# taz.de -- Herbst Unsere Autorin hat Kinder, die so hoch sind wie ein Laubhauf… | |
Bild: Ein mittelalter Baum, etwa ein Spitzahorn von 120 Jahren, trägt mehrere … | |
von Carolin Pirich | |
Vor ein paar Tagen, am Morgen, motzt ein Mann auf der Straße vor sich hin. | |
Was genau er sagt, ist nicht zu verstehen, aber er muss sich geärgert | |
haben, denn er tritt mit seinem Schuh einen Haufen honiggelber Blätter. Der | |
Schwung seines Kicks zerfällt in Zeitlupe, als er auf den Laubhaufen | |
trifft. Für einen Moment fliegen die Blätter in die Luft, dann schaukeln | |
sie zurück auf den Asphalt. Der Mann biegt um die Ecke. Das Laub kommt zum | |
Ruhen. | |
Der Junge mit dem Laufrad schnappt sich eins und stopft es in seine | |
Jackentasche. Es ist trocken. Bricht, bröselt. Er angelt nach dem nächsten. | |
Dann rückt die Truppe an. Fünf Männer sind es, orangefarbener als das | |
leuchtendste Ahornblatt, so orange, dass man kurz die Augen zusammenkneift. | |
Zwei der fünf wirbeln mit Laubblasrüsseln im Arm von jeder Seite die | |
ruhenden Blätter auf. Sie treiben sie unter den Autos hervor, blasen sie in | |
die Straßenmitte. Die drei anderen streichen sie mit ihren Besen zusammen. | |
Eins, zwei, eins, zwei, drei. Routine im Laubbläsertanz, seit zwei Wochen | |
zwei Schichten am Tag, nicht vor 7 Uhr, nicht nach 20 Uhr. Manchmal schreit | |
ein Anwohner, „laut!“, „Gefahr fürs Gehör!“ oder so, dabei benutzen d… | |
Jungs hier schon die batteriebetriebenen Maschinen, nicht die Benziner. Am | |
meisten Arbeit macht die Platane, sagen sie, weil ihre großen Blätter gern | |
auf der Straße kleben bleiben. | |
## Am längsten warten Eichen | |
Auf der Fahrbahnmitte wächst der Laubkamm. Der Bus fährt drüber. Blätter | |
stieben in Unordnung. Der Junge am Straßenrand findet einen Stock und | |
spießt eines auf. Noch eines, diesmal ein rotes. | |
„Ein rotes, Mama!“ | |
Er hat ein Buch, in dem eine Maus im Herbst nicht Nüsse sammelt oder | |
Körner, Vorräte für den langen Winter wie alle anderen Mäuse. Diese eine | |
Maus sammelt Farben. | |
„Schau, ein r-o-t-e-s!“ | |
In jedem Sommer gibt es diesen Augenblick, an dem über Nacht mit dem Licht | |
der Geruch in den Straßen ein anderer wird. Noch bevor sich die Bäume | |
verfärben, riecht es nussig und klamm, und man ahnt, dass es nicht mehr | |
lange dauern wird, bis das erste Blatt sich löst. Der erste Baum, der | |
loslässt, ist die Schwarzerle, schon im Sommer, wenn ihre Blätter noch grün | |
sind. Sie ist so lichtbedürftig, dass sie den Schatten ihrer eigenen | |
Blätter nicht erträgt. Dann folgen die anderen Laubbäume, Kirschen, Birken | |
und Kastanien. Sie bilden im Frühling an den Blattstielen Trennungszonen, | |
sagt Andreas Roloff, an denen sie brechen, wenn die Zeit reif ist. Roloff | |
ist Forstwissenschaftler an der TU Dresden; ich habe ihn angerufen, weil | |
ich mal eine Antwort wissen will auf die vielen Fragen, die der Junge | |
stellt. | |
Wenn es im Sommer wenig geregnet hat, fallen die Blätter früher; Roloff | |
nennt das Trockenstress. Am längsten warten junge Hainbuchen und Eichen, | |
sagt er, bis sie sich wandeln. Der Ahorn ist dabei der schönste. Er flammt | |
erst golden auf, wird dann rot und schließlich braun, bis er ganz kahl | |
steht. Ganz leer. „Ist dem Baum dann kalt, Mama?“ | |
Ein mittelalter Baum, eine Platane von 300 Jahren oder ein Spitzahorn von | |
120 Jahren, trägt mehrere Millionen Blätter, ganz genau kann es auch Herr | |
Roloff nicht sagen. Aber man kann in diesen Tagen in jeder Berliner | |
Tageszeitung lesen, dass hier 440.000 Straßenbäume stehen. Und dass am | |
Ende, wenn das letzte Blatt gefallen ist, bis etwa Weihnachten, 105.000 | |
Kubikmeter Blätter vor den Straßen gefegt sein werden. Das sind 2.100 | |
Güterwaggons voller Ahorn-, Kastanien, Platanen- und Birkenblätter. Aber | |
das Olympiastadion würden sie nicht füllen. Dort passen 1,02 Millionen | |
Kubikmeter rein. | |
Sind es in diesem Jahr sogar mehr Blätter geworden? | |
Vielleicht hat sich auch der Blickwinkel verändert. Auf das Wesentliche. | |
Auf Hüfthöhe. Auf den Blickwinkel zweier kleiner Kinder, die in diesem | |
Herbst die Höhe eines großen Laubhaufens erreicht haben. Der Junge hat im | |
Oktober sein erstes Blatt zwischen den Brockhaus-Bänden glatt gepresst (man | |
kann die schweren Lexika doch gebrauchen) und auf ein Papier geklebt. Das | |
Mädchen saß im Sandkasten unter einem Blätterregen und quietschte vergnügt, | |
als es eines in die Händchen bekam. Es hat es bis zum Abendbrot nicht mehr | |
losgelassen. | |
Die Bäume erscheinen in neuem Licht. Mächtige Platanen, Kastanien, | |
Trauerweiden, und dieser im Sommer eher unscheinbare Baum, der im Oktober | |
purpur wurde. | |
„Warum ist der Baum lila, Mama?“ | |
Der Junge nimmt seinen Stock und stochert im Blätterberg auf der Straße. | |
Seine Schwester hat ihr Schühchen bei einem der letzten Spaziergänge | |
abgestreift. Der Schuh fiel aus dem Buggy, und als wir es bemerkten, war er | |
verschollen. Der Junge kann nicht leiden, wenn etwas nicht so ist wie | |
vorher. Also fängt er immer wieder an zu suchen. Aber der Schuh hatte eine | |
Farbe wie die Rückseite einer dieser Blattsorten, Hellgrau. | |
Die Männer in Orange flankieren mit ihren Besen einen Schneepflug, der die | |
Blätter ineinanderschiebt. Der Haufen vor ihnen wächst. Hinter ihnen wächst | |
Leere. | |
Vielleicht aber stimmt das auch, vielleicht gibt es mehr Blätter in diesem | |
Jahr. Wenn es im Sommer viel geregnet hat, sagt der Forstwissenschaftler, | |
entfalten die Bäume mehr Blätter. Sie sind dann auch größer. | |
Je mehr Blätter, desto größer ist die Gefahr für Leib und Leben. Manche | |
rutschen aus, manche drohen, taub zu werden vom Lärm der Laubbläser. | |
Mietervereine machen darauf aufmerksam, dass Laub genauso gefährlich sei | |
wie Glatteis. Vielleicht sollte man die Kinder zeitweise nicht mehr in die | |
Schulen schicken. Vielleicht brauchen deshalb immer mehr Leute einen SUV? | |
Nach mehr als fünfhundert Metern Straße und weniger als einer halben Stunde | |
streifen zwei der jungen Männer in Orange den Laubblasrucksack ab. Sie | |
fassen einander an den Schultern. Einer kichert. Sie hüpfen zu einer Musik, | |
die nur sie beide hören. Kurz, bis sie sich umschauen. Aber warum sollten | |
sie nicht fröhlich sein, sie haben ihr Ziel vor Augen. Die Truppe der fünf | |
verstaut ihr Gerät im Wagen. Laub Parade steht darauf. The Laub is back. | |
The BSR auch, die Berliner Stadtreinigung. Die Straße ist wieder grau. | |
## Aus Laub wird Blumenerde | |
Später wird ein Ladekranfahrzeug kommen und den Haufen wegnehmen und zum | |
Beispiel ins brandenburgische Trappenfelde fahren. Dort liegt das Laub | |
drei, vier Monate, rottet, wie ein Käse reift. Wird mit anderen | |
Grünabfällen vermischt. Rottet weiter. Bis beinahe ein Jahr vorüber ist. | |
Am Ende wird der Berliner Laubhaufen von unserer Straßenecke Blumenerde | |
sein. | |
Noch ist er da. Der Junge mit dem Laufrad nimmt Maß und saust darauf zu. | |
Bevor der Schneepflug die Blätter zusammengeschoben hatte, waren sie | |
goldgelb. Jetzt ist der Haufen braun. Eine braune, ordentliche, | |
geometrische Form. Der Junge kann ihr nichts anhaben. | |
„Wollen Sie was mitnehmen?“, fragt der Chef des Laubkehrertrupps. Er steigt | |
ein, lässt den Wagen an. „Gerne, so viel Sie wollen!“ Er tritt aufs Gas und | |
ist weg. | |
21 Nov 2015 | |
## AUTOREN | |
Carolin Pirich | |
## ARTIKEL ZUM THEMA |