# taz.de -- Wenn es Nacht wird im Auge | |
> SChicksalsschlag In Deutschland erblinden jährlich etwa 10.000 Menschen. | |
> Wie sie damit umgehen, ist eine Frage der Persönlichkeit und der Umstände | |
Bild: Fast normale Büroarbeit: Gisela Hirschberger tippt auf der Braille-Schre… | |
von Manuela Sies | |
Wut. Und zwar viel davon. Das fühlte Gisela Hirschberger kurz nachdem sie | |
erfahren hatte, dass sie vollständig erblinden würde. Vor 15 Jahren war | |
das, kurz bevor sie innerhalb von einer Woche ihre Sehkraft verlor. „Ich | |
war allein zu Hause und habe erst mal gewütet und geflucht“, sagt sie. Die | |
66-Jährige sitzt in der Beratungsstelle des Regionalvereins Oldenburg im | |
Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverband (DBSV). Die Energie von damals | |
packt sie wieder. Kurz heben sich ihre Schultern, die Hände zeichnen mit | |
einem Bogen den Ausbruch nach. | |
Wegen eines Unfalls musste man ihr Hornhaut in das linke Auge verpflanzen. | |
Das Medikament Kortison sollte eigentlich dafür sorgen, dass das neue | |
Gewebe angenommen wird. Nur trieb es als Nebenwirkung auch den | |
Augeninnendruck hoch. Das schädigte den Sehnerv. Ihre Sehkraft sei damals | |
schon beeinträchtigt gewesen, sagt sie. Als Kind sei bei ihr der Grüne Star | |
diagnostiziert und operiert worden. „Da war mein Sehvermögen bei 80 | |
Prozent“, sagt sie – bis als Erwachsene zwei Hornhautverpflanzungen | |
folgten, unter anderem wegen einer Virusinfektion. Das habe ihre Sehkraft | |
auf beiden Augen weiter verringert. Dann kam die Erblindung. | |
Laut DBSV ist Gisela Hirschberger einer von rund 10.000 Menschen in | |
Deutschland, die jährlich erblinden. Dem Bundesverband der Augenärzte (BVA) | |
zufolge leben im Land etwa 1,2 Millionen Blinde und Sehbehinderte. Die | |
genaue Zahl der Betroffenen werde nicht erfasst. Die Schätzungen beziehen | |
sich auf den Bericht der Weltgesundheitsorganisation WHO von 2002, die auf | |
Deutschland umgerechnet wurden. | |
Die häufigste Erblindungsursache ist nach Angaben des BVA mit 40,7 Prozent | |
die Altersabhängige Makuladegeneration (AMD), die zum Verlust der zentralen | |
Sehschärfe führt. Es folgten „andere Ursachen“ (19,5 Prozent). Auch der | |
Grüne Star (Glaukom) sei mit 15,4 Prozent häufig. Bei dieser Gruppe von | |
Krankheiten sterben die Fasern des Sehnervs nach und nach ab. Diabetische | |
Retinopathie, die in Folge von Diabetes die Netzhaut schädigt, mache 9,7 | |
Prozent aus, vererbbare Augenkrankheiten sieben Prozent. | |
Unabhängig von der Ursache setzt die Diagnose Erblindung erst einmal eine | |
Zäsur im Leben eines Menschen, auch in dem von Gisela Hirschberger. Nach | |
ihrem ersten Wutausbruch mahnte sie sich zur Ruhe, kochte sich eine Kanne | |
Kaffee und legte ihre Lieblingsplatte von Elvis auf. „Das ist mein Valium“, | |
sagt sie. Dann habe sie entschieden, ihr Leben neu zu organisieren. „Ich | |
habe mir gesagt, bevor du unselbstständig wirst, muss schon was passieren.“ | |
Also lernte sie innerhalb von drei Monaten die Brailleschrift. Für das | |
Orientierungs- und Mobilitätstraining, mit dem sie sich in Gebäuden, im | |
Straßenverkehr und zu Hause bewegen lernte, brauchte sie ein Drittel der | |
üblichen Zeit. Sie trat dem DBSV bei, wurde Frauendezernentin. Heute ist | |
sie die erste Vorsitzende. | |
Auch an ihren Hobbys hielt sie fest, der Literatur etwa. Ohne geht für sie | |
nicht. Nur dass sie jetzt eben Hörbücher hört. Oder das Reisen: Die letzte | |
Kreuzfahrt ging mit ihrer Tochter nach Norwegen. „Ich war immer schon | |
lebenslustig, aber jeder geht anders mit seiner Erblindung um“, sagt Gisela | |
Hirschberger. | |
Dem stimmt Sabine Aisenbrey zu. Sie ist die Direktorin der Klinik für | |
Augenheilkunde am Pius-Hospital in Oldenburg. Sie erlebe viele Patienten, | |
die den Verlust der Sehkraft als Makel sehen. „Sie schämen sich, weil sie | |
nicht mehr allein einkaufen können oder den Nachbarn nicht mehr erkennen.“ | |
Auch Angst und Depressionen kämen häufig vor. | |
Ein weiterer Faktor ist laut Aisenbrey der Grad der Erblindung. „Blind ist | |
nicht gleich blind“, sagt sie. Die Grenze liege laut Gesetz bei 1/35 der | |
normalen Sehkraft, was noch zur groben Orientierung reiche. Anders sei es, | |
wenn es ganz Nacht im Auge werde: „Das hat beispielsweise Auswirkungen auf | |
den Schlafrhythmus.“ | |
Auf erblich bedingte Erblindungen können sich die Betroffenen zumindest | |
einstellen. „Diese Menschen sind zwar anders vorbelastet, aber in der Regel | |
auch besser informiert“, sagt Gisela Hirschberger, die außerdem die | |
Erfahrung gemacht hat, dass die Bewältigung schwieriger ist, wenn noch | |
andere Erkrankungen vorliegen, etwa Rheuma oder Parkinson. | |
Auch der Faktor Zeit ist laut Sabine Aisenbrey bedeutend. Erblindet jemand | |
plötzlich, etwa durch einen Unfall? Oder verliert er langsam seine | |
Sehkraft, etwa durch die trockene Form der AMD oder ein Glaukom? Letzteres | |
lasse mehr Zeit, um mit der neuen Situation zurechtzukommen. „Ich wusste | |
zum Beispiel schon, welche Hilfsmittel es gibt, weil ich eine Vorgeschichte | |
hatte“, sagt Gisela Hirschberger. | |
Und wenn sie sich jemand schwer tut? „Oft ziehen sich die Menschen dann | |
zurück und isolieren sich selbst“, sagt Aisenbrey. Neben dem sozialen Netz | |
aus Freunden und Familie könnten dann nur Fachleute helfen. Allein schon, | |
weil das nähere Umfeld oft selbst überfordert sei. „Wir versuchen dann, die | |
Leute mit einem multidisziplinären Team aufzufangen“, sagt Aisenbrey. Dazu | |
arbeitet sie mit Ärzten, Sozialarbeitern, Psychologen und Psychotherapeuten | |
zusammen. Wenn es um Depressionen oder Angst gehe, überweise sie auch an | |
Fachkollegen. | |
Über die Situation zu sprechen sei ein wichtiger Schritt, um sie | |
anzunehmen. Nach Meinung von Aisenbrey leisten dabei auch Beratungsstellen, | |
etwa vom DBSV und Selbsthilfegruppen wie Pro Retina wichtige Unterstützung: | |
„Da tauschen sich die Menschen zum ersten Mal aus und merken, dass sie | |
nicht allein sind.“ Darüber hinaus helfen die Berater dabei, Unterstützung | |
zu beantragen. „Wir wollen helfen, den Alltag zu meistern und selbstständig | |
zu bleiben“, sagt Hirschberger. Sie vermittele Trainings, | |
Rehabilitationsfachkräfte und Hilfsmittel. | |
Nur fällt es vielen im Gegensatz zu ihr schwer, die Angebote anzunehmen. | |
Gerade Ältere empfänden ihre Lage oft als stigmatisierend, sagt Aisenbrey. | |
Und das ist ein großer Teil der Betroffenen, denn 70 Prozent der | |
Erblindungen in Deutschland gingen auf altersbedingte Erkrankungen zurück, | |
schrieb der BVA-Vorsitzende Bernd Betram 2012 im Deutschen Ärzteblatt. „Oft | |
wollen sie dann nicht mal den Langstock verwenden“, sagt Aisenbrey. Nur sei | |
das Ja zur Hilfe der einzige Weg, um selbstständig zu bleiben. | |
Das sieht Gisela Hirschberger ähnlich: „Es ist eine Frage des Wollens, aber | |
98 Prozent der Blinden wollen, Gott sei Dank.“ Und was will sie? Reisen, | |
natürlich. Im November will sie wieder nach Berlin, durch die neuesten | |
Museumsausstellungen streifen, vielleicht vorher noch nach Salzburg. „Und | |
wenn ich gesund bleibe, stelle ich mich 2018 noch einmal zur Wahl für den | |
Vereinsvorsitz.“ | |
14 May 2016 | |
## AUTOREN | |
Manuela Sies | |
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