# taz.de -- Der Opa, der nicht mehr zu sehen war | |
> porträt Ethnografie, Biografie, Oral History: Die Künstlerin Sonya | |
> Schönberger sammelt Geschichtenund findet für das Verhältnis zwischen | |
> Gegenwart und Vergangenheit immer wieder neue Formen | |
Bild: „Fuge“ von Sonya Schönberger: Im August 2014 füllte sie Einschussl�… | |
von Michael Freerix | |
Die Wilhelm-Kabus-Straße wurde 2010 eröffnet. Sie durchzieht ein | |
historisches Gewerbegebiet in Schöneberg, um es besser zugänglich zu | |
machen. Verwitterte Altbauten aus Backstein säumen die neue Asphaltstraße. | |
In einem von diesen Altbauten, der zu einem Atelierhaus umfunktioniert | |
wurde, hat die Künstlerin Sonya Schönberger vor einem Jahr ihr Atelier | |
bezogen. | |
„Das ganze Gelände hier wurde vom Investoren Nicolas Berggruen gekauft“, | |
erzählt sie gleich zu Beginn. Bislang zahlt die Künstlerin mithilfe des | |
Bundes Berliner Künstler eine moderate Miete, „doch was der mit dem ganzen | |
Areal vorhat, weiß keiner“, meint sie skeptisch. Doch Wilhelm Kabus? Wer | |
war das eigentlich? Im übertragenen Sinne ist das eine von vielen Fragen, | |
denen Schönberger in ihrer Kunst nachgeht. | |
Ihr Atelier hat etwas Spartanisches. Die Wände sind hell gestrichen. Viel | |
Licht kommt durch die breite Fensterfront. Nur wenig Arbeitsmaterial findet | |
sich auf einem großen Arbeitstisch in der Mitte des großen und hohen | |
Raumes. Auf vereinzelten Regalen sind rostige Metallstücke oder | |
Keramikscherben gelagert. Es sind Fundstücke, die Sonya Schönberger auf | |
Brachen, in Parks oder an Gewässern aufliest. Sie gräbt dazu nicht einmal | |
in der Erde, sondern die einst verscharrten Sachen drängen geradezu an die | |
Oberfläche. Sie „liebt solche Zufallsfunde“, weil sie erzählen, wie | |
„Vergangenes immer Teil der Gegenwart“ ist, obwohl es im Verborgenen | |
existiert. | |
## Lebenslinien suchen | |
Sonya Schönberger ist Jahrgang 1975. Ihre Entwicklung zur Kunst hin begann | |
über einen Umweg. Nach dem Abitur studierte sie zunächst Ethnologie. Doch | |
sie merkte, ihr reichte das nicht. Sie wechselte in die freie Kunst und | |
ging nach Amsterdam. Schließlich kam sie nach Berlin, um Meisterschülerin | |
bei dem Filmemacher Thomas Arslan zu werden, Professor an der Universität | |
der Künste. | |
Bereits mit ihrem Diplomfilm „Auf der Suche“ macht sie transparent, wie sie | |
ihr Thema, die Permanenz der Vergangenheit, anpackt. Vor den Dreharbeiten | |
hatte sie lange Interviews mit ehemaligen Mitschülerinnen aus ihrem | |
Heimatdorf geführt. Teile der Texte inszenierte sie mit Schauspielerinnen | |
vor der Kamera, um die dokumentarischen Materialien neu zu | |
kontextualisieren. Dafür nutzte sie die Medien Fotografie, Performance, | |
Theater, Film. „Nur Malerei und Zeichnung eigentlich nicht“, merkt sie an. | |
Bereits während des ethnografischen Studiums fand sie es interessant, | |
Lebenslinien als Material für die künstlerische Auseinandersetzung mit | |
Gesellschaft zu nutzen. Doch es gibt auch einen biografischen Anstoß im | |
Leben von Sonya Schönberger, der sie zu ihrem künstlerischen Thema anregte. | |
Es waren Fotografien ihres Großvaters aus dem Zweiten Weltkrieg, die sie | |
zutiefst faszinierten. Sie hatte als Kind mit ihm viel Zeit verbracht, doch | |
war er früh gestorben und niemand konnte sagen, wer diese Aufnahmen gemacht | |
hatte und wer, neben ihrem Opa, darauf zu sehen war. | |
Das biografische Rätsel dieser Bilder machte sie zum Thema einer | |
Ausstellung, 2012 in New York, später in Berlin. Doch anstatt die Fotos | |
einfach nur zu zeigen, bat sie verschiedene Bekannte um Beschreibungen der | |
Aufnahmen. Diese Texte wurden neben die Rückseite der Fotografien gehängt, | |
zusammen mit anderen Fundstücken aus dem Nachlass ihres Großvaters. Auf | |
diese Weise entstand für den Besucher ein befremdliches und doch | |
persönliches Stück deutscher Geschichte. | |
Ihren komplexen Arbeitsansatz perfektioniert sie in ihrem Audio Walk | |
„Rosemarie“. „Rosemarie“ besteht aus biografischen Interviews, die | |
Schönberger mit ihr fremden Personen geführt hat und zu Monologen | |
zusammenmontierte. In elf ausgewählten Lebensgeschichten geht es um den | |
Zweiten Weltkrieg und die Zeit danach. Jeder Interviewte wurde bei | |
Aufführungen (im September 2014 und 2015) von jeweils einem Schauspieler | |
gesprochen, der dabei zusammen mit einem Zuhörer die Trümmerberglandschaft | |
des Volksparks Prenzlauer Berg durchstreifte. So stellte „Rosemarie“ einen | |
intimen Bezug zwischen einem vergangenen Leben mit der Gegenwart des | |
Zuhörers her, in einer Landschaft, die aus Überbleibseln der Vergangenheit | |
geformt wurde. | |
## Vexierspiel | |
Ihr Vexierspiel mit biografischen Klustern erweiterte Schönberger noch in | |
ihrer Beschäftigung mit Interviews von André Müller. André Müller, der mit | |
65 Jahren starb, war ein österreichischer Journalist, der in den siebziger | |
und achtziger Jahren im Auftrag unterschiedlichster Printmedien namhafte | |
Zeitgenossen interviewte. Sammlungen dieser Gespräche sind als Bücher | |
erschienen. Müller, der seine Interviews als „Entblößungen“ verstand, ha… | |
1979 lange mit dem Bildhauer Arno Breker geredet. Breker hatte in den | |
zwanziger Jahren zwar in Paris gelebt und sich der Moderne zugeordnet, war | |
1934 allerdings ins Deutsche Reich gezogen und hatte sich von Adolf Hitler | |
protegieren lassen. Die NS-Propaganda kürte ihn 1938 zum „bedeutendsten | |
deutschen Bildhauer der Gegenwart“. | |
Schönberger arbeitete mit dem ungekürzten Interviewtext und hatte die | |
Gelegenheit, diesen im Mai 2015 in Brekers ehemaligem Atelier in | |
Berlin-Grunewald zu inszenieren. Die beiden Positionen Breker/Müller | |
besetzte sie mit Frauen, so dass eine große Distanz zum ursprünglichen Text | |
entstand. Der sprachliche Ringkampf zwischen den beiden Protagonisten wird | |
bei ihr zu einer Form der Selbstfiktionalisierung, weg von dem Paar | |
Breker/Müller, hin zur Frage, was wir aus der Vergangenheit bewusst in | |
unsere Gegenwart mit hineinnehmen. Und was für eine Gegenwart wir daraus | |
konstruieren. | |
Dieses Wühlen in individuellen Lebensgeschichten und die Befragung derer, | |
die normalerweise nicht gefragt werden, ist für Schönberger der Versuch zu | |
verstehen, „wer die eigene Generation ist, warum wir sind, wie wir sind, | |
und in was für einem Land wir leben“. Was wie eine moderne Form von | |
Dokumentartheater anmutet, ist der Versuch, zu den Wurzeln unserer | |
Wirklichkeit vorzudringen. „Mein Ziel ist es“, so meint die Künstlerin | |
abschließend, „aus allen Gesprächen, die ich führe, eine Art oraler | |
Bibliothek zusammenzufügen, ein Gedächtnis des Alltags.“ | |
In diese wäre auch Wilhelm Kabus einzufügen. Der war, in den 70er Jahren, | |
Ingenieur und Bezirksbürgermeister von Schöneberg. Und wurde so zum | |
Namensgeber einer Straße in diesem Bezirk. Uns aber bewusst zu machen, was | |
die vielen Namenlosen der Vergangenheit für unsere Gegenwart bedeuten, | |
damit befasst sich Sonya Schönberger. | |
6 Jan 2016 | |
## AUTOREN | |
Michael Freerix | |
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