# taz.de -- Open Space Das Pariser Kunstzentrum 104 vereint Street Art mit zeit… | |
Bild: HipHop und Gegenwartskunst gehen hier gut zusammen: Halle des Zentrums 10… | |
von Klara Fröhlich | |
Notstand, „Etat d’urgence“, steht in fetten schwarzen Lettern auf der | |
Mauerwand. Daneben sind weiße dreieckige Fetzen gemalt, die an zerschossene | |
Tauben erinnern. Ein paar Schritte weiter führt eine Brücke über ein | |
trostloses Areal aus Gleisen. Dahinter Platten. Hier beginnt das 19. | |
Arrondissement, ein Stadtteil im Norden von Paris, der trotz vieler | |
städtischer Investitionen immer noch ein sozialer Brennpunkt ist. | |
Man vermutet in dieser Gegend kein Museum und schon gar keins mit | |
zeitgenössischer Kunst. Doch ausgerechnet hier ist das 104 beheimatet, in | |
dem Absolventen der renommierten École des Beaux Arts und international | |
bekannte Künstler wie Anish Kapoor ausstellen und Kunstserien kryptische | |
Titel wie „Prosopopoée: Objekte die zum Leben erwachen“ tragen. | |
Doch da ist noch mehr. Das 104 versteht sich als open space und Treffpunkt | |
von Künstlern aller sozialen Milieus und professioneller Ebenen. | |
Eine Utopie? „Das ist die Realität“, meint Direktor José-Manuel Gonçalv�… | |
Der 53-jährige gebürtige Portugiese trägt einen schicken grauen Anzug, | |
darunter eine schwarze Weste und einen auffällig großen Silberring an der | |
rechten Hand. „Wenn Sie mich ansehen, denken Sie sofort, dass ich zur | |
gehobenen Mittelklasse gehöre. Es geht mir aber darum, diese Wahrnehmung | |
aufzubrechen.“ | |
Alles, was er im 104 umsetzt, stehe bereits in den großen Klassikern der | |
Soziologie geschrieben, erklärt Gonçalvès. So auch seine Devise: „Nichts | |
ist gleich, aber alles ist erlaubt.“ Im 104 kann gewissermaßen jeder seine | |
Kunst ausstellen, vom professionellen Bildhauer bis zum Breakdancer aus der | |
benachbarten Banlieue. | |
Zwar geschieht das größtenteils in getrennten Räumen, denn die | |
Ausstellungen mit professionellen Künstlern sind meist kostenpflichtig. | |
Doch der große Vorteil des Zentrums ist seine Geräumigkeit. In einer Stadt, | |
in der jeder Quadratmeter knapp ist, wird ein öffentlich nutzbarer Platz | |
wie dieser zum Geschenk. Die überdachten Innenhöfe, die Gänge zwischen den | |
Hallen, im Grunde jeder nicht mit Kunst besetzte Raum steht der | |
Öffentlichkeit zur Verfügung. | |
Hobby- und Amateurkünstler können für einen symbolischen Beitrag Ateliers | |
mieten und in sogenannten laboratoires des cultures urbaines proben. Dieses | |
Konzept ist einmalig in Paris. Selbst das Centre Pompidou, das ursprünglich | |
als offener Raum der Interaktion verschiedener Kunstformen erdacht wurde, | |
lässt niemanden aktiv performen. | |
Zunächst ein städtisches Bestattungsinstitut, wurde das 104 Anfang 2001 mit | |
etlichen Finanzspritzen der Stadt Paris ausgebaut und 2008 wiedereröffnet. | |
Die ersten zwei Jahre war es jedoch ein Flop. „Es war wie ausgestorben | |
hier“, erinnert sich ein leitender Angestellter der Security. „Da waren | |
nur wir und ein paar Jungs aus dem Viertel und haben Verstecken gespielt.“ | |
Dass das 104 heute kein leeres elitäres Museum mehr ist, liege zu großen | |
Teilen an der Öffnung des Raumes für die Bewohner des Viertels. Mit der | |
Zeit wurde das 104 zum sozialen Treffpunkt. | |
Brinzo, ein junger Breakdancer mit spitzer roter Nase und senfgelber | |
Wollmütze, trainiert seit drei Jahren regelmäßig hier. „Ich kann hier am | |
besten herausfinden, wo ich mit meiner Kunst stehe“, sagt er. Für den | |
20-jährigen Hobbytänzer sei der Austausch mit anderen Tänzern am | |
wichtigsten. Zur aktuellen Ausstellung sagt er nicht viel. „Ich hab’s mir | |
angeschaut, aber verstehen tu ich’s nicht.“ | |
Für Baubô, eine große durchtrainierte Frau mit offenen braunen Locken, ist | |
das ähnlich. Gemeinsam mit ihren 22-jährigen Sohn Kauzette kommt sie fast | |
jeden Tag zum HipHop-Tanzen. „HipHop ist hier trotzdem noch eine Subkultur. | |
Gegenüber dem, was hier ausgestellt wird, sind wir die ärmere Kunst. Wir | |
entsprechen eben nicht diesem Gedudel aus Brüderlichkeit, Harmonie und | |
Menschlichkeit“, meint sie. „Wir füllen diesen Ort mit Leben, die Leute | |
kommen auch wegen uns. Wir werden hier ständig beobachtet, aber so ist es | |
nun mal. Dafür ist es der einzige Ort in Paris, an dem man noch kostenlos | |
trainieren kann“, meint Kauzette. | |
Die Konfrontationen zwischen Menschen verschiedener sozialer Hintergründe – | |
auch wenn es zunächst nur auf Beobachten beruht – sei der Anfang einer | |
veränderten Wahrnehmung, meint Gonçalvès, der Direktor. Den Hinweis, dass | |
es trotzdem eine Trennung zwischen elitärer, also bezahlter Kunst, und | |
kostenloser gebe, winkt er ab. „Ich würde die Säle auch für die HipHopper | |
öffnen, aber leider will keiner für 20 Minuten Freestyle bezahlen. Wenn | |
sich jemand eine 45-Minuten Show ausdenkt und ein Konzept reinbringt, warum | |
nicht?“ | |
Auch wenn das Konzept der urbanen Kultur in der Praxis an Grenze stößt, ist | |
das 104 ein soziales und künstlerisches Experiment. Gerade in Frankreich, | |
wo sich über Jahrzehnte hinweg eine Kunstelite gefestigt hat, sind | |
Hierarchien schwer aufzubrechen zwischen dem, was als ausstellungswert | |
gilt, und dem, was nicht. | |
Das 104 sei ein guter Anfang, meint Alice Mulliez, selbst Absolventin der | |
Beaux Arts und Bildhauerin. Seit drei Jahren wird sie vom 104 als | |
„assoziierte Künstlerin“ unterstützt. Mit ihrem Lebenspartner Florent Kon… | |
nimmt sie an der aktuellen Ausstellung „Materialität des Unsichtbaren. | |
Archäologie der Sinne“ teil. Es ist eine Kollaboration mit dem | |
französischen Nationalinstitut für archäologische Forschung, dem Inrap. | |
Alice und Florent haben sich mit Archäologen getroffen und sich ihre | |
Arbeitsprozesse erklären lassen. Dabei sind ihnen überraschend viele | |
Parallelen zur eigenen Arbeit aufgefallen. „Archäologen denken sich | |
Geschichten zu Objekten aus, sie müssen sich vorstellen, wie Objekte | |
genutzt wurden. Das haben wir versucht umzusetzen.“ | |
Ihr Atelier ist vollgestellt mit backsteingroßen Zuckerklumpen, aus denen | |
sie ihre Skulpturen formen. Eines ihrer Werke ist eine in Zucker | |
kristallisierte Windel ihrer sechs Monate alten Tochter – eine unbenutzte, | |
beteuert die Künstlerin. Zur Vorbereitung der Ausstellung konnte die | |
Familie eine Wohnung und ein Atelier im 104 beziehen. „Es ist eine eigene | |
Atmosphäre, die wir so noch nirgendwo anders erlebt haben“, sagt sie. | |
Infos:www.104.fr | |
20 Feb 2016 | |
## AUTOREN | |
Klara Fröhlich | |
## ARTIKEL ZUM THEMA |