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# taz.de -- Veritabler Hürdenlauf zum Publikum
> Begegnung Die Omnibus-Literatur-Lesereise führte zwei AutorInnen in die
> JVA Tegel. Die Insassen erweisen sich als durchaus fachkundig
Bild: María Barbetta (3. v. r.) mit anderen AutorInnen vor dem Lesetour-Bus. J…
von Ronny Müller
Größere Hürden haben wohl selten AutorInnen auf dem Weg zu ihrem Publikum
überwinden müssen. Gut ein halbes Dutzend schwerer Türen und hoher Tore
liegt am späten Freitagnachmittag zwischen María Cecilia Barbetta, ihrem
Kollegen Johannes Schrettle und um die zwanzig literaturinteressierten
Häftlingen in der Teilanstalt 6 der JVA Tegel.
Draußen auf dem Gefängnisinnenhof spielen die Jüngeren Basketball, üben
Klimmzüge an einer Art Klettergerüst und nehmen sich für Kniebeugen
Huckepack. Drinnen, im Veranstaltungsraum mit Speisesaal-Charakter, sitzen
die etwas älteren. Die meisten von ihnen dürften zwischen Ende dreißig und
Anfang 50 sein. Einige haben sich Notizzettel zurechtgelegt. Mit warmem
Willkommensapplaus empfangen sie die Gäste, die ihnen von ihrer Arbeit
erzählen und ihre Texte vorlesen.
„Literatur hinter Gittern“ heißt die Reihe, für die die
Literaturvereinigung „Berliner Literarische Aktion“ seit 2002 in
unregelmäßigen Abständen AutorInnen ins Gefängnis bringt. Diesmal ist die
Lesung jedoch in einen größeren Rahmen eingebettet – die Omnibus-Lesetour.
Seit Anfang Mai reisen über 100 internationale AutorInnen in wechselnden
kleinen Besetzungen mit einem Bus quer durch Europa. Von Skandinavien geht
es über Mitteleuropa, den Balkan bis in die Türkei und nach Zypern, wo die
Tour Ende Juli ihren Abschluss finden wird. Von vergangenem Donnerstag bis
Sonntag machte der Bus in Berlin Station.
Das Kreuzberger Literaturhaus Lettrétage zählt zu den Mitinitiatoren der
Europareise. Gemeinsam mit AktivistInnen aus Österreich, Finnland und
Zypern haben Sie das Netzwerk „Crowd“ gegründet – „Creating Other Ways…
Dissemination“, also andere Wege der Verbreitung von Literatur finden. „Wir
wollen die Literatur nicht als ein abgeschlossenes Werk, sondern als
Kommunikationsmittel begreifen“, umschreibt Mitinitiator Tom Bresemann
gegenüber der taz die Grundidee der Lesereise. Sie soll Literatur an
ungewöhnliche Orte bringen, dem Publikum auf Augenhöhe begegnen und anders
als meist üblich auch NichtakademikerInnen ansprechen, so Bresemann weiter.
## Lesereisestopp JVA
Neben einem literarischen Rundgang durch die Plattenbauschluchten von
Marzahn und einer Lesung im Nachbarschaftsheim Schöneberg ist die JVA Tegel
so ein ungewöhnlicher Ort und einer der Stopps der Tour. Hier sitzen
aktuell zwischen 800 und 850 Männer ihre Haftstrafen ab, darunter sind laut
Gefängnismitarbeiter Axel Briemle auch viele Langstrafen ab zwei Jahren –
für Diebstahl, räuberische Erpressung, Mord.
Berührungsängste lassen Johannes Schrettle und María Cecilia Barbetta
dennoch keine spüren. Beide lesen das erste Mal hinter Gittern. Der Grazer
Schrettle ist eigentlich Theaterautor. Er liest ein völlig unromantisches
Porträt über das verkorkste Leben einer Architektin – eine rastlose
Erzählung mit Zügen eines Agententhrillers. Der Text ist sperrig, doch die
Insassen folgen ihm aufmerksam. Einige schließen die Augen, andere reißen
sie weit auf, den Kopf leicht schräg haltend. Zwischenzeitlich verrät nur
der Blick aus den vergitterten Fenstern auf die mit Stacheldraht gekrönten
Gefängnismauern, dass es sich um keine ganz gewöhnliche Lesung handelt.
„Das klingt wie ein Selbstbildnis“, wirft anschließend einer ein und bringt
damit den Autoren leicht aus der Fassung. „Das hat mir noch niemand gesagt,
aber vielleicht stimmt es“, lacht er verlegen.
Nicht weniger interessiert zeigen sich die Zuhörer an dem Beitrag
Barbettas. Die ist gebürtige Argentinierin, lebt jedoch seit zwanzig Jahren
in Berlin und hat hier auch ihre literarische Karriere begonnen. Für die
Gefängnislesung hat sie ein bisher unveröffentlichtes Kapitel aus dem
Manuskript ihres zweiten Romans mitgebracht, eine tragische
Liebesgeschichte rund um einen argentinischen Schmusesänger. Nach der
Lesung ist besonders Barbetta an einem Erfahrungsaustausch interessiert. Es
stellt sich heraus, dass einige der Häftlinge selbst schreiben –
Essayistisches, Autobiografisches, Philosophisches. Einer hat sogar einen
600-Seiten-Roman verfasst, den er nach seiner Entlassung veröffentlichen
will.
Erst ganz zum Schluss kommt sie doch noch – die klassische Frage, ob beide
von ihrer Literatur leben können. Schrettle und Barbetta bejahen. „Meine
Wohnung ist 36 Quadratmeter groß“, gibt Letztere zu. „Sechsmal so groß wie
unsere“, wirft einer ein. Gelächter.
Nach zwei Stunden spucken die Gefängnistore Barbetta und Schrettle wieder
in die freie Welt. Ins Gespräch gekommen sind sie mit den Häftlingen
zweifelsohne, wenn auch – entgegen des eigentlichen Ziels der Veranstaltung
– die übliche Rollenverteilung zwischen Rezipient und Autor bestehen blieb.
31 May 2016
## AUTOREN
Ronny Müller
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