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> Die vier Leben der Inge Rapoport | |
Bild: Inge Rapoport, Dezember 2015 | |
von Gabriele Goettle | |
Prof. Dr. Dr. Ingeborg Rapoport, Kinderärztin. Sie wuchs in Hamburg auf, | |
besuchte ein Mädchen-Gymnasium, studierte Medizin u. legte 1937 ihr | |
Staatsexamen ab. 1937–1938 Assistenzärztin am Israelitischen Krankenhaus | |
Hamburg. Sie schrieb ihre Dissertation, wurde aber aus rassischen Gründen | |
nicht zur Prüfung zugelassen. 1938 Emigration i. d. USA, wo sie sich zum MD | |
qualifizierte u. auf d. Fachgebiet d. Pädiatrie spezialisierte. 1946 | |
heiratete sie in Cincinnati d. österreichischen Biochemiker u. Kinderarzt | |
Samuel Mitja Rapoport. Als Mitglieder der CP USA (Kommunistische Partei) | |
bekamen sie i. d. McCarthy-Ära massive Probleme. 1950 entzogen sie sich d. | |
politischen Verfolgung u. kehrten nach Europa zurück. Alle Bemühungen, eine | |
Anstellung in England, Österreich oder d. Sowjetunion zu finden, | |
scheiterten. | |
1952 konnten sie durch Vermittlung d. KPÖ mit ihren Kindern in die DDR | |
gehen, wo sie Arbeit u. eine neue Heimat fanden. Mitja Rapoport bekam eine | |
Professur a. d. Charité in Berlin u. wurde einer d. führenden Biochemiker | |
d. DDR u. verfasste sein Standardlehrbuch „Medizinische Biochemie“. | |
Inge Rapoport arbeitete zunächst als Oberärztin am Hufeland-Krankenhaus in | |
Berlin-Buch. 1953 Anerkennung z. Fachärztin f. Kinderheilkunde, danach | |
Arbeit i. d. experimentellen Forschung am Institut f. Biochemie d. | |
Humboldt-Universität, 1959 Habilitation. Bis z. ihrer Emeritierung im Jahr | |
1973 Arbeit a. d. Kinderklinik d. Charité. Ab 1960 als Dozentin, ab 1964 | |
als Professorin mit Lehrauftrag, ab 1968 als ordentliche Professorin für | |
Pädiatrie. Ab 1969 hatte sie den Lehrstuhl für Neonatologie inne. Inge | |
Rapoport, geb. Syllm, wurde im Sept. 1912 in Kamerun geboren, als Tochter | |
eines Hamburger Kaufmannes. Ihre Mutter kam aus einer wohlhabenden, | |
modernen jüdischen Familie und war Konzertpianistin. Inge Rapoport hat 4 | |
Kinder. Veröffentlichungen u. a.: „Research in Perinatal Medicine: An | |
interdisziplinary Approach with Special Emphasis on Epidemiology, Hypoxia | |
and Infections“. (Mither.), Bln. 1986; „Meine ersten drei Leben.“ Biogr., | |
Edition Ost, Bln. 1995. Im Mai 2015 verteidigte sie erfolgreich vor drei | |
Professoren d. Universität Hamburg ihre Doktorarbeit von 1938, 77 Jahre | |
nach d. Verbot durch d. Nazis, im Alter von 102 Jahren. | |
Inge Rapoport wohnt immer noch in Berlin-Niederschönhausen, in jenem | |
Siedlungshäuschen, das ihrer sechsköpfigen Familie 1952 zugewiesen wurde. | |
Sie empfängt uns mit ungezwungener Liebenswürdigkeit, trägt einen | |
sportlichen Jack-Wolfskin-Pullover und hat, trotz ihrer Blindheit, den | |
Tisch gedeckt und Tee zubereitet. Das Wohnzimmer scheint unverändert, der | |
Flügel, die Bilder, das Mobiliar sind an ihrem alten Platz. Vor 15 Jahren | |
waren wir schon einmal hier zu Gast. Damals machten wir ein Porträt von | |
Mitja Rapoport (erschienen i. d. taz v. 31. 7. 2000). Er starb 2004 im | |
Alter von 92 Jahren. Auch Inge Rapoport wurde 1912 geboren, im Jahr, als | |
die “Titanic“unterging. 26 Jahre hat sie in Deutschland verbracht, 12 Jahre | |
in den USA, 38 Jahre in der DDR und danach 26 Jahre im vereinigten | |
Deutschland. Sie ist durch schwere Zeitläufte gegangen, die für die meisten | |
heute nur noch Geschichte sind. | |
Wir bitten sie, uns ein bisschen von ihrem langen Leben zu erzählen: „Ich | |
fange mal mit den Eltern an, wenn es dir recht ist, ja? Meine Mutter war | |
neunzehn, als sie meinen Vater kennenlernte. Gerade war ihr Vater gestorben | |
am Gardasee. Er war ein bekannter jüdischer Dermatologe, behandelte Reich | |
und Arm. Von den Armen nahm er aber nie Geld. Mein Großvater war einer der | |
ersten, der ein Auto besaß in Aachen. Mit der furchterregenden | |
Geschwindigkeit von dreißig Stundenkilometer ‚raste‚er über die Dörfer. | |
Meine ebenfalls jüdische Großmutter, sehr begabt, aber ziemlich weltfremd, | |
fuhr nach seinem Tod, um den Schmerz etwas einzudämmen, mit den Töchtern in | |
ein Ostseebad. Dort trafen mein Vater und meine Mutter aufeinander. | |
Um seiner antisemitischen Familie die Ehe mit einer Jüdin plausibel zu | |
machen, sagte er, sie sei ein ‚Goldfisch‘, eine gute Partie. Vielleicht hat | |
er sie anfangs wirklich geliebt? Ich weiß es nicht. Bereits als er um ihre | |
Hand anhielt, erzählte er über seine wahre Position in Kamerun Lügen. | |
Später hat er hinter dem Rücken meiner Mutter ihr Vermögen durchgebracht, | |
sie nach der Geburt meines Bruders sieben Jahre lang heimlich mit einer | |
anderen Frau betrogen und sie schließlich sitzen lassen. Ohne Geld und mit | |
zwei Kindern von sieben und fünfzehn Jahren. | |
Mein Vater war deutschnational, meine Mutter, die ja aus einer aufgeklärten | |
jüdisch-liberalen Familie stammte, war sehr tolerant und fortschrittlich. | |
Er arbeitete als Kolonial-Kaufmann für eine Hamburger Firma in Kamerun und | |
war auf Europa-Urlaub. In Kamerun zu leben – damals deutsche Kolonie – war | |
für meine Mutter anfangs interessant, aber sie wurde bald schwanger und sie | |
mochte die Kolonialverhältnisse und das Klima eigentlich nicht. Kurz vor | |
dem Ersten Weltkrieg kehrten die Eltern zurück nach Deutschland und | |
entgingen so der Internierung. Mein Vater hielt auch später noch Verbindung | |
zur deutschen Kolonialzeit, er verkehrte im Hamburger Südwestafrika-Club, | |
wo geistige Beschränktheit vorherrschte und eine tiefe Verachtung gegenüber | |
den schwarzen Völkern. Auch schilderte er immer wieder gerne, wie einfältig | |
doch die Eingeborenen waren, wie man sie betrogen habe, wie | |
Häuptlingsfrauen die abgetragenen Korsetts von weißen Frauen gegen | |
wertvolle Goldarmbänder eintauschten. | |
Wir zogen dann nach Hamburg, was mich sehr beeindruckte, die Größe der | |
Stadt, die Nähe des Meeres. An eins aber erinnere ich mich besonders. | |
Anscheinend habe ich damals sehr viel gelogen.“ Sie lacht. „Meine Mutter | |
sagte jedenfalls: ‚Wenn man über eine Brücke geht und man hat gelogen, dann | |
bricht die unter einem zusammen.‘ Als meine Tante eines Tages mit mir über | |
die große steinerne Alsterbrücke, die Lombardsbrücke, gehen wollte, da | |
weigerte ich mich strikt. Ich ließ mich auch nicht rüberzerren. Ich war | |
etwa fünf. | |
Meine Kindheit war sehr unbeschwert. Einmal allerdings, es war noch in der | |
Weimarer Zeit, ich muss zwölf gewesen sein, da wurde mir auf der Straße von | |
einem anderen Kind die Nachricht zuteil, dass ich Halbjüdin wäre. Mich hat | |
das tief schockiert, ich empfand es als Makel. Ich hatte eigentlich gar | |
keinen Kontakt zum Judentum, war protestantisch. Bei uns zu Hause war das | |
kein Thema, außer als meine Mutter meinen Onkel eines Tages rausgeschmissen | |
hat, weil er antisemitische Bemerkungen machte. Er durfte auch nicht | |
wiederkommen. | |
Die Verächtlichmachung anderer, zum Beispiel der Polen, mit Sprüchlein wie | |
‚Policka, Polacka, was kost Hacka …‚war mir immer zuwider. Einmal bin ich | |
in einem Kinderschwarm hinter Zigeunern hergelaufen und habe ein Spottlied | |
mitgesungen, ‚Heinerle, Zigeunerle …‘. Die Zigeuner drehten sich nicht na… | |
uns um, aber plötzlich überfiel mich eine solche Scham, dass ich weglief. | |
Meine Mutter war immer auf Gerechtigkeit und Toleranz bedacht. Sie erzog | |
uns zum Mitgefühl, besonders den Armen und Schwachen gegenüber. Und sie war | |
sehr mutig. Protestantisch getauft, trat sie nach 1933, aus Protest gegen | |
den Antisemitismus der Nazis, zum Judentum über. Und sie war ein | |
ausgesprochen musischer Mensch. Sie sang, spielte wunderbar Klavier, war | |
Pianistin eigentlich von Anfang an. Ihr Vater hatte ihr einen Flügel | |
geschenkt, und sie durfte an der Hochschule für Musik in Köln studieren. | |
Aber es kamen dann die Jahre, in denen sie Ehefrau, Hausfrau und Mutter | |
war, nur noch zu ihrem Vergnügen Klavier spielte und nicht mehr ernsthaft | |
geübt hat. Aber eines Tages nahm sie Stunden bei Hans Hermanns in seinem | |
privaten Musikinstitut für fortgeschrittene Pianisten. Dort hat sie sich | |
jahrelang ernsthaft zum Solisten vorbereiten lassen. | |
Auch ich bekam über Jahre Klavierstunden von Fräulein Hryczovsky. Sie besaß | |
einen grünen Papagei. Als mein Vater uns verlassen hatte, konnte meine | |
Mutter ihren Unterricht bei Hermanns nicht mehr bezahlen. Er war sehr | |
angetan von ihr und gab ihr kostenlos Stunden. Sie sollte dafür seine | |
Meisterschüler unterrichten, was sie auch tat. Das ging so, bis die Nazis | |
kamen, dann konnte er sie nicht weiterbeschäftigen. Er überließ ihr aber | |
alle seine jüdischen Schüler. | |
Mein Vater bezahlte keine Alimente. Er hatte durch die Weltwirtschaftskrise | |
viel Kapital verloren und dann auch noch sein Autogeschäft | |
heruntergewirtschaftet Die Hauptverantwortung für die Versorgung der | |
Familie lag ganz bei meiner Mutter. Meine Großmutter lebte auch bei uns und | |
half, wo sie konnte. Später ist sie nach England ausgewandert und wurde 99 | |
Jahre alt. Wir haben untervermietet, meine Mutter gab zu Hause | |
Klavierunterricht und kümmerte sich um alles. Ab und zu unterstützten uns | |
reiche Verwandte, Besitzer einer großen Tuchfabrik im Rheinland. Die sind | |
dann emigriert in die USA. Sehr generöse Menschen, wir bekamen abgelegte | |
Kleidung und auch sehr guten Stoff. | |
So kam es, dass ich Kleider trug aus Herrenanzugstoffen. Aber nicht nur | |
dadurch unterschied ich mich von den anderen Mädchen. Ich besuchte das | |
Heilwig-Lyzeum, eine Privatschule für höhere Töchter. Der Geist dieser | |
Schule war protestantisch, großbürgerlich, großdeutsch, mit Blick auf die | |
internationale Welt der Handels- und Schifffahrtsverbindungen. Bildungs- | |
und Erziehungsziel war, ein kultiviertes, körperlich wie geistig gewandtes | |
deutsches Fräulein heranzubilden, eine zukünftige Ehegattin, die sich auf | |
jedem Parkett bewegen konnte. | |
Immer hatte ich das Gefühl des Nichtdazugehörens. Meine ‚halbjüdische‘ | |
Herkunft und auch der soziale Abstand machten sich diskret bemerkbar. Zwar | |
verband mich eine ganz innige Liebe und wunderbare Freundschaft zu Gisela | |
Opper, einer aufsässigen Mitschülerin, mit der ich unentwegt zusammensaß, | |
viele gemeinsame Ausflüge und auch Reisen machte. Wir waren sehr eng | |
befreundet bis zu meiner Auswanderung 1938. In der Schule aber blieb ich | |
immer Außenseiter. | |
Die Mitschülerinnen spielten in teuren Clubs Hockey, Tennis, liefen | |
Schlittschuh, ritten auf eigenen Pferden, besaßen Boote auf der Alster. Sie | |
waren untereinander befreundet oder verwandt, ihre Eltern saßen in | |
Aufsichtsräten und Reedereien und waren geschäftlich miteinander verbunden. | |
Während ich seit meinem dreizehnten Lebensjahr den Kindern begüterter | |
Familien Nachhilfestunden in Latein und den naturwissenschaftlichen Fächern | |
gab, gegen Geld, das ich für das Studium sparte. | |
Ich sollte eigentlich nach dem Abitur etwas lernen, etwas, womit ich die | |
Familie unterstützen kann, aber ich hatte den Wunsch, Ärztin zu werden. | |
Schon als Kind habe ich immer meinen Teddybären operieren wollen. Meine | |
Mutter hatte, im Gegensatz zu meinen Tanten – die auch im selben Haus | |
wohnten –, Verständnis für mich. 1932 habe ich dann mit dem Medizinstudium | |
angefangen, zusammen mit meiner Freundin Gisela Opper. Aber ab 1933 wurde | |
alles mit einem Schlag anders. Ich bekam eine gelbe Studentenkarte und | |
durfte nicht mehr in die Mensa gehen. Aus Freundschaft betrat auch Gisela | |
die Mensa nicht mehr. | |
Und es geschah Erschreckendes: Der Anatomieprofessor Poll, ‚Halbjude‘, aber | |
durch und durch deutsch und assimiliert, wurde plötzlich geschmäht. Während | |
die Studenten ihm zuvor mit ängstlicher Ehrfurcht begegnet waren, standen | |
sie nun auf, als er herein kam, hoben den Arm und brüllten den Hitlergruß. | |
Es war ein riesiger, voll besetzter Hörsaal. Als er mit seiner Vorlesung | |
beginnen wollte, scharrten sie mit den Füßen und machten einen solchen | |
Lärm, dass er abbrechen musste und unter Gejohle den Hörsaal verließ. | |
Er verließ die Universität und Deutschland als gebrochener Mann, wanderte | |
mit seiner Frau nach Schweden aus und hat sich schließlich dort gemeinsam | |
mit ihr das Leben genommen. Sehr rasch war fast der gesamte Lehrkörper | |
‚gleichgeschaltet‘. | |
1937 haben Gisela und ich, zusammen mit zwei befreundeten Kommilitonen, | |
unser Staatsexamen gemacht. Ich war die einzige in der Vierergruppe, die | |
einen Prüfungsbogen mit gelbem Streifen hatte und damit gekennzeichnet war. | |
Einige Prüfer empfanden mich als Belastung, aber es gab auch wenige mutige, | |
wie der Pädiater Professor Degkwitz. Er war zwar in der NSDAP, hatte eine | |
niedrige Parteinummer, bekam aber wegen seiner oft kritischen und nicht | |
linientreuen Haltung immer wieder Ärger.“ (In den vierziger Jahren hat er | |
sich gegen die Euthanasie im Hamburger Kinderkrankenhaus Rothenburgsort | |
gewandt. 1943 wurde er von Kollegen denunziert, wurde verhaftet, kam vor | |
den Volksgerichtshof und wurde von Freisler nicht zum Tode verurteilt, | |
sondern „nur“ zu sieben Jahren Zuchthaus, „weil er durch seine | |
Masernprophylaxe 40.000 deutschen Kindern das Leben gerettet hat.“ So die | |
Urteilsbegründung. Anm. G. G.) | |
„Er gab mir eine Eins in Pädiatrie. Ich bekam nach dem Studium eine Stelle | |
als Assistenzärztin im Israelitischen Krankenhaus in Hamburg und schrieb | |
meine Doktorarbeit. Professor Degkwitz war mein Doktorvater. Er hat die | |
Arbeit zwar anerkannt, aber zur mündlichen Verteidigung Anfang 1938 wurde | |
ich – trotz seiner Fürsprache – nicht mehr zugelassen. Er hat mir dann | |
schriftlich bestätigt, dass ich meine Doktorarbeit zwar eingereicht habe, | |
aber auf Grund der geltenden Promotionsordnung nicht mehr zur Prüfung | |
zugelassen werden kann. Ich galt ja nach den Rassengesetzen als ‚Mischling | |
ersten Grades‘, war damit ‚jüdischer Herkunft‘ und von der Promotion | |
ausgeschlossen. | |
Diesem Papier von ihm verdanke ich, dass mich im Mai 2015 der Dekan der | |
Medizinischen Fakultät in Hamburg zugelassen hat zur Verteidigung meiner | |
Doktorarbeit. Am 9. Juni bekam ich dann, 77 Jahre verspätet sozusagen, in | |
einer feierlichen Zeremonie im Universitätsklinikum Hamburg meine | |
Promotionsurkunde überreicht. Ich darf mich jetzt Professor Doktor Doktor | |
nennen.“ Sie schmunzelt amüsiert und wird dann wieder ernst: „Es ist mir | |
gar nicht so sehr um mich selbst gegangen, es ging mir ums Prinzip. Ich | |
habe die Urkunde auch zur Erinnerung an all diejenigen entgegengenommen, | |
die in einer weit schlimmeren Situation waren als ich. | |
1938 spätestens war es unausweichlich, dass wir auswandern müssen, dass ich | |
Deutschland verlassen muss. Die Verwandten aus dem Rheinland, die schon | |
früher ausgewandert waren, gaben meiner Mutter ein Affidavit für mich, und | |
damit bekam ich ein deutsches Visum für die USA. Später gaben sie auch | |
meiner Mutter eins. Ich war die Erste, die auswanderte. Meine Mutter hat | |
mich noch bis Aachen begleitet, dann fuhr ich allein weiter nach Belgien. | |
Die Passage von Rotterdam nach New York wurde von meiner Mutter und meinem | |
jüngerer Bruder organisiert. Ich besaß nur so einen mit Holzrippen | |
verstärkten Kabinenkoffer, voll mit Kleidung und Büchern. Meine Barschaft | |
betrug 38 Mark, mehr wurde mir von den Nazis nicht zugestanden. Der Dampfer | |
sollte zehn Tage unterwegs sein, es wurden aber zwölf Tage, weil wir | |
unterwegs in einen riesigen Hurrikan gerieten, alle Verbindungen brachen | |
ab. Ich hatte keine Angst, war nicht mal seekrank. Irgendwie geriet ich auf | |
die Brücke des Kapitäns und schaute dem gewaltigen Schauspiel voller | |
Bewunderung zu.“ (Als die zerlegte Freiheitsstatue 1885 nach New York | |
verschifft wurde, geriet der Dampfer auch in einen Hurrikan und wäre | |
beinahe untergegangen. Wer hätte dann die Immigranten begrüßt? Anm. G. G.) | |
Zwei Tage später, als die Skyline von New York auftauchte im rosigen | |
Morgenlicht, war es wie das Leuchten einer neuen Zukunft für mich. Aber der | |
zweite Blick auf die Stadt war niederschmetternd. New York, die Bronx, war | |
dunkel, schmutzig, verwahrlost. So habe ich es in Erinnerung. Anfangs | |
schlief ich bei Verwandten auf einem Sofa im Flur. Ich wollte so schnell | |
wie möglich Arbeit finden. Aber ohne einen akademischen Grad musste ich | |
mich lange mühsam durchschlagen, arbeitete in verschiedenen Krankenhäusern, | |
nur gegen Room & Board in unbezahlten Internships. | |
Deutschland schien weit weg. Aber ich erinnere mich noch genau an den | |
September 1939, es war ein schöner Tag, da hörte ich die Nachricht vom | |
Polenüberfall, von Hitlers Reichstagsrede und von seinem Satz: ‚Seit 5.45 | |
Uhr wird jetzt zurückgeschossen.‘ | |
Wir hatten das nie so ganz ernst genommen, wenn schon kurz nach 1933 von | |
manchen Leuten in Hamburg gesagt wurde: ‚Hitler bedeutet Krieg‘. Nun zeigte | |
es sich, dass das ein Fehler war. Ich machte mir zwar Sorgen, aber ich | |
hatte mit meinen eigenen Existenzsorgen in Amerika zu ringen. Mein Englisch | |
war anfangs nicht sehr gut, und ich musste mich an ein anderes Maßsystem | |
gewöhnen. Ich hatte kaum noch Hoffnung, arbeitete in einem YWCA-Feriencamp | |
für Kinder am Eriesee. Da kam plötzlich die Nachricht: Ich hatte ein | |
Stipendium gewonnen, vom reaktionären Zeitungskonzern Hearst. Tausend | |
Dollar, für ein Studium am Woman’s Medical College in Philadelphia, es | |
wurde sogar einmal verlängert. 1942 graduierten wir mit dem ersehnten MD | |
(Medical Doctor). Ich war Jahrgangsbeste, was wegen meiner Vorkenntnisse | |
aber nicht verwunderlich war. | |
Nun hatte ich endlich meinen Doktor, arbeitete längere Zeit am Johns | |
Hopkins Hospital in Baltimore, wo ich viel lernte. 1944, ich wollte | |
unbedingt Kinderärztin werden, bewarb ich mich am renommierten Children’s | |
Hospital and Research Foundation in Cincinnati (Ohio), einem Krankenhaus | |
mit Lehre und eigenem Forschungsinstitut. Ich wurde angenommen. Dort habe | |
ich gleich an meinem ersten Tag Mitja gesehen, er macht gerade Visite mit | |
den Professoren und er funkelte mich an. Es war wie ein Donnerschlag. Es | |
war um mich geschehen. | |
Eigentlich wurde er in den USA ‚Sam‘ gerufen, aber ich sage lieber Mitja. | |
Er war ein sehr anziehender und vor Intelligenz und Witz sprühender Mann. | |
Eigentlich immer in guter Stimmung, oft ein wenig spöttisch. Ich habe ihn | |
nur einmal totenblass und vollkommen fassungslos gesehen. Das war 1945 | |
während einer Parteiveranstaltung. Mitja trat ins Zimmer und berichtete mit | |
heiserer Stimme, dass er gerade im Radio vom Abwurf der Atombomben über | |
Japan gehört hatte. Es hat uns allen die Kehle zugeschnürt. Ich brauchte | |
allerdings Wochen, um das ganze Ausmaß zu begreifen. | |
Wir haben uns dann sehr engagiert gegen den Einsatz solcher | |
Massenvernichtungswaffen. Auch das schweißte uns zusammen. 1946, nach | |
einigen Hindernissen, haben wir endlich geheiratet. Erst kamen die | |
Kinderchen und dann … ja dann kam McCarthy. | |
Wir engagierten uns in der CP USA (Kommunistischen Partei), traten ein für | |
die Gleichberechtigung der schwarzen Bevölkerung, für die Verbesserung der | |
sozialen Lage der Arbeiter, wir verkauften den Daily Worker, und ich | |
sammelte tausend Unterschriften für den Stockholmer Appell zum Stopp der | |
Atombombenversuche. Obwohl Mitja von Präsident Truman nach dem Krieg das | |
Certificate of Merit für seine Forschung zur längeren Haltbarkeit von | |
Blutkonserven verliehen bekam, drohte ihm dennoch 1950 eine Vorladung wegen | |
‚unamerikanischer Umtriebe‘ vor dem berüchtigten | |
McCarthy-Untersuchungsausschuss. | |
Nach dem ‚Smith Act‘ durften Kommunisten nicht mehr außer Landes gehen. | |
Jede Sonntagsnummer des Cincinnati Enquirer brachte Artikel mit | |
Verleumdungen und Anschuldigungen gegen uns. So diffamiert zu werden hat | |
uns natürlich alarmiert. | |
Die Rettung war für uns ein Pädiatriekongress in der Schweiz, den wir | |
besuchten. Danach fuhr Mitja zu seinen Eltern nach Israel. Ich war | |
hochschwanger, flog nach Cincinnati, habe heimlich mit Hilfe meiner Mutter | |
– die in Amerika blieb – das Nötigste gepackt und bin mit unseren drei | |
kleinen Kindern zurück nach Zürich geflogen. So verloren wir unsere zweite | |
Heimat, mussten unser Haus, unsere Arbeit, unsere Freunde, den Hund und die | |
Katze, unser gesamtes bisheriges Leben für immer zurücklassen. Dennoch | |
empfinde ich immer noch große Dankbarkeit gegenüber den USA. | |
Von Zürich aus ging es nach Wien, Mitja versuchte Arbeit zu finden, aber | |
McCarthy verfolgte uns auch hier. Die CIC hatte gedroht, der Universität | |
die US-Subventionen zu streichen. Auch die Botschaft der UdSSR winkte ab, | |
man wollte keinen ‚Westemigranten‘. Auch in England und Frankreich fand | |
sich keine Stelle. Durch Vermittlung der KPÖ bekamen wir schließlich das | |
Angebot, in die DDR zu gehen. | |
Im Januar 1952 kamen wir in Berlin an, in eine vom Krieg gezeichnete Stadt. | |
Man quartierte uns im Seitenflügel des abgebrannten Hotel Adlon ein. Wir | |
hatten freie Kost und Logis, es war kalt, es zog, es gab kein heißes Wasser | |
zum Baden der Kinder und zum Waschen der Windeln. Aber bald konnten wir in | |
dieses Haus hier einziehen. Unsere Nachbarn hatten alle ein ähnliches | |
Schicksal, sie waren aus dem KZ oder aus der Emigration zurückgekehrt. | |
Freundschaften entwickelten sich, die Kinder lernten Spielgefährten kennen. | |
Wir hatten eine neue Heimat gefunden. Mitja baute sein Institut für | |
Physiologische und Biologische Chemie auf und wurde zu einem der | |
bedeutendsten Vertreter der Biochemie in der DDR. Seine ‚Medizinische | |
Biochemie‘ wurde zum Standardlehrbuch und in mehrere Sprachen übersetzt. | |
Auch für mich waren die Arbeitsjahre hier in der DDR meine schönste und | |
produktivste Zeit, voller Initiativen, herzlicher Kollegialität und einem | |
guten Verhältnis zwischen den Studenten und mir. Es gab nicht diese | |
Hierarchie, diese Kluft zwischen Ärzten und Schwestern, Ärzten und | |
Studenten, Arzt und Patient. 1959 habilitierte ich mich, 1968 wurde ich zur | |
Professorin berufen, machte Forschung und Lehre. Bis zu meiner Emeritierung | |
1973 arbeitete ich an der Kinderklinik der Charité, baute die | |
Neugeborenen-Heilkunde auf und hatte den einzigen Lehrstuhl für | |
Neonatologie in Europa inne. | |
Ich glaube, ich darf sagen, dass ich mit dazu beigetragen habe, die | |
Kindersterblichkeit messbar zu senken. 1984 bekam ich dafür den | |
Nationalpreis der DDR. Da war ich schon 72 und wir ahnten nicht, was fünf | |
Jahre später kommen wird, dass wir wieder eine Heimat verlieren werden, | |
dass wir ab 1989 sozusagen ‚im Westen‘ leben würden. Mit all den Folgen. | |
Also, ich muss sagen, die DDR war, was das Gesundheitswesen anbetrifft, | |
medizinisch bei Weitem das Fortschrittlichste und Beste, was ich gesehen | |
habe. Zwar ist das heutige Gesundheitswesen in Deutschland sicher besser | |
als in anderen kapitalistischen Ländern, aber es fehlt doch deutlich | |
spürbar an der Verflechtung zwischen Sozialem und Medizinischem. | |
Ich war und bin der Meinung, dass die Medizin ein Sektor der Gesellschaft | |
ist, in dem kein Profit gemacht werden darf. Das Arztsein, das Verhältnis | |
zwischen Arzt und Patient, verträgt sich nicht mit einem merkantilen | |
Rahmen. Überhaupt wünsche ich mir, dass die Welt gerecht verteilt wird, | |
dass ethische Prinzipien das Handeln bestimmen und ein Weg gefunden wird, | |
eine friedliche und für alle erfreuliche Gesellschaftsordnung zu schaffen. | |
Du fragst, was ich jetzt noch vorhabe?“ Lebhaft beantwortet sie meine | |
Frage: „Ich möchte noch ein bisschen protestieren gegen die | |
Kriegshetzerei.“ | |
28 Dec 2015 | |
## AUTOREN | |
Gabriele Goettle | |
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