# taz.de -- Ein Leistungskurs mit Brecht | |
> Bildung Eine neuer Handlungsplan der Senatsverwaltung soll über den | |
> Umgang mit SchulschwänzerInnen aufklären. Die Produktionsschule Mitte | |
> begegnet dem Problem mit einem Theaterprojekt und Bertolt Brecht | |
von Mareike-Vic Schreiber | |
Das Licht geht an. Stanimir tritt selbstbewusst hinter dem durchsichtigen | |
Vorhang der kleinen Bühne hervor und spricht mit kräftiger Stimme zum | |
Publikum. Der Text sitzt. Theater ist seine Leidenschaft, das merkt man. | |
Sein Auftritt wirkt professioneller als der seiner acht MitspielerInnen. | |
Der 22-Jährige ist das Zugpferd der Schauspielgruppe aus der | |
Produktionsschule Mitte – ein Projekt, das Jugendliche unterstützt, die | |
nicht gern zur Schule gehen. Gemeinsam mit Dokumentarfilmer Thomas Heise | |
haben die „schuldistanzierten“ Jugendlichen die Brechtlyrik der 20er Jahre | |
erarbeitet und mit dem Stück „Städtebewohner“ ein eigenes Theaterprojekt | |
auf die Beine gestellt. Heute am Donnerstag ist das Stück nochmals im | |
Theater Glaskasten in Wedding zu sehen. | |
„Wir konfrontieren die Jugendlichen mit einer Hochkultur, die sie nicht | |
erwarten – und wollen sie damit auch ein wenig provozieren“, sagt | |
Projektleiter Andreas Geffert. Als Zuschauer stellt man sich die Frage: | |
Verstehen die das überhaupt? Nach seiner rund achtwöchigen Zusammenarbeit | |
mit den Neunt- und Zehntklässlern weiß Geffert: „Ja, wenn man die Texte in | |
ihre Sphäre transportiert.“ Brecht sei ein völlig neuer Kosmos für die | |
SchülerInnen – eine Art Gegenerfahrung. „Die Worte müssen emotional | |
aufgeladen werden, damit die Jugendlichen sie verstehen“, sagt Geffert. | |
Während der Proben habe er gelernt, sich den SchülerInnen neu zu öffnen und | |
zu akzeptieren, dass nicht alles reibungslos abläuft. „Das kostet Nerven“, | |
findet auch Mitregisseur Heise. Dass die Jugendlichen trotz „sozialer | |
Defizite“ so konzentriert mitgearbeitet haben, ist für die beiden ein | |
Erfolg. „Das widerlegt auch die These, dass schuldistanzierte Jugendliche | |
keinen Leistungswillen haben“, sagt Geffert. | |
Mit der Theaterproduktion will er ihnen ein Forum schaffen, in dem sie ihre | |
Fähigkeiten zeigen können. Obwohl sie kaum Aussichten auf einen | |
Schulabschluss haben, will Geffert um die Chancen der jungen Erwachsenen | |
kämpfen. „Ich werde keinen von ihnen aufgeben“, sagt der Projektleiter | |
entschlossen. | |
Laut Thorsten Metter, Sprecher der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und | |
Wissenschaft, spielt kulturelle Bildung häufig eine Rolle, wenn es darum | |
geht, Jugendliche zu motivieren oder zu integrieren. Erst im vergangenen | |
Monat hat die Senatsverwaltung einen neuen Handlungsplan zum Thema | |
Schulschwänzen veröffentlicht. Darin sollen LehrerInnen und | |
SozialarbeiterInnen über Formen, Ursachen und Handlungsmöglichkeiten | |
aufgeklärt werden. Die Broschüre soll Fachkräfte auch dafür | |
sensibilisieren, das Problem ernst zu nehmen und frühzeitig zu handeln. | |
„Schuldistanz ist ein Prozess, der oft unbemerkt beginnt. Wenn das Kind im | |
Unterricht öfter träumt, kann dies ein erstes Zeichen sein“, erklärt | |
Bildungssenatorin Sandra Scheeres. | |
Die Handreiche der Senatsverwaltung ist nicht neu. Bereits 2003 hat die | |
damalige Landeskommission Berlin gegen Gewalt eine Broschüre zur | |
Schuldistanz veröffentlicht. Seitdem sei in Berlin viel passiert. „Wir | |
haben die Hauptschule abgeschafft, Gemeinschaftsschulen ausgebaut, die | |
Berufsorientierung an den Schulen gestärkt und die Jugendsozialarbeit fest | |
verankert“, sagt Metter. Die neue Broschüre gehe auf diese | |
Rahmenbedingungen ein. Sie richte sich gezielt an PädagogInnen und soll | |
künftig in jedem Berliner Lehrerzimmer hängen. | |
Dennoch: Auf dem Weg, SchulschwänzerInnen wieder zurückzugewinnen, ist der | |
Handlungsplan nur ein Baustein. „Er kann nur wirksam sein, wenn er im | |
Lehrerkollegium ausführlich diskutiert wird und es ein konkretes Verfahren | |
gibt, das klarstellt, wer wann was verbindlich macht“, sagt Karl Antony, | |
Leiter der werkpädagogischen Angebote des Pestalozzi-Fröbel-Hauses. | |
Laut Antony brauchen SchülerInnen Partizipationsmöglichkeiten, die den | |
Schulbesuch wieder attraktiv machen. „Die wacklige Finanzierung solcher | |
Angebote zeigt jedoch, dass Jugendliche nicht ernst genommen werden“, sagt | |
Antony. | |
Ob die Jugendlichen der Produktionsschule Mitte nach ihrem Bühnenerfolg nun | |
öfter zur Schule gehen, wird sich zeigen. „Temporäre Projekte machen da | |
wenig Sinn“, sagt Antony. Um SchwänzerInnen wieder langfristig für die | |
Schule zu begeistern, müsse man entsprechende Angebote dauerhaft in den | |
Schulalltag integrieren. | |
„Städtebewohner“: Glaskasten, Prinzenallee 33, Donnerstag, 11 Uhr | |
10 Dec 2015 | |
## AUTOREN | |
Mareike-Vic Schreiber | |
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