# taz.de -- Feinsinnige Zivilisationskritik | |
> Sozialstudie Eine hochpolitische Schau junger Dokumentarfotografen in | |
> Braunschweig | |
Bild: Feste Rollen: Birte Kaufmanns „The Travellers“ | |
Der Begriff Dokumentarfotografie ist schwammig. Einerseits wirkt er | |
antiquiert, weil das Foto ja nicht erst in Zeiten digitaler Bildbearbeitung | |
den Nimbus des authentischen Abbildes eingebüßt hat. Andererseits wird das | |
Dokumentarfoto ja längst nicht mehr als erzählerische Bildstrecke in den | |
Druckmedien verwendet, sondern zunehmend als bloße Illustration. Der | |
Begriff „Dokumentarfoto“ verwischt also – und genau das eröffnet viel | |
Auslegungsspielraum. | |
Ausgelotet haben ihn zum Beispiel die vier derzeit im Braunschweiger Museum | |
für Photographie gezeigten Gewinner des Förderpreises Dokumentarfotografie. | |
Die Wüstenrot-Stiftung und die Fotografische Sammlung des Museums Folkwang | |
Essen haben ihn 1994 gestiftet. Alle zwei Jahre wird er seither parallel an | |
vier junge Fotografinnen vergeben und beinhaltet die finanzielle Förderung | |
eines freien Projektes. Die so entstandenen Arbeiten werden anschließend in | |
einer Wanderausstellung vorgestellt. | |
Der landläufigen Vorstellung des Dokumentarischen entspricht in | |
Braunschweig am ehesten die Arbeit von Arne Schmitt. Der 1984 geborenen | |
Wahl-Kölner ist im Norden kein Unbekannter, er hatte 2012/13 im Sprengel | |
Museum Hannover und 2014 im Bremer K’– Zentrum Aktuelle Kunst ausgestellt. | |
Schmitt betreibt entlang der oft als öde verleumdeten Architektur der | |
Nachkriegsmoderne seine feinsinnige Zivilisationskritik in perfekter | |
Schwarz-Weiß-Fotografie. In seiner Serie beschäftigt er sich mit den | |
Auswirkungen des Neoliberalismus auf das Kölner Stadtbild. Er zeigt | |
megalomane Star-Architekturen, das planerische Unvermögen in Gestalt der | |
immer noch klaffenden Wunde des 2009 eingestürzten Stadtarchivs. Aber er | |
zeigt auch das Aufbegehren zweier Immobilienbesitzer, die mit ihren | |
bescheidenen Häusern einem flächenfressenden Investorenprojekt trotzen. | |
Auch Birte Kaufmann, Jahrgang 1981 und in der sozial empathischen Tradition | |
der Berliner Fotografenagentur Ostkreuz ausgebildet, arbeitet mit direkt | |
lesbaren gesellschaftspolitischen Themen. Sie besuchte mehrfach Gruppen | |
irischer Traveller – außerhalb der Norm lebender Wanderarbeiter –, fand ihr | |
Vertrauen. Und konnte so deren schlichte Lebensbedingungen, teils in | |
Wohnwagen ohne Strom und Wasser, sowie deren traditionell strengen Rituale | |
und Rollenbilder abbilden. | |
Räumlich und sozial entgrenzter arbeitet Kalouna Toulakoun. Er wurde 1978 | |
in Laos geboren und verließ mit seiner Familie, wie etwa zehn Prozent der | |
Bevölkerung, das Land während des kommunistischen Regimes mit Ende des | |
Vietnamkrieges. Er machte sich auf, seine Verwandtschaft in Deutschland, | |
den USA, aber auch in Laos wieder zu besuchen, ihren Zugang zu Bildung, | |
Wohlstand oder Integration zu befragen. | |
Seine situativen Stillleben scheinen Familienbande auf, über | |
nationalstaatliche Grenzen und Identitäten hinweg. Mit fast kaum noch als | |
dokumentarisch empfundenen Assoziationsketten nähert sich Sara-Lena | |
Maierhofer der Person und dem medialem Konstrukt Silvio Berlusconi. Die | |
1982 im Schwarzwald Geborene verwendet Zeitungsmaterial und eigene | |
Fotografien, etwa vom Mailänder Krönungsmantel Napoleons, die Insignie | |
seiner Selbstermächtigung war, und macht daraus ein Pseudo-Archiv. | |
In bewusst unscharfen Fotos, die wie historische Schwarzweiß-Dokumente | |
wirken, rekonstruiert die Künstlerin Aufstieg (und Fall) des autokratischen | |
Politikers und Medienmoguls. Berlusconis aktuelle Position nennt sie | |
schwebend in einer Zwischenwelt – ähnlich ihrem Bildmaterial, das in fast | |
symbolhaft-piktorialistische Sphären entschwindet. | |
Bettina Maria Brosowsky | |
Dokumentarfotografie: bis 3. April im Museum für Photographie Braunschweig | |
22 Mar 2016 | |
## AUTOREN | |
Bettina Maria Brosowsky | |
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