. Jedes Jahr scheitert das, weil das Stativ zu sehr | |
im Weg steht. Wenn ich nämlich nicht weiß, was ich auf diesem Planeten | |
überhaupt will, schleppe ich Blumentöpfe hin und her. Frühlingserwachen | |
knallt gegen Balkongeländer. Da ächzt die Nachbarin linker Hand. „Jetzt | |
geht dat wieda los mit dit Jeräume.“ Darüber könnte man einen | |
Langzeitzeitrafferfilm drehen. | |
Ich habe seit 20 Jahren einen Balkon in Pankow. Der wucherte erst jedes | |
Jahr neu. Es gab noch keine Bienenmischungen, aber „Treu Wiesengut“ mit | |
farbigen Wellenbewegungen, die die Aussicht fegten. Ein Jahr kam ganz in | |
Blau. Rittersporn, Kornblumen, Trichterwinden. Ein Jahr echtes Dünengras. | |
„Wieso haben wir keine richtigen Blumen wie die Omis?“ fragte ein damals | |
noch kleiner Junge. Im Hinterhaus lebten drei alte Frauen, die Spaß daran | |
hatten, schicke Kirmespflanzen zu ziehen. Sie sind nicht mehr da, | |
stattdessen junge Männer mit Kartoffeln im Eimer. Jetzt setzen sich hier | |
bei mir die Petunien wie altmodische Zuckerkringel, rotweiß gestreift, und | |
rosa Geranien durch. | |
Fast alle im Haus hatten ungefähr gleich alte Kinder. Was praktisch ist, | |
wenn die klein sind und auch dann, wenn sie anfangen, Partys zu schmeißen. | |
Komisch wird es allerdings, wenn sie das auch mit der Schule tun, auf Speed | |
flegeln oder Sprayerfreunde haben, die leider total nett sind. Den neuen, | |
jungen oft recht reichen Eltern, von denen niemand weiß, wieso die so | |
plötzlich alle hier auftauchten und womit sie ihre wahnsinnig teuren | |
Kinderwägen bezahlen, ist nicht klar, dass ihre süßen Lieblinge auch bald | |
mit Kapuze überm Gesicht herumschlurfen dürften. | |
## Göttliche Schleifen | |
Deshalb und auch weil die Polizisten eine Zeit lang viele | |
Facebookparty-Weiterbildungen hatten, kam es in den letzten Sommern zu | |
vielen Polizeieinsätzen. Von den Balkonen aus beurteilten wir Nachbarn ihre | |
verhältnismäßige Sinnlosigkeit. Sinnlos wie „urban gardening“, denn obwo… | |
die Tomatenpflanzen herrlich nach Drachen aussehen und stinken, fallen ihre | |
Früchte immer auf die Straße runter, wenn sie reif sind. | |
Aber der Sinn bewegt sich ja in göttlichen Schleifen, wie der in der Ferne | |
abends vom lauen, blauen Balkon aus gesehen, schöne, glatzköpfige | |
Kickboxer, der auf unserer Straße als seine Strandpromenade trainiert (mit | |
Gymnastik-Band). Dort sah ich auch einst beim Gießen durch Äste sehr viele | |
Teenies auf der Straße. Um dieses Haus mit Linden davor, in denen Balkone | |
stecken, gibt es drei große Schulen. Eine Schule ist voller Mädchen: das | |
Gymnasium. Die andere wird von Jungs mit knackigen Kurzhaarschnitten | |
besucht, die ihre Arme immer etwas vom Körper abhalten. Dies ist die | |
Sekundarschule. | |
Früher, als in Pankow noch alle arbeitenden Klassen beieinander wohnten, | |
kannten sich die Schüler von der Grundschule. Es gab gemeinsame Feste mit | |
Prügeleien. Heute ist das nicht mehr so. Ich sah also die Gruppen und | |
Grüppchen, teilweise Freunde der Kinder in unserem Hof verschwinden und | |
ging barfuß runter. Schon um zu gucken, woher der hallige Sound kam. Im Hof | |
war ein dichter Schwarm aus trinkenden Jugendlichen sowie Polizisten | |
versammelt. Die Polizisten schritten nüchtern und erleichtert auf mich zu. | |
Da ich eine Mutter sei und hier wohne, wäre ich für alle aufkommenden | |
Schäden rechtlich verantwortlich. “Aber ich habe nur auf dem Balkon | |
gesessen!“ „Das kann ja jeder sagen!“ | |
Ein mutiger Polizist stellte sich auf eine Wippe und wollte etwas sagen. | |
Von allen Balkonen schwappten Bemerkungen und Tipps auf ihn herunter. | |
Schließlich schwieg er lieber und ein 15-Jähriger rief stattdessen: „Wir | |
gehen in den Bürgerpark.“ Was blieb, waren Bierflaschen an der Schaukel. | |
Immer noch Balkongespräch Nummer zwei. | |
„Januar, Februar, März du bist mein liebstes Herz. | |
Mai Juni, Juli, August, mir ist von nichts bewusst.“(Goethe) | |
Als ich keinen Balkon hatte, vermisste ich ihn natürlich noch nicht. Die | |
Nachbarn sind dann viel ferner. Man hört sie kaum ohne Balkon | |
beziehungsweise wie im Winter. Der Sommer kann mit Balkon keines Satzes | |
sicher sein. | |
Ich weiß viel mehr über die Welt und mich, seit ich einen habe. Zwei | |
Nachbarinnen telefonieren jeden Sommer laut und schon viele Jahre auf dem | |
Balkon. Die eine jeden Samstag circa drei Stunden mit ihrer Mutter. Es geht | |
um alles. Also auch ab und zu um meine Kinder und mich. | |
## Im Hamburger Wind | |
Früher, nur am Fenster im Hamburger Wind, war’s auch schön. Ob sie | |
arbeiteten und was, erkannte man an den Nachbarn erst, wenn man sich | |
unterhielt. Zum Beispiel wenn sie in St Pauli auf dem Fußabtreter lagen und | |
sich unglücklich entschuldigten, sie tränken nur manchmal und auch nur, | |
weil sie als Polizeifotografinnen schon soviel Schlechtes gesehen hätten. | |
Ein Nachbar kifft jeden Tag auf dem Balkon und also zu uns herüber. Er hat | |
selbst Teenagerkinder und ruft trotzdem manchmal die Polizei. Wenn diese | |
Nachbarn Besuch haben, werden sie mutig und rufen Sachen wie: „Mal wieder | |
nachtaktiv gewesen, wa?“ zu mir hoch. Sie sind geräuschempfindlich und | |
lassen ihre Pflanzen vertrocknen. Ich frage sie nie etwas, aber sie haben | |
mir mal erzählt, dass sie mit Psychosen arbeiten und sich deshalb auch mit | |
mir auskennen würden. | |
Die liebste Sommerarbeit der Katze: auf dem Balkon den Vögeln beim Vögeln | |
zusehen und Fliegen fangen. Auch pinkelt sie gern in die am Balkonboden | |
stehenden Stauden. Sie könnte Katzenmodell werden. (Das sagt jeder | |
Katzenbesitzer über seine Katze.) Dann quietschte es. Katze fiel vom Balkon | |
in einen Busch. Wir suchten sie, trugen sie vorsichtig hoch. Das Tierchen | |
lag drei Tage zitternd unterm Sessel und seufzte nur noch. Verdrehter | |
Rücken. Der Balkon ist nicht hoch genug für eine Katze, um sich zeitgerecht | |
in der Luft zu drehen. Wir fütterten sie auf Knien mit kleinen Löffeln voll | |
Vanillejoghurt und Kaviar. Sie isst auch jetzt nichts anderes, obwohl sie | |
wieder frisch und lustig ist. | |
Dann schreitet das Jahr voran, bald fallen die Blätter einfach ab und die | |
Linde lässt tief blicken. Die Kinder sind oft schrecklich lange in | |
komischen Touristenclubs und ich kann es nicht mehr verbieten. | |
„Mama, ich hör Stimmen!“ | |
“Ist doch kalt, mach die Balkontür zu.“ | |
„Aber die Stimmen sind so gruselig…es werden Kinder gebraten, wie bei | |
Hänsel und Gretel!“ | |
Ich gehe vorsichtig auf den Balkon und höre deutlich: | |
„Ach, der Sommer ist schon fast vorbei, wie schade, gib mir noch ein Stück | |
von der kleinen Leber, echt lecker… komisch, wenn wir hier grillen, hab ich | |
oft das Gefühl, die Nachbarn hören uns zu, zum Beispiel jetzt…“ | |
Der Herbst der Herbst, der bricht mir noch das Herz. | |
Dies ist ein fiktiver Text. Eventuelle Ähnlichkeiten mit Nachbarn sind | |
völlig zufällig. | |
21 Jun 2016 | |
## AUTOREN | |
Katrin Eissing | |
## TAGS | |
Berliner Szenen | |
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